Anne Carson
„ich wünschte, ich wäre zwei hunde, dann könnte ich mit mir selbst spielen.“
(Anmerkung der Übersetzerin zu Euripides’ bakkhai)
Dionysos ist Gott
des Anfangs
vor allem Anfang.
Was ist es, das
Anfänge besonders macht?
Erinnere Dich
an den allerersten Schluck Wein
aus einer richtig teuren Flasche.
Die allererste Seite
eines Krimis.
Anfang
einer Idee.
Das Kribbeln des Sichverliebens.
Anfänge haben ihre ganz eigene
Energie,
Moral,
Tonqualität,
Farbe.
Grünlichblaues Lila
taufrisch und kühl
fast schon durchsichtig,
wie eine reife Traube.
Klang der Andersartigkeit,
Dinge kurz vor dem Wandel,
sehen bereits anders aus.
Aufgeladen mit Überschwang
und kopfüber
abgeschossen
wie ein Blitz. Haltung
fantastischster Selbstsucht.
Er ist ein junger Gott.
Mythologisch kaum fassbar,
kaum angekommen
schon weitergezogen
bringt er an jenem neuem Ort alles durcheinander,
auf den Lippen, den Hauch eines anfänglichen Lächelns.
Die Griechen nannten ihn „fremd“,
und inszenierten sein Eindringen
in polis um polis
in Geschichten wie jener
in Euripides Bakkhai.
Ein gar erschreckendes Stück Theater.
Während er in Japan lehrte
wurde Stephen Hawking gebeten
nicht zu erwähnen, dass das Universum
einen Anfang habe
(und, daraus folgend, ein Ende),
da dies einen Einfluss haben würde, auf
die Börse.
Spekulationen beiseite,
wir alle brauchen eine Geschichte vor der Geschichte.
Laut Freud,
machen wir nichts, als diese zu wiederholen.
Anfänge sind besonders,
weil die meisten von ihnen keine sind.
Der neue Mensch, der man
mit diesem ersten Schluck Wein wird,
den gab es schon.
Sieh Dir Pentheus an,
wie er herumwirbelt in seinem Kleid,
so beglückt von seinem Mädchenkostüm,
dass er den Tränen nah ist.
Und wir sollen glauben,
dieses Bedürfnis wäre ein neues?
Warum hat er es, hat er das Kleid denn,
versteckt im hintersten Eck
seines Kleiderschranks?
Verkleidung ist auch nur Haut und Haar.
Sieh Dir Dionysos an,
zu früh gerupft
aus seiner Mutter Leib
und eingenäht
in den Schenkel des Zeus,
um neu geboren zu werden zu späterer Zeit.
Das Leben ist die Generalprobe
des Lebens.
Hier nun ein weitbekanntes Geheimnis
über diesen Dionysos:
trotz all der Legenden
über ihn als „neuen Gott“,
von den Griechen importiert aus dem Osten,
ist sein Name bereits zu finden
auf Linear-B-Schrifttafeln
aus dem zwölften Jahrhundert vor Christus.
Vorangehen
ist etwas, das ein Gott
ziemlich gut kann („Zeit“
ist für ihn reine Fiktion)
Sterbliche
hingegen nicht.
Sieh Dir die armen, leidenschaftlichen Damen an,
die diesem Gott huldigen,
die Bakkhai,
Zerstörerinnen von Vieh
und Einheimischen
und Pentheus, dem König.
Sie hatten eine Existenz vor dieser.
Der Hirte beschrieb sie
als friedlich in den Bergen weilend
„so ruhig wie die Knöpfe eines Hemdes.“
Dies ist die Welt vor Auftritt des Menschen.
Dann jedoch taucht die Mannschaft auf
und all die Gewalt nimmt ihren Anfang.
Was soll uns das sagen?
Der Schock des Neuen
bereitet sich seine eigene Enthüllung,
auf alte und brutale Weise.
Dionysos hingegen
erklärt und bereut
nichts. Er ist
froh,
wenn er Dich dazu bringt zu handeln,
trotz Deiner Pläne,
trotz Deiner Politik,
trotz Deiner Neurosen,
sogar zum Trotz Deiner dionysischen Theorie vom Selbst,
etwas tatsächlich schon sehr konkret dagewesenes,
die Sehnsucht,
vor der Sehnsucht,
der Vorgeschmack auf den Beginn des Wissens um das Nichtwissen.
Ist das Leben eine Bühne,
dann ist dies seine Darbietung.
Dionysos ab.
Aus dem Amerikanischen von Maria Milisavljević
Anne Carson gehört zu den wichtigsten Schriftstellerinnen Kanadas. In ihren grenzüberschreitenden Essays, Gedichten und Stücken lässt sie Texte, Figuren und Stimmen aus so unterschiedlichen Epochen wie der Antike, des Mittelalters und unserer Gegenwart aufeinandertreffen. Zuletzt erschien auf Deutsch Rot im S. Fischer Verlag. Das Schauspiel Hannover wird Teile ihrer Übertragung von Euripides’ „Bakchen“ unter dem Titel „Dogs of Madness“ am 29.04.2021 präsentieren. „Dogs of Madness“ ist der zweite Teil des Theaterfilms „3 Poems – 3 Gedichte“, einer Koproduktion mit dem NNT Groningen.