von Daisy Hildyard

 

Kürzlich traf ich eine Biologin, die sich mir als zehn Prozent menschlich vorstellte. „Die meisten der Zellen in mir sind Mikroben: Bakterien, Pilze, Archaeen.“ Beim Sprechen berührte sie leicht ihren Bauch. „Es gibt Billionen von uns hier drinnen.“

 

Ich war im Labor, um die Biologin über ihre Arbeit zu befragen, aber die Arbeit zieht immer auch in das Leben ein. Die Wissenschaft, erzählte sie mir, ist sich derzeit nicht einig über die genaue prozentuale Verteilung der Spezies in dem, was wir den menschlichen Körper nennen, aber es ist anzunehmen, dass mindestens die Hälfte deiner Zellen biologisch gesehen nicht menschlich ist. Dein Körper ist mit diesen anderen Wesen intim, ob es dir gefällt oder nicht: Dein Leben hängt von ihnen ab.

 

In einem exakt wörtlichen Sinne ist kein Mensch jemals ein einzelnes Selbst gewesen: ‚Ich‘ hat sich immer auf mehr als ein lebendes Wesen bezogen. Vielleicht haben die Mikroben, die tief mit unseren Vorfahren verwurzelt sind und unser Blut durchströmen, etwas damit zu tun, dass immer mehr Menschen sich für die Pronomen them/they (3. Person Plural im Englischen*) entscheiden. Es deckt sich mit einem Gefühl, das viele von uns erlebt haben: das Gefühl, mehr als eine Persönlichkeit zu haben. Du könntest Tänzerin, Kunde, Pfleger, Arbeitgeberin, Passagier, Läuferin, Liebhaber sein; weiblich, männlich, albern, sexy, ernst – im Verlauf eines Tages.

 

Besorgt um die globale Umwelt, denke ich möglicherweise anders über diese inneren Beziehungen zwischen meinen verschiedenen Ichs und sogar meinen verschiedenen Spezies – ich als wir und du als sie.

 

Als ich im Laboratorium stand und der Biologin zuhörte, brachten uns die Kleidung, die wir trugen, die Architektur, die uns umgab, und die Lebensmittelverpackungen auf der Theke in ein intimes körperliches Verhältnis mit Wesen aus der ganzen Welt. Die Philosophin Stacy Alaimo nennt dies „Transleiblichkeit“ (trans-corporeality): die Tatsache, dass alle verkörperten Wesen „mit der dynamischen, materiellen Welt verwoben sind, die sie durchdringt, sie verwandelt und von ihnen verwandelt wird.“ Diese vernetzte Welt schließt Menschen mit ein, reicht aber über uns hinaus, in das eigenartige Leben anderer Wesen hinein: Mikroben, Tiere, Mineralien, Technologien. Der Körper ist ständig physisch in Kontakt mit seiner Umgebung und mit anderen Körpern, in Begegnungen, die oft Technologien miteinbeziehen; und die Umgebung, mit der das menschliche Wesen in Berührung steht, knüpft fortlaufend neue Kontakte. Ukrainischer Weizen von meinem Frühstücks-Toast zersetzte sich in meinem Magen; Orangenöl von einem Baum in Tunesien war noch aus meinem Duschgel auf der Haut geblieben; kongolesisches Kobalt befand sich in meinem Smartphone und war warm, als ich dort stand, von meiner Körperwärme. Diese Kontakte sind nicht immer symbiotisch oder freundlich. Technologie – Empfängnisverhütung, Schiffscontainer, Webcam – trennt oft, was sie verbindet.

 

Auf planetarischer Ebene, erklärte die Biologin, verbrauchen und verstoffwechseln Pflanzen und Mikroben Gase zu genau den Bedingungen, die die menschliche Lunge zum Atmen braucht. Astronauten, die auf dem Mond gelandet sind, berichten davon, auf die Erde hinabzuschauen und zum ersten Mal zu sehen, wie klein und zerbrechlich die Erdatmosphäre ist – eine dünne Haut, umgeben von großer Leere.

 

Selten sind wir in der Lage, Abstand von unseren intimen Beziehungen einzunehmen und sie zu betrachten, kühl, aus einem abgelegenen Winkel.

 

Marcel Proust schrieb über eine ähnliche Erfahrung, als ihn eine Krankheit dazu zwang, lange Tage im Bett zu verbringen. Er lebte hinter zugezogenen Vorhängen, dachte an Noah während der Flut und begann, mit neuer Klarheit und Liebe auf die Welt zu schauen. „Nie hatte Noah die Welt so gut sehen können wie aus der Arche, obwohl sie geschlossen war und Nacht über der Erde lag.“

 

Viele Astronauten beschrieben ein Gefühl der Epiphanie, als ob sie zum ersten Mal verstünden, dass das Umfeld des Individuums durch andere Lebensformen geschaffen und stabilisiert wird. Dies trifft auf der sozialen Ebene zu – die Menschen werden durch ihre Beziehungen durch schwierige Zeiten getragen –, aber es stimmt auch in einem wörtlicheren Sinne: Die Biosphäre ist eine funktionierende Gemeinschaft. Dennoch kann es sich unheimlich anfühlen, wenn sich Dinge über riesige Räume hinweg berühren – dieses Gefühl ausgerenkter Intimität, das mit einem Gespräch auf Zoom einhergeht, oder der seltsame Stoß, wenn man sieht, wie ein vertrauter Plastikflaschendeckel aus dem Magen eines arktischen Seevogels entnommen wird, der Zehntausende von Meilen entfernt ist. Der Markenname des Erfrischungsgetränks – vertraut, alltäglich –  ist immer noch lesbar, in winziger Schrift.

 

Am Ende meines Gesprächs mit der Biologin, als ich ihr Labor verlassen wollte, bemerkte ich ein Diagramm an der Wand und fragte, was das sei. Die Biologin errötete. „Ich schreibe Horoskope in meiner Freizeit“, sagte sie, als ob sie etwas Peinliches eingestehen würde. „Das erinnert mich daran, dass hier Kräfte im Spiel sind, die viel größer sind als ich“, erklärte sie und hielt mir die Tür zum Gehen auf.

 

 
Illustration: Laura Robert
 

 

Die Astrologie ist meiner Meinung nach ein Zeichen prekärer Verhältnisse: Das Finden von Mustern oder vorhersehbaren Bedeutungen in astronomischen Bewegungen ist in seinem ersten und offensichtlichsten Sinne ein Versuch, aus dem Unkontrollierbaren einen Sinn zu ziehen. Es veranschaulicht auch das starke Gefühl, dass menschliches Leben in jenen und durch jene Momente des intimen Kontakts geschaffen wird, die im Kern die Faszination des Horoskops ausmachen.

 

Das Leben ist nicht nur individuell – wir werden nicht nur von der Kraft unseres eigenen Willens angetrieben.

 

Was mir auffiel, als die Biologin von ihren Horoskopen erzählte, war die Tatsache, dass sie nicht sagte, die Astrologie habe sie dies gelehrt – sie sagte: „Es erinnert mich daran.“ Das Individuum war schon immer in Verstrickungen verwickelt, die tief in sein Inneres reichen und weit über jene direkten sexuellen Begegnungen hinaus, die die konventionellen Grenzen dessen markieren, was Intimität bedeutet.

 

*

 

Daisy Hildyard ist Autorin des Romans Hunter in the Snow (2013) und The Second Body (2017), einem Essay über das Anthropozän. Sie lebt im Norden Englands.

 

 

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