Ein Gespräch mit dem Historiker Nikolaus Brauns

 

Wann ist denn die Revolution?, fragte eine Zuschauerin am Ende der ersten Folge unserer Talk-Serie Autonomie. Eva von Redecker, Gast unserer zweiten Folge, hat in ihrem Buch „Revolution für das Leben“ zum einen auf deren Dauer verwiesen: Nicht mehr das singuläre Ereignis würde als Revolution bewertet, sondern vielmehr die Transformation. Und zum anderen gibt es jetzt schon vielerorts Revolutionäres, nur hat es sich noch nicht so weit verbreitet, dass es die bisherige Lebens- und Produktionsweise en gros ablösen könnte. Unter Revolution fällt heute, so Redecker, auch Sorgearbeit, Regeneration, Reparation und permanente Lernprozesse. Früher war die Ökologie sekundär, wenn es erst einmal den Arbeiter (!) zu befreien galt, heute gilt es primär das gesamte Lebensnetz von zerstörerischen Kräften zu befreien. Und vielerorts lässt sich ohnehin nur noch auf Ruinen leben.

 

In der ersten Folge haben wir gelernt, dass Autonomie auch relational gedacht werden kann und dass es bereits vielerlei Praxen gibt, die als eben die Verbindung und Verknüpfung von Individuen zu größeren Gruppen und Gemeinschaften darauf hinwirken, verschiedene Machtverhältnisse abzubauen, die den einzelnen meist mit dem neoliberalen Stempel „selber schuld“ zurücklassen. Relationale Autonomie bedeutet Autonomie als Kooperation und schließt auch nicht-menschliches Leben mit ein.

 

Angesichts von Krieg und Klimakrise übertreffen sich derzeit apokalyptische Szenarien über unsere „zerfallende Welt“. Der Journalist Peppe Egger schreibt deshalb: „Der nächste Schritt bestünde darin, als Globalgemeinschaft zu überlegen, wie wir unsere Welt wieder neu zusammensetzen können.“

 

In der Zwischenzeit, zwischen der ersten und zweiten Folge unserer Reihe, befragen wir einen Historiker, der die Bauteile für die Neuzusammensetzung der Welt zu kennen scheint. 

 

Herr Brauns, was verbinden Sie mit dem Begriff der Autonomie, wofür steht er, was sind Seiten, die Sie eher stören?

 

Autonomie wird ja oft im Sinne von völliger Selbstbestimmung und Unabhängigkeit verstanden. Doch gerade für Einzelne ist es eigentlich nicht möglich, wirklich autonom zu leben, da der Mensch nun mal ein gesellschaftliches Wesen ist. Er ist von der Gesellschaft geprägt und von ihr abhängig, um zu überleben. Ich übersetzte Autonomie als Selbstgesetzgebung, also als die Möglichkeit und das Recht von Gemeinschaften, sich selbst Regeln und Gesetze zu geben, nach denen sie leben wollen.

 

Mir fällt allerdings auch der Spruch des FDP-Vizevorsitzenden Kubicki ein, der erklärte, während des Corona-Lockdown heimlich in seine Kneipenrunde gegangen zu sein und das damit rechtfertigte, er lasse sich sein Recht auf autonomes Handeln nicht nehmen. Kubicki verwechselt autonomes Handeln mit rücksichtslosem und willkürlichem Handeln und dem sich über Gesetze hinwegsetzen. Das Gesetz des Stärkeren sollte nicht mit Autonomie verwechselt werden.

 

Wenn ich den Begriff mal herleiten darf: Autonomie als Kompositum besteht im Altgriechischen aus „Auto“ und „Nomos“, „Selbst“ bzw „Eigen“ auf der einen und „Übereinkunft“ bzw „Gesetz“ auf der anderen Seite. Die Selbstgesetzgebung oder Selbstübereinkunft, wie ich Autonomie gerne übersetze, ist frei von Herrschaft und auch ich denke, dass sie per Definition nicht an das Individuum geknüpft werden kann, sondern die Gruppe oder Gemeinschaft braucht, die sich selbst regiert. Demokratie trägt ja eigentlich genau dieses Versprechen in sich. Braucht es Autonomiebestrebungen innerhalb der Demokratie?

 

Demokratie ist ja erst mal nicht Herrschaftslosigkeit, sondern selbst im Idealfall einer radikalen Demokratie (ich rede hier jetzt nicht vom bürgerlichen Parlamentarismus) die Herrschaft der Mehrheit über eine Minderheit. Gerade darum braucht es innerhalb der Demokratie auch Autonomiebestrebungen zum Schutze von besonders unterdrückten Gemeinschaften und generell von Gemeinschaften mit besonderen Bedürfnissen, die nicht gegen die Interessen der Mehrheit gerichtet sind, aber von dieser nicht vertreten werden. Auch eine radikale Demokratie könnte dadurch erweitert werden, dass sich solche Gruppen auch autonom zusammenschließen, Angelegenheiten, die nur sie betreffen selbst regeln und ihre Forderungen und Bedürfnisse auch kollektiv in den demokratischen Entscheidungsprozess einbringen.

 

Um einmal den Fokus auf andere Formen der demokratischen Selbstbestimmung zu richten:

Können wir uns das an einem Beispiel anschauen?

 

Ich kann hier aus eigener Erfahrung über Rojava sprechen. Um zu begreifen, was die Selbstverwaltung verändert hat, müssen wir erst einmal sehen, wie es vor der Revolution war. Syrien war und ist unter der Baath-Herrschaft ein brutaler Polizeistaat und auch dort, wo dieser Staat sich um Infrastruktur oder Versorgung der Bevölkerung kümmerte, ist er durch Bürokratie und Korruption geprägt. Dazu kam für die Kurden noch eine nationale Unterdrückung durch den arabischen Nationalismus und eine Assimilationspolitik, hunderttausenden Kurden wurde zudem selbst die syrische Staatsbürgerschaft vorenthalten. Der Staat wurde also von den meisten Menschen in Rojava als etwas Feindliches, etwas zu Fürchtendes wahrgenommen. Auch die Gemeinschaften, die wie einige arabische Stämme in Rojava oder Teile der christlichen Minderheit, mit dem Staat kooperierten, taten dies, um entweder in den Genuss besonderer Privilegien zu kommen oder - wie im Falle der Christen - aus einem besonderen Schutzbedürfnis heraus aber nicht aus Überzeugung.

 

In den Großstädten Qamishli und Hasaka war die alte Verwaltung der Baath-Partei ja noch intakt geblieben und dort gab es weiterhin auch syrisches Militär und in einigen Stadtvierteln unterstützen die Bewohner bis heute die Regierung in Damaskus. Die Selbstverwaltung hat nie versucht, die Baathisten militärisch ganz aus diesen Städten zu vertreiben, da dies einen Keil zwischen Kurden und Arabern getrieben hätte. Stattdessen versuchte die Selbstverwaltung, effektiver und besser zu arbeiten, als die staatliche Bürokratie. Die staatlichen Gerichte wurden also z.B. nicht dicht gemacht, aber es wurde eine neue Gerichtsbarkeit aufgebaut, die sich stärker am Gedanken der Aussöhnung als der Bestrafung orientierte. Oder öffentliche Dienstleistungen wie Müllabfuhr oder die Ausbesserung von Straßen oder die Gesundheitsversorgung konnten durch das Rätesystem, dass ja bis auf Straßenebene herunterging, viel effektiver gelöst werden als durch die staatliche Bürokratie, in der Anträge hängen blieben und Gelder verschwanden. Das praktische Beispiel überzeugte viele Menschen.

 

Ich würde gerne etwas über die Menschen in dieser selbstverwalteten Region erfahren, die Sie kennenlernen konnten. Wie wirkt sich diese Form der Autonomie konkret auf die Menschen aus?

 

Die Revolution hat unglaublich viele Menschen, die vorher überhaupt nicht am gesellschaftlichen Leben teilgenommen haben und nicht teilnehmen konnten, plötzlich zu gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren gemacht. Ich denke da an Männer im Rentenalter, die sich freiwillig zu den Asayis - einer den Räten unterstellten Polizeimiliz - gemeldet haben, um für die Sicherheit ihrer Stadtviertel angesichts der dschihadistischen Angriffe zu sorgen. Mit fällt da eine religiös geprägte arabische Frau in Qamishli ein, die mir erzählte, dass sie in ihrem früheren Leben - sie meinte vor der Revolution - den ganzen Tag zu Hause war, Hausarbeit machte und sich langweilte. Jetzt habe sich plötzlich gar keine Zeit mehr für den Haushalt und komme auch nicht mehr zum Fernsehen, weil sie jeden Tag in Komiteesitzungen, zu Hausbesuchen in der Nachbarschaft und anderen gesellschaftlichen Aktivitäten müsse, erzählte sie mir lachend. Für diese Frau, die ihr ganzes Leben in konservative Familienstrukturen eingebunden war, war die Revolution auch ein ganz persönliches Erwachen, eine Befreiung aus den patriarchalen Fesseln. Oder ich denke hier an Kinder einer kurdischen Familie in Derik, bei der ich einmal übernachtet habe. Die erzählten dann, früher hätten ihre Lehrer sie ja geschlagen, doch jetzt dürften sie das nicht mehr, weil sie ja Genossen seien. Schon da zeigten sich die neuen sozialen Beziehungen nach der Revolution.

Mir fallen die jungen Frauen ein, die ich in einer Stellung der Frauenverteidigungseinheiten YPJ gesprochen habe. Für diese Frauen, viele gerade erst 18 oder 20 Jahre alt, war klar, dass sie auch nach dem militärischen Sieg über die Dschihadisten nicht wieder in ihr altes Leben zurückkehren wollten. Von einem Ehemann abhängig, zu Hause eingesperrt und für Haushalt und Kinder zuständig zu sein, das konnten sich diese Frauen nicht mehr vorstellen. Sie wollten sich weiterbilden und gesellschaftlich tätig bleiben, nicht unbedingt in den bewaffneten Kräften natürlich.

Doch es gibt natürlich auch in Rojava Menschen, die gar keine Lust haben, sich gesellschaftlich zu engagieren und in die Selbstverwaltung einzubringen und die einfach ein ruhiges und gutes Leben führen wollen. Nicht jeder dort ist ein Revolutionär oder eine Revolutionärin.

 

Können Sie uns etwas über die Entstehung der autonomen Selbstverwaltung in Nordsyrien berichten?

 

Die Rojava-Revolution, aus der die nun bereits zehn Jahre bestehende demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien hervorging, vollzog sich vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges in Syrien. Die Kurden, die vor allem im Grenzgebiet zur Türkei und zum Irak leben, hatten sich 2011 nicht auf die Seite der arabisch-chauvinistischen Assad-Regierung gestellt, die ihnen jahrzehntelang elementare Rechte verweigert, Tausende ihrer Aktivisten verschleppt, gefoltert und ermordet und ihre an Getreide und Öl reichen Regionen einer inneren kolonialen Ausbeutung unterworfen hatte. Noch unterstützten die Kurden die Oppositionsgruppen, die ebenfalls durch arabische Nationalisten und in starkem Maße durch die islamistische Muslimbruderschaft dominiert war, da diese - auch unter dem Einfluss der Türkei, von wo aus sie vielfach operierten - den Kurden ebenfalls die Anerkennung und das Selbstbestimmungsrecht verweigerte. Unter Führung der Partei der demokratischen Union (PYD), einer an den Ideen von Abdullah Öcalan orientierten Kraft, wurden noch im Untergrund Komitees zur Versorgung und Verteidigung der Bevölkerung aufgebaut. Als dann der Krieg auf Rojava überzugreifen drohte, nutzte die PYD im Sommer 2012 die Schwäche des Baath-Regimes, das den Großteil seiner Kräfte in andere Landesteile abgezogen hatte, und mobilisierte die Bevölkerung zur Machtübernahme und Bildung einer Selbstverwaltung in Form eines Rätesystems.

 

Wie funktioniert dieses Rätesystem? Und wie ist das Selbstverständnis?

 

Die kleinste Einheit der Selbstverwaltung ist die Kommune, die die Bewohner eines Viertels, einer Straße oder eines Dorfes zusammenfasst und sich um die täglichen Angelegenheiten kümmert. Von der Müllentsorgung über die Gesundheitsversorgung – gerade in Corona-Zeiten wichtig – bis zum Schlichten von Streitigkeiten oder der Unterstützung von Frauen, die in ihren Familien Gewalt ausgesetzt sind. Es gibt dann Rätestrukturen auf Stadtteil- und Stadtebene, auf Kantonalebene und so weiter. Für alle Rätegremien, außer natürlich den reinen Frauenräten, gilt eine Geschlechterquotierung von - ich glaube derzeit - 40 Prozent. Zudem gibt es jeweils zwei Vorsitzende - einen Mann und eine Frau. Neben den direkt gewählten Rätedelegierten entsenden auch Gruppen - Frauen- und Jugendvereinigungen, Gewerkschaften, ethnische und religiöse Gemeinschaften etc. - Vertretungen in die Räte.

 

Ihrem Selbstverständnis nach ist die nordostsyrische Selbstverwaltung nichtstaatlich. Doch vielleicht sollten wir eher von nicht-nationalstaatlich sprechen. Denn wenn es Verwaltungsstrukturen, Räte, eine Armee und nicht zuletzt Gefängnisse gibt, dann haben wir es nach meinem Verständnis durchaus mit einem Staat zu tun. Nur eben im Falle der Selbstverwaltung mit einem Räte- oder Kommunesstaat, der tatsächlich die Mehrheit der Bevölkerung nicht nur repräsentiert, sondern soweit wie möglich auch zur aktiven Mitwirkung einbezieht. Eine wichtige Aufgabe haben dabei noch die auf vielen Ebenen geschaffenen Akademien, denn diese sollen die für eine demokratische Mitgestaltung notwendige Bildung vermitteln. Dabei geht es nicht um Propaganda von oben, sondern um einen Selbstlernprozess der Akteurinnen und Akteure der Rätebewegung.

 

Die Wirtschaft in Nordostsyrien ist weiterhin kapitalistisch. Vorherrschend ist die Landwirtschaft. Doch die Autonomieverwaltung ist bestrebt, den Privatkapitalismus durch den Aufbau von Kooperativen - Landwirtschaftsgenossenschaften, Produktionsgenossenschaften, Einkaufsgenossenschaften und auch reine Frauenkooperativen, die Frauen ein eigenständiges von Ehemännern oder Vätern unabhängiges Erwerbseinkommen ermöglichen sollen - zurückzudrängen. Diese Entwicklung steht allerdings noch relativ am Anfang. Der Gesellschaftsvertrag - eine Art Verfassung - sichert zwar den Schutz des Privateigentums zu, verbietet allerdings private Aneignung von Bodenschätzen. Am ehesten ließen sich die zum Teil widersprüchlichen ökonomischen Vorstellungen in diesem Gesellschaftsvertrag als antineoliberal bezeichnen und vergleichsweise egalitär.

 

Vor rund Hundert Jahren wurden die Münchner Räterepublik und Antonio Gramscis Turiner Rätebewegung von reaktionären und faschistischen Kräften schnell zerstört. Derzeit gibt es einige Solidaritätsadressen in Richtung Rojava, auch von den Klimagerechtigkeitsaktivist*innen von „Ende Gelände“. Welchen permanenten Bedrohungen ist das Rätemodell diesmal ausgesetzt?

 

Bedroht ist die Selbstverwaltung seit ihrer Entstehung, denn dieses einzigartige Experiment an radikaler Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit und multiethnischem Zusammenleben steht konträr zu allen Staaten der Region. Nordsyrien ist so einem mehrfachen Embargo durch die Türkei, die syrische Regierung und die kurdische Regionalregierung im Nordirak ausgesetzt und leidet auch an den vom Westen gegen ganz Syrien verhängten Sanktionen. Die größte Gefahr stellt aber die Türkei da, die mehrere Gebiete in Nordsyrien besetzt und mit ihren dschihadistischen Söldnern und deren Familien besiedelt hat, während die örtliche Bevölkerung - Kurden, Araber, Assyrer - vertrieben wurde. So hält die Türkei seit vier Jahren den Kanton Afrin besetzt und hat dort ein islamistisches und terroristisches Schreckensregime mit Morden, Verschleppungen, Vergewaltigungen, Folter und Plünderungen errichtet. Die Türkei führt zudem einen permanenten Krieg niederer Intensität gegen die Gebiete der Autonomieverwaltung. Dazu gehört der willkürliche Artilleriebeschuss von Dörfern, gezielte Morde mit Drohnen, das Kappen der Wasserversorgung und auch die Unterstützung von Schläferzellen des IS, der weiterhin im Untergrund aktiv ist, Anschläge verübt sowie Gefängnisausbrüche organisiert. Dieser Krieg niederer Intensität lässt die Region langsam ausbluten, immer mehr Menschen werden in die Flucht getrieben. Darin liegt eine große Gefahr für Rojava. Sowohl Russland als auch die USA, die in Nordsyrien mit Truppen präsent sind, benutzten dabei die Türkei als Knüppel, um die Autonomieverwaltung zu disziplinieren. Das autoritäre Assad-Regime ist in den ersten Jahren des Bürgerkrieges in weiten Teilen des Landes regelrecht kollabiert und konnte sich erst mit militärischer Hilfe von Russland und Iran wieder stabilisieren. Und Moskau will die Unterwerfung der Autonomieverwaltung unter Damaskus.

 

Historiker wie Herfried Münkler betonen, Ultranationalismus und Faschismus seien „das letzte Stadium des proletarischen Internationalismus“, der sich bei Putin und auch Milosevic vollzogen habe. Das Beispiel Öcalan zeigt eine andere Entwicklung, oder?

 

Diese Einschätzung von Münkler halte ich für Quatsch. Milosevic und auch Putin sind nicht das letzte Stadium des proletarischen Internationalismus, sondern Produkte des Zerfalls des Staatssozialismus und der kapitalistischen Restauration. Öcalan dagegen ist der Vordenker einer nationalen Befreiungsbewegung, der sich in einer veränderten Weltlage nach dem Ende der Sowjetunion, vor dem Hintergrund vieler zu korrupten Staatsparteien degenerierten ehemaligen Befreiungsbewegungen in anderen Ländern sowie der besonderen Situation des von gleich vier Staaten kolonial unterworfenen Kurdistan Überlegungen zu einer anderen Form der Realisation des Selbstbestimmungsrechts als durch Gründung eines neuen Nationalstaates gemacht hat. Öcalan nahm nicht nur Abstand vom Ziel eines unabhängigen Kurdistan, sondern unterzog generell die Idee eines Nationalstaates einer radikalen Kritik. Er erklärte einmal, ihn interessierten nicht Grenzen, sondern Freiheiten. Die Realität des Nahen und Mittleren Ostens ist im besonderen Maße durch eine Vielzahl von ethnischen und religiösen Gruppen geprägt, die über Jahrtausende auf dem gleichen Boden neben und miteinander gelebt haben. Das durch die französische Philosophie geprägte Konzept eines monistischen Nationalstaates, der - wie die kemalistische Türkei oder die arabisch-nationalistischen Regime in Syrien und dem Irak - nur noch eine nationale oder religiöse Identität kennt, wurde über die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens wie ein Zwangskorsett gelegt und entsprach in keiner Weise den Realitäten und Bedürfnissen dieser Gesellschaften. Öcalan entwickelte gegen den Nationalstaatsgedanken das Konzept der Demokratischen Nation, die sich aus der Vielzahl der in einem Gebiet lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zusammensetzt. Jede dieser Gemeinschaften muss dabei das Recht haben, sich um ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen demokratisch zu organisieren und ihre Forderungen einzubringen. Dazu gehört auch das Recht jeder Gemeinschaft auf ihre Selbstverteidigung. Und das Konzept der Demokratischen Autonomie meint, dass sich die jeweiligen Gemeinschaften demokratisch organisieren und untereinander vernetzten sollen, ohne dabei die bestehenden Nationalstaatsgrenzen zu verändern.

 

Es ist so auch falsch, von einer kurdischen Selbstverwaltung in Rojava zu sprechen. Denn in Nord- und Ostsyrien leben außer Kurden auch Araber und christliche Suroye und Armenier sowie Turkmenen und weitere Gruppen. Von Anfang an wurde versucht, diese Gruppen in die Selbstverwaltung einzubinden – etwa in dem die Ratspräsidentenschaften nicht nur geschlechterparitätisch, sondern auch gemäß der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung einer Region gebildet werden. Um dem besonderen Sicherheitsbedürfnis der christlichen Bevölkerungsgruppen Region Rechnung zu tragen, konnten die Assyrerinnen und Assyrer eigene Milizen aufstellen, die für den Schutz der christlichen Stadtviertel zuständig sind. Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) als Verteidigungseinheiten der ganzen Selbstverwaltungsregion werden in deutschen Medien fälschlich als kurdische Miliz bezeichnet, doch mehrheitlich befinden sich in ihren Reihen heute Araber, neben den kurdischen Volks- und Frauenbefreiungseinheiten YPG und YPJ sowie kleineren assyrischen und armenischen Einheiten.

 

Mir persönlich sind die Autonomiebestrebungen indigener Völker wie etwa der Mapuche in Chile, die seit 2012 und bis heute sehr stark mit den Anti-Neoliberalismus-Protesten in den Metropolen einhergingen, vertrauter. Bei positiven Bezugspunkten wie „Raizes & Tierra“ oder „Sangre & Tierra“ - zu deutsch: Wurzeln & Erde oder Blut & Boden - hatte ich aber Übersetzungsschwierigkeiten. Auch hierzulande gibt es wieder Siedlerbewegungen, die sich dezidiert völkisch, rassistisch, antisemitisch äußern - und als autonom begreifen. Was ist Ihres Erachtens wichtig zu betonen, wenn sich Autonomiebestrebungen dergestalt reaktionär und exklusiv formieren?

 

Um den Charakter von Autonomiebestrebungen zu begreifen, sollten wir uns nicht nur an Worten oder Äußerlichkeiten aufhängen, sondern wir müssen auch auf die Ökonomie schauen.

In einer bäuerlichen Gesellschaft spielt die Bodenfrage natürlich die zentrale Rolle. Und wenn dann die eigene Herkunft und Kultur betont wird, richtet sich das ja eher gegen kolonialistische Bestrebungen, gegen multinationale Konzerne, gegen das Vordringen des Neoliberalismus, die Verdrängung der Subsistenzwirtschaft durch industriell betriebene Landwirtschaft und Enteignung der verschuldeten Kleinbauern. „Sangre & Tierra“ meint nach meinem Verständnis dann eher so was wie „Das Land muss denen gehören, die es seit jeher bebauen“. Das ist etwas ganz anderes als die völkische Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis, die Genozide und ihren Eroberungs- und Vernichtungskrieg im Osten rechtfertigten.

 

Sicherlich gibt es auch im Rahmen von an sich legitimer Autonomiebestrebungen, die sich als Widerstand gegen Kolonialismus oder Neoliberalismus formieren, reaktionäre Elemente, die sich etwa aus feudalen und patriarchalen gesellschaftlichen Strukturen der dortigen Gesellschaften speisen. Dort wo Religion mit Autonomiebestrebungen verschmilzt, kann dies zwar eine Autonomiebewegung insgesamt stärken, aber auch ihre reaktionären Seiten - etwa in Form eines konservativen Frauen- und Familienbildes - werden damit befördert. In Rojava und bei der kurdischen Freiheitsbewegung können wir sehen, wie hier versucht wird, einerseits eben auch konservative religiöse Bevölkerungskreise in die Autonomiebestrebungen einzubinden und andererseits mit dem Aufbau der Frauenbewegung, von Frauenräten und Frauenmilizen gegen damit verbundene reaktionäre Entwicklungen gegenzusteuern. In jedem Büro der linken Partei HDP, die ja eine Dachpartei der kurdischen Bewegung mit türkischen Sozialisten und  Feministinnen darstellt, in den kurdischen Landesteilen der Türkei finden wir einen Gebetsraum. Das ist ein Zugeständnis an die religiöse Prägung der Bevölkerung. Aber in jedem HDP-Büro finden wir auch einen eigenen Frauenraum, in dem sich die Frauen autonom versammeln können.

 

Schließlich - und auch darum mein Verweis auf die Analyse der Ökonomie - erleben wir ja auch immer wieder Autonomiebestrebungen privilegierter und reicher Regionen, die ihren Reichtum etwa an Bodenschätzen nicht mit ärmeren Landesteilen teilen wollen. Das ist natürlich nichts Fortschrittliches. Und die in der Frage genannten völkischen Siedler in Deutschland sind – selbst wenn sie unter sich teilweise sogar basisdemokratisch organisiert sind – ein durch und durch reaktionäres Projekt, das auf rassistischer Ausgrenzung aller als blutsfremd empfundenen Menschen beruht. Da lobe ich mir doch lieber das Angebot der baskischen Unabhängigkeitsbewegung, dass jeder mitmachen kann, egal wo er herkommt und welche Wurzeln er hat, solange er sich als Baske fühlt und die baskische Sprache erlernt.

 

 

In welchen Denktraditionen bewegen sich diese Formen radikaldemokratischer Autonomie, die Sie kennenlernen konnten? Und lassen sie sich auch im größeren Maßstab denken?

 

Eine weitere Autonomiebewegung, mit der ich seit Jahren schon in persönlichem Kontakt bin, befindet sich in der Kabylei in Algerien. Die Amazigh bzw. Berber dort waren und sind traditionell an der Spitze der Demokratisierungsbewegung im ganzen Land und wehren sich gegen die von der Regierung in Algier beförderten Arabisierungsbestrebungen und das Vordringen eines radikalen Islam in ihre Region. Ein Teil der Bewegung strebt daher eine föderative Lösung mit Algerien an, ein anderer Teil fordert eine unabhängige kabylische Republik. Das spannende an der kabylischen Bewegung ist der dort gepflegte Rückgriff auf die uralte Tradition der Selbstverwaltung in dieser Bergregion. Langezeit bildete dort jedes Dorf eine eigene kleine Dorfrepublik. Schon der Anarchist Kropotkin beschrieb das Beispiel der Kabylei in seinem berühmten Buch über „Gegenseitige Hilfe in der Tier und Menschenwelt“ aus dem Jahr 1902. In Gesprächen mit kabylischen Aktivisten habe ich erfahren, dass sich viele eine autonome Kabylei als eine Art Föderation solcher Dorfrepubliken vorstellen, in der nur wenige Fragen an eine Zentralregierung delegiert werden müssen.

 

Öcalan hat sich bei seinen Überlegungen über Selbstbestimmung, Autonomie und radikale Demokratie von den theoretischen Schriften des libertären US-Sozialisten Murray Bookchin leiten lassen, aber nicht nur. In den Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens hat er vor allem nach geschichtlichen Spuren eines Zusammenlebens jenseits des Staates gesucht. Die Kabylei und generell Nordafrika hat er meines Wissens nicht näher untersucht. Aber gerade das kabylische Beispiel erscheint mir als ein Beleg von Öcalans These, dass solche bis in den Urkommunismus bzw. die matrizentrische Urgesellschaft zurückreichenden Formen des egalitären und demokratischen Zusammenlebens sich durch die Jahrtausende in rudimentärer Form erhalten haben. Ein Unterschied zur kurdischen Bewegung besteht sicherlich darin, dass die kabylische Autonomiebewegung ihr Rätekonzept aus der kabylischen Tradition heraus entwickelt hat und nicht über eine Ausweitung auf das restliche Algerien nachdenkt. Dagegen versteht Öcalan sein Konzept als universal anwendbare Methode. Rojava versteht sich als Keimzelle eines neuen, föderalen und demokratischen Syriens.

 

Könnten Sie einmal eine größere Föderation solcher selbstverwalteten Regionen einmal für die Zukunft skizzieren?

 

Gerade heute, beim jetzigen Stand der Produktivkraftentwicklung und der damit verbundenen Möglichkeiten der Kommunikation und Vernetzung, erscheint es mir viel einfacher möglich, eine große Föderation selbstverwalteter Regionen zu schaffen, in der nur wenige Aufgaben wie Außenpolitik, Währungspolitik oder die Bereitstellung zentraler Infrastruktur wie Eisenbahnen an eine Zentralregierung oder besser gesagt eine oberste Koordination delegiert werden. Zudem müsste es auf zentraler Ebene einen finanziellen Ausgleichsfonds geben, um Mittel zwischen reichen und armen Regionen umzuverteilen. Die demokratische Selbstverwaltung darf nicht vor den Fabrikgebäuden und den Unternehmenszentralen enden, die Demokratie muss sich auch auf den zentralen Bereich der Ökonomie erstrecken.

 

Auch hier in Europa kann ich mir eine demokratische Föderation gut vorstellen - als Gegenmodell zur EU, die zwar auch als föderaler Verbund erscheint, in der aber immer mehr Kompetenzen an eine ferne Brüsseler Bürokratie abgegeben werden, während zugleich die Macht multinationaler Konzerne immer weiter gestärkt wird. Dabei sollte es aber nicht darum gehen, ein Zurück zum Nationalstaat oder ein von traditionalistischen Regionalparteien propagiertes Europa der Regionen entlang von ethnischen oder Sprachgrenzen zu propagieren. Ich stelle mir vielmehr einen Zusammenschluss von Räterepubliken vor, die ihrerseits Verbünde von Kommunen sind. Denn entscheidend ist für mich bei einem solchen föderalen Zusammenschluss der demokratische Inhalt seiner jeweiligen Glieder. Und das muss auf unterster Ebene beginnen. Dort, wo Menschen leben, arbeiten und lernen, müssen sie sich in Räten zusammenschließen, um ihre direkten Angelegenheiten basisdemokratisch selbst zu regeln. Von dort aus sollten dann Delegierte in höhere Räte etwa auf Stadtebene und so weiter gewählt werden. Aber da würde ich im Einzelnen gar kein festes Schema vorgeben. Denn verschiedene Regionen haben ihre eigenen demokratischen Traditionen, aus denen sie schöpfen können.

 

Wenn ein Staat als Räte- oder Kommunenstaat tatsächlich von unten nach oben aufgebaut ist und einen größeren Teil der Bevölkerung in die aktive Verwaltung, Gestaltung und nicht zuletzt Verteidigung einbezieht, dann ist er mit Sicherheit stärker und stabiler als autoritäre Regime, die nur auf Gewalt und Angst und einer abgehobenen Staatsbürokratie basieren.

 

Die Klimakrise hat die Notwendigkeit auf globaler Ebene zu handeln evident gemacht. Wie kann autonomes Handeln nicht-exklusiver Gemeinschaften mit dem globalen Handlungsbedarf synchronisiert werden?

 

Klar ist, dass wir die Klimakrise - wenn überhaupt - nur auf globaler Ebene durch einen grundsätzlichen Systemwandel in den Griff bekommen können. Doch gerade selbstorganisierte Gemeinschaften können die dafür notwendigen Anforderungen vor Ort besser umsetzen durch eine andere Art der Produktion und der Landwirtschaft, die nicht an Profiten, sondern an den Bedürfnissen der Menschen vor Ort orientiert ist. Autonomie sollte ja - soweit das überhaupt in unserer globalen Welt möglich ist - auch eine gewisse Form der Ernährungsautonomie beinhalten. Das bedeutet einen verstärkten Rückgriff auf heimische Produkte aus örtlichem Anbau anstatt Nahrungsmittel über Tausende von Kilometern zu importieren. Grundsätzlich meine ich, die Frage der Ökologie sollte für autonom organisierte Gemeinschaften und Selbstverwaltungsregionen ebenso wichtig sein wie die Frage der demokratischen Selbstorganisation.

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