Interview mit Komponistin Sarah Nemtsov

 

1980 in Oldenburg geboren, schöpft Sarah Nemtsov ihre kreativen Impulse immer wieder aus der Auseinandersetzung mit Literatur. Sie nimmt sprachliche Bilder und literarische Atmosphären auf, lotet die Grenzen zwischen Konzert und Musiktheater aus. So auch in dem Konzertstück En face von 2018, das im 4. Sinfoniekonzert: Nähe am 30. und 31. Januar zur Aufführung kommt, als zweites Konzert in der Reihe more than music am Opernhaus.

 

In En face vertont Nemtsov eine Erzählung des polnisch-jüdischen Autors Bruno Schulz (1892-1942). Der Text scheint wie geschaffen als Reflexion der Pandemie-Erfahrung der letzten Monate. Er denkt sich sich aus einem geschlossenen Zimmer hinaus in die Freiheit, changiert zwischen Innen und Außen, Klaustrophobie und Weite, Wirklichkeit und Imagination. Nemtsov stellt die Erzählung in einer spektakulären Rauminstallation für großes Orchester, Sprecher und solistisches Schlagzeug auf die Konzertbühne.

 

Wie lesen und hören Sie Ihr Orchesterwerk En face heute, mit der Erfahrung der Corona-Pandemie?

 

Tatsächlich hat das Thema durch die Corona-Pandemie eine besondere Aktualität erfahren. Einsamkeit, Abstand halten, Quarantäne, Eingeschlossensein, als wären überall Mauern. Das alles ist im Text von Bruno Schulz und für uns jetzt in der Zeit der Pandemie evident. Sicher wird jetzt das Stück ganz anders wirken als bei der Uraufführung 2018. Ich würde aber auch sagen, dass der Text dennoch eine Universalität und Zeitlosigkeit besitzt, etwas tief Existentielles, Menschliches. Für die Erfahrung reicht gewissermaßen schon die eigene Seele, die eigenen Abgründe und Mauern. Und trotz des düsteren Themas wohnt der Sprache auch eine gewisse Ironie inne, etwas Absurdes, Leichtes, was es vielleicht sogar noch menschlicher macht.

 

Sie stellen einen szenisch agierenden Schlagzeuger und einen Schauspieler vor das Orchester, wie den Protagonisten und sein Spiegelbild im Text von Bruno Schulz: „Manchmal sehe ich mich im Spiegel … Ich sehe mich niemals en face, von Angesicht zu Angesicht … Unsere Blicke treffen sich nicht mehr.“

 

Sie sollten einander „verzerrtes“ Spiegelbild sein – als würde der eine den anderen imaginieren. Das Schlagwerk bildet einen eigenen Raum mit Tür und Spiegel um den Schlagzeuger herum. Er ist quasi in einem Käfig, geschützt und schutzlos zugleich. Um ihn seine Instrumente und Objekte, die er nur mit seinen Händen spielt, ohne Schlägel. An seinen Handgelenken sind Mikrophone befestigt – er zoomt gewissermaßen in die Klänge, in die Objekte, legt sie unters Mikroskop, lauscht mit den Händen. Die Virtuosität ist also anderer Art, es ist eher ein innerer Raum und eine Virtuosität der Empfindsamkeit.

 

Protagonist und Spiegelbild sind einander entfremdet. Doch durch Ihre Wahl des Titels suggerieren Sie, dass eine Begegnung stattfindet: Als Publikum erleben wir Ihr Werk „en face“, ganz unmittelbar.

 

Genau so ist es. Wir als Künstler:innen mit unseren Werken brauchen die direkte Begegnung mit einem Publikum, und sei es nur ein einziger Mensch. Das ist sehr kostbar!

 

Sie haben einen Bezug zu Hannover, sogar zu unserem Opernhaus?

 

Ja, und diese Hannover-Verbindung freut mich sehr! Ich bin in Oldenburg aufgewachsen und kam 1998, mit 18 Jahren, als Jungstudentin im Fach Komposition an die Musikhochschule in Hannover. Bevor ich dann später Oboe studiert habe, nahm ich Oboenunterricht bei Wolfgang Hindinger, dem damaligen Solo-Oboisten des Staatsorchesters. Er vermittelte mir einige Jobs als Orchesteraushilfe, zum Beispiel für Bühnenmusik bei Richard Wagner. Das sind prägende Erinnerungen. Ich habe außerdem verschiedene Produktionen erleben können, die mich zum Teil sehr beeindruckten: Luigi Nonos Al gran sole carico d’amore 2004 zum Beispiel, und 2001 nahm ich als Kompositionsstudentin an der Produktion von John Cages Europeras teil – auch das ein Erlebnis!

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