Joshua Groß

 

Kamira lief nachts durch den Bungalow. Es fühlte sich schummrig und weich an. Wie partielles Einsinken in den hölzernen Dielen. Und wenn sie sich umdrehte, konnte sie schwach fluoreszierende Fußabdrücke erkennen; ihre eigenen, die langsam zerschmolzen, da, wo sie mit ihren Wollsocken aufgetreten war. Schwitzig, dachte sie und kicherte. Kurz spürte sie die blanke, muschelhafte Haut auf den Sohlen ihrer Füße. Dann kam sie am Anrufbeantworter vorbei. Er blinkte gelblich, obwohl ihn niemand brauchte. Das Wort Fest­netz kam Kamira so vor, als würde es nicht mehr existieren. Schon das Design der Kabelbuchse, dachte sie plötzlich. Abstoßend. Sie wollte Videos sehen, die in Zeitlupe zeigen, wie verschiedene dickflüssige Materialien durch eine Kabelbuchse gepresst werden. Kuchenteig beispielsweise, Zement, Knetgummi, Götterspeise, Treibsand. Von draußen hörte sie einen hohen Schrei, der kurz anschwoll und dann verklang, aber das Verklingen war angestrengt, leicht unterbrochen oder vibrierend. Kamira horchte auf, aber sie nahm nur noch die weiche, vertraute Stille des Gangs wahr. Zumal die Fenster neuwertig waren und mit Schallschutz ausgestattet. Sie schaute auf den Boden, und um ihre Füße herum breitete sich ein fluoreszierendes Schimmern aus. Macht nichts, dachte Kamira und ging weiter. Sie war sich sicher, dass es Gegenstände gab, durch die sie im Morgengrauen würde hindurchfassen können. Bald schon würde es soweit sein. Am Kühlschrank angekommen, riss sie eine Milch-Schnitte von deren restlicher Familie los. Sie achtete darauf, immer genug Multipacks zu Hause zu haben. Auch Milch-Schnitten könnte man durch die Kabelbuchse drücken, dachte sie, obwohl der Effekt wahrscheinlich nicht so befriedigend sein würde wie bei gleichförmigen, monochromen Materialien. Die Wahrheit ist, dass Kamira siebzehn Jahre alt war und sich hauptsächlich von Salaten, Fruchtsäften, Milch-Schnitten und 5-Minuten-Terrinen ernährte. Ihre Mutter hatte sich vor geraumer Zeit selbst in eine geschlosse­ne Klinik in der Schweiz eingewiesen, und ihr älterer Bruder drehte einen Dokumentarfilm auf Hawaii, schon seit einigen Monaten. Hin und wieder überwies er Kamira ein bisschen Geld. Aber obwohl sie die 11. Klasse eines Göttinger Gymnasiums besuchte, wollte sie Designerklamotten tragen. Deswegen brauchte sie mehr Geld. Ihre familiäre Situation war aufwühlend, wenn auch die Tage ohne Abwechslung verliefen. Was sich außerdem konstant anfühlte, war die Abwesenheit ihres Vaters. Wenn Kamira an ihn dachte, kamen ihr als Erstes seine Pokerrunden in den Sinn, an denen sie ab ihrem sechsten Lebensjahr hatte teilnehmen müssen.

 

Sie schwebte in einem unermesslichen Atmen.

 

Während Kamira ihre Milch-Schnitte aß, um drei Uhr morgens, stellte sie sich vor, dass sie in eine Ferrero-Fabrik einbrechen würde, gewieft und behände, um ein paar Liter von der patentierten Cremefüllung zu klauen. Durchs Fenster sah sie, dass der Asphalt glitzerte aufgrund der vielen kleinen Eiskristalle überall. Der Bun­galow befand sich am Stadtrand, unweit der Autobahn. Die Nach­barschaft bestand aus einer Reinigungsfirma, einer Logistikzent­rale der Deutschen Post, verschiedenen Bürogebäuden und einem Cateringservice, dessen rote Foodtrucks auf dem Grundstück nebenan im Hof standen. Süß irgendwie. Manchmal filmte Kamira morgens mit ihrem Handy, wie die ganzen Foodtrucks armadahaft das Gelände verließen. Solche Videos schickte sie dann meistens ihrer Mutter, die gewöhnlich mit Herz-Emojis antwortete. Nach­dem sie die Verpackung der Milch-Schnitte weggeschmissen hatte, schlüpfte sie in ihren beigen Pelzmantel. Der Bungalow war eingeschossig; über eine Metallleiter kletterte sie aufs Flachdach. So war sie halbwegs auf Höhe der Straßenlampen und Baumkro­nen. Schnee fiel krümelig, aber so verteilt, als wäre der Himmel ge­hemmt, und das fand Kamira unbrauchbar. Trotzdem sah es schön aus, in dem orangefarbenen Licht. Über eine Bluetoothbox spielte sie Hot Boys von Missy Elliott und tanzte; in den tiefen Taschen ihres Mantels fand sie sogar noch blaue Leuchtwedel. Der Song lief auf Repeat. Kamira bewegte sich zur Musik martial-arts-mäßig, wobei sie die Leuchtwedel rhythmisch durch die Winterluft schwang. Die Glasfasern sahen aus wie hyperventilierendes Seegras. Kamira liebte Missy Elliott. Bald schnaufte sie tiefer und produzierte gewaltige Atemwolken um sich herum. Während einmal der Beat kurz aussetzte und Kamira wie eingefroren innehielt, ertönte wieder dieser schrille Schrei, der sich anfühlte, als würde er den oberen Teil ihres Gehirns anheben. Ihr gut durchblutetes Gehirn: Es war mit ei­nem feinen Laserstrahl horizontal durchtrennt worden und, wie gesagt, der obere Teil schien sich zu lösen und zu ihrer Schädeldecke zu drängen; entgegen der Schwerkraft, aus ihr heraus. In ihrem Gehirn entstand eine Lücke, in der sich warmer Druck ausbreitete. Sie hatte ein Luftkissenboot im Kopf. Der Song lief weiter, Kamira fand zurück in ihre Tanzbewegung und überließ sich erneut dem Beat. Trotzdem hatte sich ihrer eine Verpflichtung bemächtigt. Sie hätte mit einem Schuldgefühl weitertanzen müssen, und das wäre weniger sphärisch gewesen, wie sie meinte. Sie band sich einen Dutt, in den sie die Leuchtwedel steckte, und stieg dann vom Dach. Zwischen dem Cateringservice und einer Werbeagentur konnte man zur Autobahn hindurchschlüpfen, wo ein Kiesweg an der Lärmschutzmauer entlangführte. Es war Kamira nicht ganz wohl dabei, alleine in der Dunkelheit zu sein – es war frostig, und klammer Dunst hing über den schmalen Wiesenstreifen. Licht kam allerhöchstens von den Parkplätzen, die zu den Bürogebäu­den gehörten; ein paar Wohnwägen waren dort abgestellt worden, vor Ewigkeiten wohl. Es war ein schwaches Licht, und teilweise unterbrochen von Bäumen, die blattlos rumstanden. Wie immerzu die feuchten Gräser aneinanderrieben, erzeugte ein kaum wahr­nehmbares Schäumen. Diesmal war es ein doppelter Schrei, ganz nahe, wobei der zweite kärglicher war; und der Druck in Kamiras Gehirn, zwischen dem oberen und dem unteren Teil, stieg an, nicht auf bedrohliche Weise, er intensivierte sich eher und weitete sich nach unten in den Körper aus. In dem Schrei ist eine Unwucht, dachte sie. Sie folgte dem Weg – zwischen der Böschung, die von der Lärmschutzmauer abfiel, und dem Maschendrahtzaun, der die Parkplätze umgrenzte. Autos fuhren vorüber, ein paar Meter weiter, nur gedämpft, sodass ein Gefühl von Ferne um sich griff. Aufmerk­sam schaute sich Kamira um.

 

Im Halbschatten stand ein Greifvogel im Gras.

 

Kamira blieb stehen. Der Vogel war groß, sein gemasertes Gefieder war am Kopf und der Brust fast weiß; die angelegten Flügel glänz­ten hellbraun. Wieder schrie er auf. Intuitiv fasste sich Kamira an den Kopf, um ihr Gehirn festzuhalten, damit es nicht entschweben konnte. Sie ging in die Hocke, zog ihr Handy raus und leuchtete den Vogel vorsichtig an. Er schien nicht verletzt zu sein. Kurz hob er gleichmäßig beide Flügel, was mächtig aussah; daraufhin schüt­telte er sich. Kamira googelte. Es war ein Raufußbussard. Der Ruf wurde als Viiääh oder Pi-iii-äääh angegeben. Vogelkunde, dachte Kamira, was für ein Quatsch. Festnetz, flüsterte sie. Pi-iii-äääh, flüsterte sie. Sie spürte keinen Unterschied. Der Raufußbussard hüpfte auf Kamira zu. Nachdem sie sich umgeschaut hatte, hielt sie ihm ihre Hand hin. Der Vogel pickte mit dem Schnabel interes­siert ein paar Mal gegen Kamiras Fingerknöchel, fast spielerisch, auffordernd. Daraufhin sprang er auf ihren Arm und krallte sich im Pelzmantel fest. Kamira machte ein Selfie mit dem Raufußbussard; darauf ihre feinen, schwarzen Haare, blasse Haut, blaue Leucht­wedel. Du heißt Kiwi, sagte Kamira leise. Sie entschied, dass der Vogel bei ihr wohnen würde. Gemeinsam gingen sie zurück zum Bungalow. Kamira mochte das Gewicht von Kiwi; sie spürte, dass sie einen Vogel trug, aber es war nicht übertrieben. Es passierte fast nebenbei, sie fühlte sich wie ein Berg, in dessen Hängen ein Nebelfeld liegt. Bekommen Berge davon Blutergüsse?, fragte sie sich. Dann musste sie lachen.

 

Eigentlich wollte Kamira in dieser Nacht noch arbeiten; sie hatte zwischenzeitlich nur getanzt, um dem Stress zu entfliehen. Um sich Designerklamotten leisten zu können, spielte sie Online-Po­ker; mehrere sechsstündige Schichten pro Woche, mindestens zehn Tabs parallel, mit mittleren Einsätzen. Dabei schlürfte sie stets grünen Tee, um wach zu bleiben. Sie hasste es. Aber sie generierte dadurch ein sicheres Einkommen, um ihren Lebensstil zu finanzieren. Sie hatte mit Online-Poker begonnen, nachdem ihr Vater verschwunden war, also schon vor einer ganzen Weile. Professionalisiert hatte sie sich aber erst, seit sie komplett allein gelassen worden war.

 

Kamira stellte einen Teller auf ihren Schreibtisch, direkt neben den Laptop, und zerkrümelte Milch-Schnitten darauf. Dann setzte sie den Raufußbussard daneben. Kiwi begann sofort damit, die Milch-Schnitten-Stücke zu fressen. Währenddessen holte Kamiraeine Schale voll Wasser. Sie arbeitete bis zum Morgengrauen. Der Raufußbussard war bald eingeschlafen und hatte seinen Kopf zufrieden im eigenen Gefieder vergraben. Zum Glück war Sams­tag, sonst hätte Kamira in die Schule gemusst. Sie hatte 900 Euro verdient. Aus dem Keller holte sie einen Wäschekorb, den sie mit Handtüchern und Kissen auskleidete. Um sieben Uhr weckte sie Kiwi. Kamira verfrachtete den Wäschekorb auf die Terrasse und ließ den Vogel hineinhüpfen. Du kannst losziehen, wenn du willst, sagte Kamira. Mit dem Fahrrad fuhr sie zum Marktkauf und besorgte rohen, unbehandelten Lachs. Als sie zurückkam, schrie der Raufußbussard. Kamiras Gehirn riss fast auf davon. Der Schrei forderte einen Aufbruch von ihr. Kiwi flog aus dem Wäschekorb raus, schwebte im Halbkreis durch den Garten und segelte durch die Terrassentür ins Wohnzimmer. Kamira folgte dem Vogel in die Küche. Während sie den Lachs in kleine Stücke schnitt, hockte Kiwi auf ihrer Schulter und wartete geduldig. Plötzlich merkte Kamira, wie müde sie war. Sie legte sich ins Bett. Der Raufußbus­sard hatte gefressen und sich schließlich oben auf den Bettpfosten gesetzt, mit schief gelegtem Kopf schaute er sie an: runde Augen kurz vorm Karamellisieren. Kamira las dem Vogel ein bisschen Dos­tojewski vor: Am meisten gefällt ihr am anderen Tischende ein sehr junger Mann, der um sehr hohe Beträge spielt. Er setzt Tausende und hat bereits, wie überall hier geraunt wird, an die 40.000 Francs gewonnen, die in einem Haufen vor ihm liegen – teils in Gold, teils in Schecks. Er ist bleich, seine Augen leuchten, und die Hände zit­tern erregt. Er setzt mittlerweile vollkommen planlos, so viel, wie seine Hand nur zu greifen vermag, und doch gewinnt und gewinnt und gewinnt er und streicht und streicht die Gewinne ein. Bei mir ist es anders, dachte Kamira, ganz, ganz anders. Ich gewinne und gewinne und gewinne, das schon. Aber alles ist überschaubar, alles, was ich verlieren kann, sind meine Tabs. Sie klappte ihren Laptop auf, mit trägen Handgriffen. Die Tabs waren eigentlich überhaupt nicht überschaubar; so klein waren sie schon in sich zusammenge­schrumpft, dass Kamira nicht mal mehr erkennen konnte, was für Webseiten eigentlich geöffnet waren: Modeblogs wahrscheinlich; eine Webcam, die das Tal zeigte, in dem sich die Klinik befand, wo ihre Mutter lebte; Wikipedia-Artikel für die Schule etc. Trotzdem bringt man es nicht über sich, einfach den kompletten Browser zu schließen, dachte Kamira. Als würde etwas auf dem Spiel stehen, als wären die Tabs die eigentlichen Einsätze, als klammere man sich an Geheimwissen. Was überall lauert, das sind Implosionen.

 

Sie schlief ein paar Stunden. Dann ging sie shoppen. Den Raufuß­bussard setzte sie wieder in den Wäschekorb. Auf einmal meinte sie, dass ein Geschocktsein aus ihr entweichen würde; eine Anspannung, die vielleicht schon seit Jahren in ihr gewesen war. Ihrem horizontal zerschnittenen Gehirn entwich Eisnebel. Wohin der Eisne­bel entwich, wusste sie nicht. Eisnebel, dachte sie. Kamira stand mitten in der Einkaufspassage, zwischen Fachwerkhäusern und H&M. Sie befand sich unweit des Lichtenberg-Denkmals, und einem Hologramm gleich entstand ihr eigenes Gehirn vor ihr in der Luft, noch immer unterteilt in eine obere und eine untere Hälfte, wobei der Zwischenraum bläulich glühte. Kamira runzelte die Stirn. Der obere Teil ihres Gehirns lud sich energetisch auf – dann, fast mit Lichtgeschwindigkeit, schoss er über die Dächer davon, gefolgt von einem fluoreszierenden Schweif. Es kribbelte kurz in Kamiras Haarwurzeln.

 

In den darauffolgenden Sommerferien lieh sich Kamira einen Foodtruck von nebenan. Sie hatte sich vorgenommen, einen Ausflug zum Wolfsburger Fashion Outlet zu machen. Ihre Mutter war noch nicht geheilt, ihr Bruder noch nicht aus Hawaii zurückge­kehrt. Auf der Fahrt hockte der Raufußbussard auf ihrer Schulter. Sie hörten Missy Elliott. Kamira rappte mit: Beep, beep, who got the keys to the Jeep?/ Vroom, I’m driving to the beach / Top down, loud sounds, see my peeps / Give them pounds, now look who it be /It be me, me, me and Kiwi ... Weil Kamira es vermied, über Auto­bahnen zu fahren, passierten sie viele Wälder. Weit war sie noch nicht gekommen, wenige Kilometer aus Göttingen heraus. Beim Durchqueren eines Kiefernwaldes fühlte sich Kamira verstört. Sie stutzte. Die einzelnen Bäume standen in weiten Abständen zuein­ander und hatten breite, schirmförmige Kronen. Die Mittagssonne schien hindurch, und der Boden leuchtete rötlich. Aber seltsam war vor allem, wie Kamira langsam realisierte, dass die abstehenden Äste der Kiefern allesamt von meterhohen Krücken getragen wurden, oder falls sie nicht getragen wurden, dann standen um die Bäume herum meterhohe Krücken, deren Tragflächen sich unter die abstehenden Äste schoben. Kamira parkte den Foodtruck auf einem Weg, der von der Landstraße wegführte. Sie stieg aus, Kiwi blieb weiterhin auf ihrer Schulter sitzen. Nachdem sie ein paar Schritte in den Wald gelaufen war, spürte sie unter sich das Moos; es war rotes Moos, das stellenweise ins Purpurne überging. Harz­geruch war sehr intensiv, ansonsten war die Luft trocken. Kamira hob die Arme, und die Ärmel ihres weißen Designerkleids rutsch­ten zurück zu ihren Schultern. So konnte sie die Sonne direkt auf der Haut spüren. Vroom, sagte sie, I’m driving to the beach. Sie bückte sich vorsichtig, sodass Kiwi die Balance halten konnte, und riss ein paar Fäden vom Moos ab, womit sie den Raufußbussard fütterte. Kiwi fraß das Moos gierig, zog es mit dem Schnabel zwischen Kamiras Fingern raus. Dann inspizierte Kamira die Krücken; sie waren dünn und aus hellem, undurchlässigem Hartplastik ge­fertigt. Der Wald war tief, Kamira konnte seinen Saum nicht sehen. Endlos viele Krücken standen herum, die meisten waren unter den Kronen der Kiefern platziert worden, manchmal standen sie aber auch lose da, stabil in den Boden gerammt; sie mussten bestimmt fünfzehn Meter hoch sein, meinte Kamira, und dabei waren sie sehr dünn, sodass sie nur schmale Schatten evozierten. Kiwi löste sich und flog auf, schreiend: Pi-iii-äääh, sagte Kamira und lachte. Wie langweilig kann Sprache sein?, fragte sie sich. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und beobachtete den Raufußbussard. Kiwi umkreis­te Kamira in großer Höhe, weit über den Kronen. Kamira legte sich ins Moos, bedeckte die Sonne mit einer ausgestreckten Hand und begann selbst, auf roten Fäden rumzukauen; sie schmeckten fast wie Kurkuma. Wie cremefarben der Raufußbussard von unten wirkte, mit braunen Flügelspitzen, braunem Flügelbug, apriorisch irgendwie. Kamira rannte zum Foodtruck und holte sich mehrere Milch-Schnitten aus dem Kühlfach. Daraufhin setzte sie sich an der gleichen Stelle ins Moos wie zuvor. Sie aß zwei Milch-Schnitten; die Verpackungen faltete sie längs zusammen und verwahrte sie unter dem Träger ihres BHs auf. Sie mochte es, wie der Geschmack noch eine Weile in den Mundhöhlen blieb; als würden die extru­dierten Teigplatten mit ihrer unscheinbaren Schroffheit auf der Zunge eine Reizung hervorrufen oder Rückstände hinterlassen, die Kamira weiterhin schmecken konnte. Sie schlief ein. Ihr träumte, dass sie und ihr von ihr abgetrenntes Gehirn sich innerhalb eines unsichtbaren, interobjektiven Organismus befanden, eines nicht lokalisierbaren Organismus, und sie nahm ihn nur wahr, weil sich der Druck um sie herum veränderte, immer dann, wenn der Orga­nismus atmete: Sie schwebte in einem unermesslichen Atmen, oder besser gesagt, weder schwebte sie noch fiel sie, sie bewegte sich darin einfach – und auch ihr Gehirn war dort, glasfaserig, und sie bildete gewissermaßen eine Konstellation mit ihm, dachte Kamira, oder meinte Kamira zu denken, wobei sie aufwachte, und Konstellation, dieses Wort, in ihr zerbröselte oder zu etwas anderem wurde, Niespulver beispielsweise. Hatschi, flüsterte sie. Der Rau­fußbussard hockte auf der Tragfläche einer freistehenden Krücke und schrie. Auf einmal zogen sich die Schatten weit. Da erhob sich Kamira und ruckelte an einer der Krücken. Zufrieden stellte sie fest, dass die Krücke nicht allzu tief in den Boden gesteckt wor­den war. Als sie mit beiden Händen daran schüttelte, spürte sie, wie Kiwi wieder auf ihrer Schulter landete. Die Krücke löste sich und fiel langsam und lange um. Auf Google Maps ließ Kamira berechnen, wie lange der Fußweg zum Bungalow war: 1 h 37 min. Kein Problem, sagte sie. Kiwi kniff ihr ins Ohr. Kamira schritt zum anderen Ende der Krücke; beide Seiten der Tragfläche bogen sich u-förmig. Wie eine Wünschelrute, nur völlig falsch proportioniert, dachte Kamira. Sie griff danach und hob das Ende auf. Schwer war die Krücke nicht, und der längste Teil des Stiels lag noch immer im Moos. Kamira öffnete eine weitere Milch-Schnitte, die sie fair mit dem Raufußbussard teilte. Anschließend machten sich die beiden mit der Krücke im Schlepptau auf den Heimweg.

 

Joshua Groß, *1989, lebt als Autor in Braunschweig. Im März 2021 erscheint sein Buch „Entkommen“ bei Matthes & Seitz Berlin.

 

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