John von Düffel

 

Prof. Dr. Jochen Streul, Risikoforscher und langjähriges Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU), im Gespräch mit John von Düffel über Risikotypen, Schadenswahrscheinlichkeiten und Schicksal.*

 

Herr Professor Streul, in Ihrer aktiven Zeit als risikopolitscher Berater der Bundesregierung haben Sie bereits 1999 in Bonn eine wegweisende Risikotypologie mitentwickelt. Dabei beschreiben Sie Modelle von verschiedenen Bedrohungen für die Menschheit – mit klangvollen Namen: Pandora für den Fall einer irreversiblen Einwirkung von Stoffen auf das biologische Leben durch beispielsweise Umweltgifte oder Gentechnik; Hydra bei einer Mehrdeutigkeit und Uneinigkeit über Ursache und Schaden wie etwa beim Elektrosmog; oder Kassandra bei einer großen zeitlichen Spanne zwischen Ursache und Schadensfall, siehe Klimawandel, um nur einige zu nennen. Wie beurteilen Sie die Gefahrenlage heute?

 

Ich hoffe, dass wir in diesem Gespräch nicht nur über die Pandemie reden, aber eines hat Corona zumindest deutlich gemacht: Globale Risikopolitik ist heute nötiger denn je. Die Politik muss sich auf unterschiedliche Risikotypen einstellen, von denen wir im Wissenschaftlichen Beirat seinerzeit einige herausgearbeitet haben, übrigens ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Deswegen plädiere ich auch weiterhin für die Gründung eines Rats zur Bewertung globaler Risiken. Der WHO sollten wir das Feld nicht überlassen, wenn wir den Ereignissen nicht chronisch hinterherlaufen wollen.

 

Wozu überhaupt? Was nützen sie im Ernstfall?

 

Das kommt darauf an, was Sie unter „Ernstfall“ verstehen. Den Weltuntergang? Dann nützt auch die beste Typologie nichts. Doch aus Sicht der Risikoforschung wäre das nur das Schadensereignis und statistisch wie politisch nicht der Fokus. Es geht mehr um Gefahren als um die Katastrophen an sich. Und diese Gefahren sind vielfältig und gleichzeitig. Der Ernstfall ist jetzt.

 

Was können wir also von Ihren Modellen erhoffen?

 

Ein besseres Verständnis für den Gefahrenkontext, in dem wir uns befinden, und den statistischen Risikoverlauf. Das ist deshalb so wichtig, weil wir unserer eigenen Gefahrenwahrnehmung nicht trauen können, weder als Einzelne noch als Gesellschaft und auch nicht auf der Ebene der politischen Entscheider. Nehmen Sie das Modell Damokles, das für eine Kombination von geringer Wahrscheinlichkeit und hohem Schadensausmaß steht wie der Bruch eines Staudammes oder der Supergau eines Atomkraftwerks. Nach dem Mythos schwebte das Damoklesschwert an einem einzigen seidenen Faden über dem Kopf desjenigen, der an einer reich gedeckten Tafel saß wie ein König und scheinbar die Macht hatte, vor allem aber Todesangst. Interessanterweise transformiert unsere Gefahrenwahrnehmung diese lebensbedrohliche Situation mit zunehmender Dauer in Normalität. Wenn der Ernstfall länger nicht eintritt und der seidene Faden hält, dann gewöhnen wir uns an Gefahren und blenden das Risiko aus. Unser Bewusstsein folgt dem Muster: Was in der Vergangenheit gutgegangen ist, das wird auch in der Zukunft gutgehen. Doch gerade das ist aus statistischer Sicht ein Irrtum.

 

Weil ...?

 

Der Faden wird dünner und reißt, das Fass füllt sich mit jedem Tropfen und läuft irgendwann über. Soll heißen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Staudamm bricht oder ein AKW Strahlung freisetzt, steigt mit der Zeit, während unsere Gefahrenwahrnehmung in die Unterschwelligkeit absinkt. Das Niveau unserer Denkmuster liegt, was das betrifft, nicht weit über dem eines Hausschweins. Die Hand, die es Tag für Tag füttert, ist eben nicht ungefährlich. Sie wird irgendwann mit dem Bolzenschussgerät kommen und – zack!

 

Angesichts unserer unzuverlässigen Gefahrenwahrnehmung: Was ist Ihrer Einschätzung nach das größte Problem?

 

Wissenschaftlich formuliert: das Monothematische. Wir lassen uns von Ängsten leiten und starren meist auf eine einzige Bedrohung wie das Kaninchen auf die Schlange. In der Hinsicht gleichen wir einem Spaziergänger, der bei Gewitter immerzu in den Himmel guckt und vom LKW überfahren wird. Mit dieser emotional gesteuerten Gefahrenwahrnehmung hat die Menschheit keine Chance zu überleben, glauben Sie mir.

 

Sehen Sie das Monothematische auch als ein Problem der Coronakrise?

 

Nicht als ein Problem, sondern als das Hauptproblem! Ich fürchte, wenn wir in ein paar Jahren auf diese Krise zurückschauen, werden wir feststellen – falls wir das noch können –, dass wir vor lauter Fixierung auf diese eine Gefahr eine ganze Reihe von viel größeren und grundlegenderen Gefahren außer Acht gelassen haben.

 

Zum Beispiel den Klimawandel und die daraus resultierenden Extremwetterlagen?

 

Über den Klimawandel wurde auch viel geredet, und er war ein Monothema in den Jahren zwischen Flüchtlingskrise und Corona. Doch medial wurde er behandelt wie ein Sommerloch: eine Art Dauerproblem, über das man diskutiert, wenn es gerade nichts Dringenderes gibt, ein bisschen wie das Wetter zwischen Tagesschau und Tatort. Das hat mit dem speziellen Risikotypus zu tun. Wenn zwischen der Ursache, sprich dem Ausstoß von Treibhausgasen, und der Wirkung – Erderwärmung, Extremwetter, Naturkatastrophen – zu viel Zeit liegt, entkoppelt sich unser Handeln von seinen Folgen, allerdings nur in unserer Wahrnehmung. Die Tatsache, dass die Wirkung mit großer Verzögerung auftritt, heißt auch, dass wir sie ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr aufhalten können, egal, was wir tun. Im Beirat haben wir das Phänomen aus diesem Grund nach der berühmten Seherin Kassandra genannt, die weit vorausblickt, ohne dass ihr jemand glaubt.

 

An Corona hat zuerst auch niemand geglaubt, und jetzt ...

 

Über Corona wird und wurde viel zu viel geredet, wie gesagt. Und ich möchte diesem Moloch an Monothematik keinen Satz mehr als nötig in den Rachen schmeißen. Aber auch das hat mit dem Risikotypus der Krankheit zu tun. Der Kranke ist auf seine Krankheit fixiert, der Gesunde, der die ganze Zeit nur noch von Krankheit hört, wird zum Hypochonder. Beide sind von diesem einen Thema wie besessen, als gäbe es keine anderen Probleme auf der Welt.

 

Noch eine letzte Frage dazu: In welche Ihrer Risikokategorien ord­nen Sie die Pandemie ein?

 

Eindeutig Pandora. Die Büchse der Pandora wurde aufgemacht, der Erreger ist in der Welt und kann nicht wieder eingefangen werden. Uns bleibt nichts anderes übrig als mit dem Übel zu leben oder zu sterben. Womit ich übrigens nicht gesagt haben will, dass das Virus aus irgendeinem Labor stammt und herausgelassen wurde. Die Büchse der Pandora geht auch auf, wenn für die gesamte Tierwelt alle anderen Lebensräume zugemacht werden.

 

Was läuft also falsch?

 

Das Verheerende am Monothema ist nicht nur, dass es alle anderen Probleme aus unserem Bewusstsein verdrängt. Es überragt auch den Kontext und steht scheinbar einzigartig da. Als Referenz zur Pandemie heute wird allenfalls die Spanische Grippe angeführt – das ist mehr als hundert Jahre her – oder die Pest. Aber der Kontext ist nicht hundertjährig, sondern jetzt. 2020 war das Jahr der bren­nenden Wälder, angefangen von den Buschbränden in Australien über die Brandrodungen im Regenwald, die Flächenbrände in Sibirien und die Feuer in Kalifornien. Deutschland ist in 2020, was das angeht, glimpflich davongekommen, aber es hat das Symbolbild dafür geliefert: das Silvesterfeuer im Krefelder Zoo. Die in ihrem Käfig am lebendigen Leib verbrennenden Affen stehen aus meiner Sicht deutlicher als alles andere für unser gestörtes Naturverhältnis. Corona ist nur ein Symptom dieser Störung, so wie die verlorenen OP-Masken, die man neuerdings immer häufiger bei Waldspaziergängen findet und die noch nicht verrottet sein werden, wenn kein Mensch mehr von Corona redet. Kurzum, wir nennen etwas „Pandemie“ und meinen, wir hätten damit einen Zusammenhang hergestellt. Aber über den Gesamtkontext der Naturzerstörung reden wir nicht. Wir sprechen nicht aus, dass wir den Planeten so schlecht behandelt haben, dass unsere zerstörerischen Methoden auf uns zurückschlagen und die Zerstörung uns zerstört. Aus meiner Sicht – Sie kennen meine Vorliebe für die alten Griechen – tritt das Verhältnis von Mensch und Natur mit den Temperaturanstiegen der letzten Jahre ins Stadium der Nemesis ein. Wir sind dem Planeten zu viel geworden. Die Erde will uns loswerden, zumindest in unserer bisherigen Lebensform und Lebensweise. Die Krankheit im ursächlichen Sinne sind wir.

 

Jetzt reden Sie über Corona ...

 

Über den Kontext von Corona! Auf einer politisch-operativen Ebene haben die Akteure und ihre Berater den Kampf für die Gesundheit und das Gesundheitssystem ausgerufen. Auf einer übergeordneten Ebene, die den Kontext in Betracht zieht, verteidigen wir die Krankheit – und zwar um jeden finanziellen, gesellschaftlichen, kulturellen und zwischenmenschlichen Preis. Wir „verteidigen“ eine ungesunde, ausbeuterische und destruktive Lebensweise. Mit anderen Worten: Wir sind die Angreifer. Und wir bringen gerade einen gigantischen medizinisch-pharmazeutischen Apparat in Stellung, um 2021 zum Jahr milliardenfacher Impfungen zu machen, einer globalen Injektion mit dem Kriegsziel, am Ende so weitermachen zu können wie bisher.

 

Um auch das Positive zu sehen: Erleben wir nicht gerade eine engere Zusammenarbeit zwischen Politik, Forschung und Wissenschaft als je zuvor in Ihrer aktiven Zeit? Das müsste Sie doch eigentlich freuen ...

 

Politik und Wissenschaft sind enger zusammengerückt, ja, das ist wahr, aber leider auch nur zur Hälfte. Es gibt eine wissenschaftliche Detailexpertise, die bei den Beratungen der Bundesregierung eine entscheidungsrelevante Rolle spielt. Aber es fehlt jedes größere Bild, eine Gesamtperspektive. Leute, die nie ein Labor von innen gesehen haben, reden von Covid-19, mRNA und B 1.1.7 wie virologische Laiendarsteller, aber eine übergeordnete Reflexion fehlt völlig. Auf der nächsthöheren Ebene wissen wir überhaupt nicht, was wir tun. Das ist blinder Aktionismus, genauer gesagt, Re-Aktionismus im Umgang mit Zahlen, die nur einen Bruchteil des Geschehens abbilden und die wir nur zu einem Viertel verstehen. Solange wir nicht auch eine größere Rahmendiskussion führen, handeln wir weder politisch noch wissenschaftlich vernünftig, sondern wie Fachidioten.

 

Damit subsumieren Sie unser Verhalten unter Ihr Gefahrenmodell Pythia, benannt nach der weissagenden Priesterin des Orakels von Delphi, die im Trancezustand und mit Rätselsprüchen die Zukunft verkündet?

 

Pythia steht für die Kombination von unbekannter Wahrscheinlichkeit und unbekanntem Schadensausmaß, also dafür, dass wir nach der Prognose so klug sind wie vorher und im Grunde gar nichts wissen. Diese Ungewissheit ist bedauerlicherweise der augenblickliche Weltzustand: eine Gefahrenlage, die sich jeder Kalkulation entzieht. Ich habe als Versicherungsmathematiker angefangen, im Bereich Risikokalkulation und Schadensstatistik. Das war damals ein gut bezahlter Job. Heute ist das sinnlos. Selbst wenn es möglich wäre, alles auszurechnen unter Einbeziehung sämtlicher Faktoren und Unbekannten, wir könnten mit dem Ergebnis nichts anfangen. Die Welt ist nicht mehr versicherbar. Schauen Sie sich die jüngsten Zahlen der Versicherungswirtschaft an, insbesondere der Rückversicherer. Ein seriöses, Sicherheiten und Auffangnetze schaffendes Haftungs- und Gewährleistungsgeschäft existiert nicht mehr. Wir spielen nur noch Katastrophen-Lotto.

 

Das klingt nicht gerade optimistisch ...

 

Doch, doch. Wir sind zum Optimismus verdammt. Als Letztes in der Büchse der Pandora bleibt die Hoffnung.

 

Aber haben wir noch reelle Handlungsoptionen? Was können wir tun?

 

Mein Vater, wissen Sie, wurde in den letzten Kriegsmonaten – trotz seiner achtzigprozentigen Sehbehinderung – noch zwangsrekrutiert und an die Ostfront geschickt, an eine Verteidigungslinie in der Ukraine. Das war eine sehr reelle Gefahrenlage, um nicht zu sagen, ein Todesurteil, und vielleicht kommt mein Interesse für Risikoberechnung daher. Jedenfalls werde ich nie vergessen, wie ich – viele Jahre später – während meiner Doktorarbeit über lauter Zahlen saß und er zu mir ins Zimmer kam. Wir redeten über Wahrscheinlichkeitsrechnung und landeten bei seiner Zeit als Halbblinder im Schützengraben, dessen Überlebenschancen gegen null gingen. Manchmal, sagte er, hätten nur Millimeter gefehlt. Doch nachdem so viele Kameraden gefallen seien, links und rechts neben ihm, Soldaten, die viel besser ausgebildet waren und das Mündungsfeuer sehen konnten, habe sich in ihm ein Gefühl von Schicksal breitgemacht, eine Art schicksalhafte Gewissheit, dass es irgendwo da draußen eine Kugel gab, auf der sein Name stand und die darauf wartete, abgefeuert zu werden, um ihn zu treffen und zu töten, egal, ob er in Deckung ging oder voranlief, egal, was er tat, unabhängig von jeder Wahrscheinlichkeit und Statistik.

 

Und was hat er getan?

 

Er hat sich geduckt und gerechnet.

 

Herr Professor Streul, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

* Anmerkung des Autors: Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass dieses Gespräch frei erfunden ist und so nie stattgefunden hat.

 

John von Düffel arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seit 1998 veröffentlicht er Romane und Erzählungen, zuletzt "Das Klassenbuch". Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem aspekte-Literaturpreis und dem Nicolas-Born-Preis.

 

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