„Entweder hat Herr Temme meinen Sohn selbst getötet oder er hat denjenigen gesehen, der meinen Sohn getötet hat.“
Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in einem Internet-Café in Kassel erschossen. Als Täter:innen wurden Mitglieder des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds identifiziert. Die Prozessakten des Strafverfahrens zu den NSU-Morden wurden anschließend für 120 Jahre, nach Protesten für 30 Jahre gesperrt. Für die Angehörigen von Halit Yozgat verlief der Prozess enttäuschend. Wichtige Fragen, so auch die zwielichtige Rolle des Verfassungsschutzes, hat das NSU-Urteil nicht geklärt.
Für eine Uraufführung 2020 gab die Staatsoper in spartenübergreifender Zusammenarbeit mit dem Schauspiel das Werk in Auftrag, das Pandemie-bedingt verspätet erst 2022 im Opernhaus realisiert wurde. Der australische Komponist, Produzent, Sound Artist und Regisseur Ben Frost nimmt in seiner Oper den NSU-Mord an Halit Yozgat und den gesellschaftlichen Umgang mit dessen Folgen zum Anlass für eine Betrachtung unseres kulturellen Wertesystems. Fragen nach nichts weniger als unser aller geschichtlicher Verantwortung werden gestellt – und sie nehmen an Aktualität eher zu als ab. Gibt es Gerechtigkeit, wenn die Wahrheit immer wieder neu konstruiert wird?
Die Oper nimmt Bezug auf Untersuchungen der unabhängigen Forschungsgruppe Forensic Architecture. In einer Gegenrecherche zu den offiziellen Ermittlungen des Mordes an Halit Yozgat wurden sämtliche verfügbaren Informationen, präzise wie in einem wissenschaftlichen Experiment, zusammengestellt: das nachgebaute Internet-Café als Tatort, Aussagen von Zeug:innen, Bilder, Geräusche, Videos, Login-Daten. Die sekundengenau rekonstruierten Raum-Zeit-Abfolgen der sieben Zeug:innen konservieren Erinnerungen zu technischen Abläufen, die zu Kausalketten verbunden werden können. Doch sie lassen verschiedene Ereignisvarianten zu. Das beantwortet nicht nur Fragen, sondern wirft vor allem neue auf. Was genau ist geschehen? Und welche Konsequenzen haben Zweifel an unserem Umgang mit gesellschaftlichen Werten wie Gerechtigkeit, Schuldfragen und Verantwortung?
Als Filmkomponist lieferte Ben Frost u.a. die Musik zu Fernsehserien wie
Fortitude oder
Dark. Obwohl in der Elektroszene sehr bekannt, schrieb Frost seine Oper für akustische Instrumente. Klanglich liegt die Musik zwischen Klassik, Minimal und Heavy Metal – mit einer starken Wirkung, die regelrecht in den Körper eindringt. Ben Frosts Komposition macht emotional erfahrbar, was den Worten versagt bleibt; sie schafft es, gesellschaftliche Prozesse in Sound zu transformieren.
Die Uraufführung, die auch den Klangapparat aus Mitgliedern des Niedersächsischen Staatsorchesters zum Teil des theatralischen Raums werden lässt, sollte bereits im März 2020 stattfinden. Doch kurz vor der geplanten Premiere musste die Arbeit an der Inszenierung Corona-bedingt abgebrochen werden. Diese für alle Beteiligten überaus schwierige Phase des Probenprozesses wurde selbst zum künstlerischen Dokument: Der Film
Der Mordfall Halit Yozgat. Eine Oper unter Quarantäne von Ben Frost und Trevor Tweeten lief seither bereits bei den KunstFestSpielen Herrenhausen und online beim Holland Festival, beim Prototype Festival in New York und beim Unsound Festival in Poznań.
Triggerhinweis:
Die szenische Wiederholung des Tathergangs in der Inszenierung
Der Mordfall Halit Yozgat kann auf von (rassistischer) Gewalt betroffene Personen retraumatisierend wirken.