Mazlum Nergiz

 

Mein erster Lektor rief mich an und fragte, ob ich an einem Podiumsgespräch über autobiografische Täuschungen teilnehmen wollte. Er hatte mittlerweile die Leitung eines Literaturfestivals übernommen. Ich wusste nicht, was ich beizutra­gen hatte (oder was ’autobiografische Täuschungen’ meinte), aber ich bekundete höflich mein Interesse an seinem Programm und bat ihn, auch höflich, um einen Gefallen: ob es möglich wäre, in der Stadt, in der das Literaturfestival alljährlich stattfand, zu bleiben, und ob er mich bei diesem Vorhaben unterstützen könnte. „Warum?“, fragte er mich. Ich lag auf meinem Sofa, als er mich anrief. Die dicken Vorhänge waren fest hinter den Scheiben zugezogen. Alle Lichter ausgeschaltet. Dunkelheit umgab mich. Das wenige Licht, das an diesem Nachmittag durch die Vorhänge kroch, ließ die Konturen aller Gegenstände in meinem Zimmer dumpf und unheimlich leuchten. Mir wurde klar, dass er überhaupt nichts über mein Privatleben wusste. Ein Gefühl von ernsthafter Intimität ergriff mich. „Warum?“, fragte ich mich. „Bitte, kann ich einfach kommen und bleiben?“ Er versprach, mir eine Atelierwohnung des Kulturprogramms der Stadt zu besorgen, und wünschte mir alles Gute.

 

Zerstörung, Ausweitung und Zeit bedeuten dem Körper gleichviel.

 

Ich hatte nicht ausgepackt, als ich ankam. Ich rief meinen Freund an, und sachlich erklärte ich ihm, dass es mir von nun an nicht mehr möglich wäre, einen Raum zu beschreiben, der uns beide enthielte. Er verstand nicht, was ich damit meinte, und ich, ehrlich gesagt, auch nicht. „Warum?“, hatte er mich nach einem sehr langen Moment der Stille gefragt. „Warum?“, fragte ich mich schon wieder. „Ich muss die Architektur einbrechen sehen, auf der ich mein Leben aufgebaut habe. Ich bin mir sicher, dass ich dabei nichts anderes hinterlasse als die bloße Idee von Kontrolle, und um das Skelett dieser Mutmaßung zu sehen, muss alles verbrennen und zerschmelzen. Ich stehe am Abgrund von etwas, nichts und niemand wird mich halten, wenn ich bei dir bleibe.“ Das wollte ich ihm gerne sagen. „Ich kann meine Geschichte nicht jedem erzählen“, setzte ich stattdessen an. „Vielleicht kann ich sie auch nur einer einzigen Person erzählen. Vielleicht auch niemandem. Du bist diese Person jedenfalls nicht.“ Um absolute Klarheit (wie klar kann ein Moment werden?) zu schaffen, ließ ich ihn wissen, dass ich nicht beabsichtigte, zurückzukehren, weder in unsere Woh­nung noch in die Stadt, und fügte zum Schluss noch hinzu: „Diese Beziehung ist beendet.“

 

Ich verließ die Wohnung, um die sich mein ehemaliger Lektor bemüht hatte, direkt nach meiner Ankunft. Packte nicht aus und lief durch die Stadt. Es war unmöglich, mir Interesse für die Stadt einzubilden. Ich wusste, wohin ich wollte. Ich hatte Freunde um Empfehlungen gebeten, bevor ich abreiste. Ich hämmerte dreimal an die schwarze Tür des Darkrooms. Meine Schläge hallten in der Seitengasse, in der ich mich befand, nach. Ich zog an der Tür, aber diese war geschlossen. Brauchte es einen Code? Aber es kam niemand, der mich nach einem Passwort fragte. Sanft lehnte ich mich an die Tür. Ich blickte in den Himmel, der immer schon da war. Ich zog von einer Wolke zur nächsten. Landschaft muss sich nicht mit mir beschäftigen. Ich aber. Und alles erhält erst Bedeutung, sobald ich hinschaue.

 

Mittlerweile kniete ich auf dem Boden, immer noch an der Tür lehnend. Ich hörte Schritte auf mich zukommen, aber konnte meinen Blick nicht vom Himmel abwenden. Die Sonne war schon längst untergegangen, aber das Licht verschwand nicht, es war unklar, woher es kam, es kam von überall, als ob eine Sonne sterben würde. Ein diesiger Regen, der schon den ganzen Tag fiel, ließ die Konturen aller Dinge, Häuser, Autos und Menschen brüchig wirken. Die Tür rammte sich in meinen Rücken, und kurz konnte ich nicht mehr atmen. Ich stützte mich mit meinen Händen auf dem Boden ab und röchelte heftig. „Was machst du hier?“ Spucke floss aus meinem Mund auf den Boden. Der kleine Teich unter meinem Mund ließ den Teer glänzen. Er griff unter meine Schultern, stützte mich auf und presste mich gegen die Eingangstür. „Alles in Ordnung?“ Mein Atem beruhigte sich wieder ein wenig. „Habt ihr zu?“, fragte ich ihn. Der Mann hatte keine Haare mehr, wollte sich aber auch keine vollständige Glatze zulegen, was ihn leicht schmutzig aussehen ließ. Er trug nur ein Poloshirt und eine schwarze Jogginghose. Sein Körper leuchtete schwach und setzte sich immer neu in wahnsinnigen Formationen zusammen wie ein weit entfernter Schwarm phosphoreszierender Fliegen. Er glühte, trieb und zersetzte sich. „Wir haben es extra auf unserer Website gepostet. Geschlossen. Für eine Woche. Mindestens.“ Er stand mir jetzt gegenüber und zündete sich eine Zigarette an. Ich beugte mich leicht nach unten und stützte meine Arme auf meinen Oberschenkeln ab. Ich wollte weiter Spucke aus meinem Mund laufen lassen, aber das schien mir jetzt nicht mehr angebracht. „Warum?“, fragte ich ihn. Er zog fest und gierig am letzten Rest seiner Zigarette, schnipste sie knapp an mir vorbei und atmete aus. „Ein Gast hat sich in unserem Käfig eingesperrt. Hat sich ganz alleine mit GHB und was nicht noch zugedröhnt. Paar Gäste waren genervt, an der Bar zogen sie über ihn her, dass er unerreichbar spielt. Dornröschen hinter Gittern. Hat den ganzen Abend auf niemanden reagiert. Was soll das, dich in einen Käfig einsperren und überdosieren? Am nächsten Morgen haben wir ihn gefunden. Habe versucht, ihn zu wecken, sein halber Arsch steck­te ja noch im Käfig. Dachte, der würde sich nur ein bisschen ausruhen.“ Vielleicht hatte er nur aus Mitleid darüber, dass er mir die Tür in die Rippen gestoßen hatte, angefangen zu erzählen, was passiert war. Er zündete sich wieder eine Zigarette an und beschrieb mir, wie er aussah, als er ihn gefunden hatte. „Stinkendes Stück Scheiße, alles voll mit roten Flecken.“ Er stand immer noch unter Schock. Vielleicht war ich auch der Erste, mit dem er darüber reden konnte. „Ich kannte ihn nicht. Aber niemand hier kannte ihn. Niemand.“ Ich antwortete, dass es nur Einbildung wäre, Mitgefühl für das verschwundene Leben zu empfinden, das man nicht kannte, und dass man nur um etwas trauern könnte, das man liebt. Dann fragte ich ihn noch nach anderen Orten zum Cruisen in dieser Stadt, und damit stellte ich mich als Tourist bloß. „Einfach dem Fluss Richtung Westen folgen“, erklärte er mir, während er die Tür wieder aufschloss. „Nicht den Fluss überqueren, bleib auf dieser Seite. Die Gebäude am Hafen stehen leer, sind aber voller Männer.“

 

Ich bereitete mich am nächsten Tag auf die bevorstehende öffentliche Diskussion vor. Ich begann mit Notizen und fokussierte mich auf die Erfahrung der Lust im Akt der Täuschung. Ich schrieb auf, dass diese mir erlaubte, mich der Wahrheit ungefähr zu nähern, aber nur so weit, wie ich es wollte. Was ich wirklich fühlte, unterdrückte ich durch das, was ich stattdessen begehrte, und ich wandte meine ganze Kraft auf, nichts an die Oberfläche spülen zu lassen. Ähnlich wie Treibgut am Strand konnte ich durch dieses Verfahren erkennen, was da war, aber ich blieb stets in der beruhigenden Unkenntnis darüber, wie viel davon noch in mir steckte.

 

Ich verließ das Haus. Der Himmel war ein dumpfes Rot. Ich erreichte die nächstgelegene Brücke, doch überquerte diese nicht und folgte langsam dem Fluss Richtung Westen.

 

Flüsse haben mich schon immer interessiert. Flüsse sind, anders als Meere, weder formlos noch maßlos. Das Chaos eines Flusses ist gedämmt. Eine begrenzte Welt. Der Körper dieser Welt: immer in Bewegung. Treiben, gleiten, bewegen und bewegt werden. Ich glaube, ich kann jeden beliebigen Fluss überqueren, aber ich habe Angst vor dem Ozean. Einen Fluss zu überqueren ist ein Transport, vielleicht auch ein Bruch mit der Gegenwart. Ich verlasse das Hier und Jetzt für ein Dann und Dort.

 

Warten auf Einbruch der Nacht. Männer auf beiden Seiten des Flusses tauchten in diesem abgelegenen, verlassenen Teil der Stadt auf, und ich wusste, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Sie alle marschierten in dieselbe Richtung. Ich setzte mich auf eine Bank. Es war immer noch nicht dunkel. Am mir gegenüber liegenden Ufer trainierte ein Mann. Er trug kurze schwarze Shorts und einen dicken grauen Pullover. Sein Schweiß ließ ovale Flecke auf dem Pullover sprießen. Ich hörte ihn nicht atmen, nur den Aufschlag des Springseils. Seine Beine sprangen schnell und völlig synchron im Takt hoch. Der Himmel hinter ihm glühte. Ich war hier, in dieser Stadt. Vielleicht würde ich bleiben. Das war alles, was ich in diesem Moment wusste. An dieser Kreuzung zwischen Erde, Luft und dem Wasser wartete ich darauf, den Mann wegfliegen zu sehen. Es gab keine Ufer mehr. Nur noch Verbindungen. Ich wollte in den Fluss springen, aber ich war paralysiert. Meine Vermutung, dass ein Fluss begrenzter wäre als ein Meer, war den Strom heruntergespült worden. Meine Vermutung von Sicherheit durch Begrenzung löste sich in den schaumig schlagenden Wellen des Flusses auf. Die Wellen wurden kräftiger und schlugen höher. Die Grenze des Flusses war nichts anderes als eine Täuschung. Ich hätte die Wellen mich in den Ozean tragen lassen können. Das war alles, was ich wollte. Deswegen war ich hier. Ozean werden. Formlos. Maßlos. Chaos. Unbegrenzte Welt. In den Ozean schwimmen und ertrinken. Meinen Mund öffnen und alles Wilde, Unbezähmbare, etwas, das lebt, in mich hineinlassen. Ich konnte mich immer noch nicht bewegen. Ich blieb auf der Bank sitzen. Still. Mein Blick wanderte herunter und ich bemerkte, dass meine Hose nass und warm war. Ich wartete. Ließ alles ablaufen. Endlich konnte ich mich wieder bewegen und verließ das Flussufer.

 

Ich betrat das Gelände einer verlassenen Autowaschanlage. Zerfetzte Reifentürme lagen am Haupteingang. Entkernte LKWs bildeten Gassen in der Dunkelheit. Diese wurde gelegentlich von glühenden Zigaretten aufgerissen. Als ich das Gebäude betreten wollte, tauchte ein kleiner fetter Mann aus dem Nichts auf. Dicht kam er an mich heran, griff nach meiner Hand, und zusammen liefen wir zurück zum Pier. Er erzählte mir, dass nach dem letzten Krieg die städtische Autobahn, die dieses Gebiet der Stadt mit dem Rest verband, bombardiert worden war. Was die Gegend, in der sich hauptsächlich der Großmarkt befand, so gefährlich machte, lockte die Männer an: Lange Korridore ermöglichten das Umherwandern. Löcher in den Türen: ideale Spione. Zerbrochene Fenster und Bodendielen: zufällige, wenn auch nicht ungefährliche Glory Holes. „Zeit liegt hier auch in den Ruinen.“ Man erzählt sich, führte er fort, während seine kleine Hand in meiner nassen Unterhose landete, dass der Geschäftsmann, der diesen Großmarkt gründete, ein leidenschaftlicher Sammler von Frauenleichen war, dass er diese auf ziellose Reisen schickte, nämlich vom Kanal zum Fluss bis ins Meer. Ich war mir sicher, dass er Geschichten durcheinander brachte, weil es mir schwerfiel nachzuvollziehen, warum ein Mörder und Sammler von Frauenleichen ausgerechnet diese Stadt, so weit entfernt vom Ozean, für sein Vorhaben aussuchen sollte. Ich zog seine angenehm warmen Hände aus meinem Schritt, wünschte ihm eine gute Nacht und kehrte zurück auf das Gelände. Ich spürte, dass er mich weiterhin anstarrte. Als ich mich umdrehte, verschwand er in der Nacht.

 

Ich erreichte endlich die stillgelegte Autowaschanlage. Auch hier die Überreste von vielleicht fünf oder sechs LKWs. „Sleep comes dropping“ stand in riesigen weißen, schwarz umrandeten Buchstaben auf der Wand geschrieben. Ich blickte nach oben. Das Dach war fast vollständig eingestürzt. Jemand musste versucht haben, dieses Gebäude anzuzünden. Oder vielleicht hatte auch nur eine weggeworfene Zigarette den Brand verursacht. Ich beobachtete die Männer, wie sie vorsichtig um die verkohlten, heruntergefallenen Balken, verrosteten Metalle und zerbrochenen Fenstergläser herumspazierten. Als ob sie jeden Moment erwarteten, dass die Architektur auf sie niederregnete und sie und ihre umherziehenden Körper auflöste. Diese ihre Körper würden dann Teil der Vergangenheit werden, von der diese Ruine Zeugnis ablegte. Und Zeit, ein konstanter, unaufgeregter Strom, floss in Richtung der grauen, degenerierten Sterne, die die Vergangenheit in sich bargen, um sich dann langsam im Nichts aufzulösen. Zerstörung, Ausweitung und Zeit bedeuten dem Körper gleichviel.

 

Auch diese Nacht gehörte ich keinem. Ich wanderte durch das Brachland: verrottende und mit Sperma befleckte LKWs, übersät mit leeren Flaschen, Nadeln, benutzten und unbenutzten Kondomen. Ruinen, die den Männern Unterkunft anboten. Ich reagierte nicht auf Blicke und Zeichen, achtete darauf, niemandem direkt in die Augen zu gucken, und lief zurück in meine Wohnung, die mir mein ehemaliger Lektor besorgt hatte, in dieser mir fremden Stadt.

 

Mazlum Nergiz, *1991, ist Dramaturg, Autor und Hörspielmacher. 2019 hat er den EDIT Essaypreis gewon­nen. Sein Essay "Falten & Inseln" ist 2020 bei Matthes & Seitz erschienen. 2021 hat ihm das Schauspielhaus Wien das Hans-Gratzer-Stipendium verliehen. Seit 2019 ist er Dramaturg am Schauspiel Hannover.

 

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