„Ihr seht nicht so aus, als würdet ihr hier hingehören …“

 

Im Schauspielhaus gibt es aktuell das Stück Die Ärztin von Robert Icke zu sehen. Christine Grant und Nicolas Matthews spielen den jungen namenlosen Assistenzarzt Junior sowie den loyalen Arztkollegen Michael Copley. Beide sind in die Geschichte verwickelt, doch schon bald geht es nicht mehr darum, was wirklich passiert ist, sondern wie es gesehen wird und zu welcher Gruppe wer gehört. Aus Sicht ihrer Rollen sprechen sie mit dem Schriftsteller und Dramaturgen John von Düffel über Die Ärztin und ihre Perspektive auf die Geschichte.

 

In diesem Stück über Identitäten arbeitet der Autor Robert Icke viel mit gegentypischen Besetzungen. Du, Christine, spielst einen jungen Assistenzarzt, der neu ins Team des Elisabeth-Instituts kommt. Wie erlebt Junior die ersten Tage in der Abteilung von Ruth Wolff?

 

Christine Grant: Er kommt in ein System, das unter Hochdruck funktioniert und mit strenger Hand geführt wird. Junior hat den Ehrgeiz mitzuhalten, sich nützlich zu machen, dazuzugehören. Er muss sehr wach sein und sich schnell orientieren bei dem hohen Tempo.

 

In den Augen der anderen scheint Junior mehr eine Position als eine Person zu sein. Er kommt nicht einmal dazu, seinen Namen zu sagen ...

 

Christine Grant: Er springt ins kalte Wasser und ist bereit zu lernen, um sich einen Namen zu machen. Aber natürlich bekommt er mit, wo die Gräben und Grenzen verlaufen. Ruth Wolff warnt ihn, nicht vorschnell „dem Jungsclub“ um Professor Hardiman beizutreten, der ihr Gegenspieler in der Institutsleitung ist. Doch ich glaube, Junior ist klug genug, nicht übereilt Partei zu ergreifen.

 

Michael Copley – der Arzt, den du spielst, Nicolas – ist schon länger in der Abteilung und steht eindeutig auf der Seite von Ruth Wolff. Was bedeutet die Ärztin für deine Figur?

 

Nicolas Matthews: Sie ist für ihn sicher ein Vorbild. Er bewundert Ruth dafür, dass sie das Institut aufgebaut hat, für ihre Forschungsleistungen im Kampf gegen Demenz. Aber er sieht in ihrem Verhalten auch keine Anleitung, wie man eine Abteilung führen sollte. Wie Ruth hat Copley einen jüdischen Background, doch er hält es für klüger, nicht laut zu werden, als der Priester vor der Tür steht und in das Krankenzimmer der Patientin eindringen will. Copleys Versuch, Ruth zu beruhigen, verstehe ich als eine Art grundsätzliche Vorsicht: Wir haben diese jüdische Identität, und wir müssen aufpassen, dass nicht alles darauf gemünzt wird!

 

Foto: Kerstin Schomburg
 

 

Der Unterschied zwischen Junior und Copley zeigt sich auch in der Einstellung zu den sozialen Medien. Junior scheint durchaus netzaffin zu sein und entdeckt als Erster die Onlinepetition, die in dem Aufruf gipfelt, christliche Patienten sollten nur noch von christlichen Ärzten behandelt werden …

 

Christine Grant: Für Junior gehören die sozialen Medien und digitalen Plattformen selbstverständlich zu seinem Leben dazu. Er ist gut vernetzt. Dadurch hat er einen gewissen Informationsvorteil und kann in die Teambesprechungen etwas einbringen, mit dem er wahrgenommen wird. Nachdem er die Onlinepetition vorgelesen hat, wird er sogar noch mal nach seinem Namen gefragt. Leider kommt er wieder nicht dazu, ihn auszusprechen.

 

Im Gegensatz dazu hat Copley für die sozialen Medien nur Verachtung übrig …

 

Nicolas Matthews: Er steht auf Professionalität. Ärzte wie Copley müssen mit ihrem Können und ihren Köpfen für die Entscheidungen einstehen, die sie treffen. Daher seine Abneigung gegen die sozialen Medien, wo jeder sich äußert.

 

Copley ist hautnah dabei, als die Ärztin den Priester zurückhalten will, in das Zimmer ihrer Patientin zu gehen, und ihn dabei anfasst. Was für ein „Übergriff“ ist das?

 

Nicolas Matthews: Eine unglückliche Verkettung von Ereignissen. Die Lautstärke von Ruth in Kombination mit Berührung ist schwierig. Ich glaube nicht, dass sie handgreiflich wird. Aber dadurch, dass sich die Situation so hochschaukelt, sind alle hypersensibel. Hätte sie mehr Ruhe bewahrt, wäre das „Anfassen“ vermutlich nicht so gewertet worden. Aber so werden Würde und Respekt auf verschiedenste Weise verletzt.

 

Währenddessen ist Junior im Krankenzimmer mit einem sterbenden Mädchen konfrontiert …

 

Christine Grant: Es ist sicher nicht die erste Sterbende in Juniors Ausbildung. Aber es ist ein 14-jähriges Mädchen im Delirium aufgrund einer Sepsis nach einer verpfuschten Abtreibung. Es ist schon eine krasse Überforderung, dass ausgerechnet Junior, der am wenigsten Routine hat, in dieses Sterbezimmer geschickt wird.

 

Foto: Kerstin Schomburg
 

 

Die eigentliche Bombe des Stückes platzt, als der Aspekt der Hautfarbe ins Spiel kommt. Durch den Kunstgriff des Autors mit den gegentypischen Besetzungen wird das, was normalerweise zuerst gesehen wird, als Letztes erkannt: Der Priester ist ein Schwarzer!

 

Nicolas Matthews: Mir gefällt sehr, wie ein scheinbar kleiner Zwischenfall in einer Klinik immer komplexer und mehrdimensionaler wird, je weiter das Stück fortschreitet. Es spielt auf diese Weise mit dem Rassismus der „Gatekeeper“, also derer, die Menschen anderer Hautfarbe aussperren. Das ist leider immer noch eine Alltagserfahrung, dieser Blick der Türwächter: „Ihr seht nicht so aus, als würdet ihr hier hingehören …“

 

Die private und die berufliche Welt von Ruth Wolff zerbrechen und damit viele Gewissheiten über ihre eigene Identität, die durch ihre Arbeit als Ärztin definiert ist. Glaubt ihr nach dem Stück noch immer, dass es keine Rolle spielt, zu welcher Konfession oder Gruppe ein behandelnder Arzt gehört?

 

Nicolas Matthews: Wenn Ruth Wolff das Institut verlässt, geht für Copley auch das Ideal einer Medizin, die jeden Menschen ohne Ansehen der Person und seiner Gruppenzugehörigkeit behandelt. Sicher ist niemand so neutral und korrekt, wie es diesem Ideal entsprechen würde, aber wenn es künftig auch in der Medizin mehr um soziale Zugehörigkeiten geht als darum, Menschen zu heilen, dann ist das nicht die Medizin, für die Copley angetreten ist.

 

Christine Grant: Medizin findet ja nicht im luftleeren Raum statt, sondern in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. Es herrscht eine vorurteilsgeprägte Einschätzung des Schmerzempfindens von Frauen, Schwarzen, Angehörigen anderer Ethnien und Kulturen. Das führt nicht selten dazu, dass ein Patient einen Tag früher nach Hause geschickt wird. Wer anders aussieht, wird auch anders behandelt – wir leben nun mal nicht in einer perfekten Welt. Insofern ist das Ideal der Gleichbehandlung sehr weit entfernt von der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

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