#Interview

Ein Gespräch mit  Regisseur Frank Hilbrich und Valtteri Rauhalammi über Die Zauberflöte und ihre Geheimnisse

 

Die Zauberflöte ist das Repertoirestück an deutschen Opernhäusern.
Vor welche Herausforderungen stellt uns dieses Werk trotz aller Bekannt- und vermeintlicher Vertrautheit? Was erwartest du als Musiker von der Zauberflöte?

 

Valtteri Rauhalammi: Die Zauberflöte ist ein äußerst vielschichtiges Werk, was die Mischung der musikalischen Stile betrifft. Die stilistischen Kontraste sind eine Eigenschaft vieler Werke Mozarts, und in der Zauberflöte ist diese Vielfalt extrem: Wir finden Ritualmusik, Märsche, innige Arien, dramatische Theatermusik, einfache Strophenlieder und altmodisch klingende kontrapunktische Sätze hintereinander, was auf Mozarts Zeitgenoss:innen sehr gewagt gewirkt haben muss. Wenn ich die Zauberflöte höre oder musiziere, erwarte ich, dass diese Kontraste hörbar werden. 

 

Kontraste prägen auch die Dramaturgie der Zauberflöte: Allenthalben meint man Widersprüchliches, Uneinheitliches zu entdecken. Andererseits weiß man, dass Mozart und Schikaneder zwei Männer waren, die ganz genau wussten, was sie wollten. Ist die Zauberflöte nun eher ein schweres oder ein leichtes Stück? 

 

Frank Hilbrich: Diese Frage stellt sich für mich so eigentlich nicht. Mit den Kategorien „schwer“ und „leicht“ kann man der Zauberflöte sicherlich nicht gerecht werden. Eher ist ihre große Qualität ja, dass sie beides gleichermaßen ist. Diese Oper behandelt sehr große Themen und Fragen, wie das Erwachsenwerden oder die Todesangst. In anderen Momenten wirkt sie fast naiv, kommt mit einer spielerischen Leichtigkeit daher, die entzückend, aber auch unendlich albern ist. Diese Gegensätze machen das Stück aus. Und sie haben vermutlich sehr viel mit Mozart selbst als Mensch zu tun. Man spürt das, wenn man seine Briefe liest. Ich persönlich bin mir nicht so sicher, ob Mozart und Schikaneder wirklich wussten, was sie wollten. Sie wussten vermutlich, was sie machen – aber was genau sie inhaltlich beabsichtigt haben, darüber gibt es keine Zeugnisse. Seit der Uraufführung ist dies ein Rätsel. Sehr viel ist über dieses Stück geschrieben und behauptet worden – manches davon ungeheuer interessant und schlüssig. Aber ich fürchte, dass es eine letzte Wahrheit über die Zauberflöte nicht gibt. 

 

Sehr oft wird dafür das Libretto verantwortlich gemacht. 

 

Hilbrich: Auch hier muss ich gleich widersprechen. Natürlich ist das Libretto von Schikaneder nicht von der Qualität der Libretti Lorenzo Da Pontes zu früheren Mozart-Opern. Es hat auch keine eigentliche literarische Qualität. Aber es ist ein sehr, sehr gut geschriebener und auf der Bühne hervorragend funktionierender Theatertext voll genauer Personenzeichnungen und Figuren-Psychologien. Allein zum Beispiel die erste Begegnung zwischen Papageno und Pamina: das ist eine großartige Beschreibung der ersten Annäherung einer jungen Frau an einen jungen Mann, ein Nachzeichnen der allerersten erotischen Erfahrungen. Das ist Psychologie pur. Wie überhaupt die gesamte Zauberflöte für mich ein durch und durch psychologisches Stück ist. 

 

Gilt das auch für die Musik? Oder folgt diese mehr formalen Strukturen? 

 

Rauhalammi: Natürlich gibt es musikalische Nummern, die große Symmetrie haben – zum Beispiel die Arien Sarastros oder die rituelle Musik des zweiten Aktes. Aber wenn Mozart „Theatermusik pur“ schreibt für die Momente des Gefühls, dann ist es wahrhaft zeitlose Musik: Sie ist psychologisch tief und gleichzeitig unmittelbar nachvollziehbar, sie ist ohne Verschlüsselungen. Paminas „Ach, ich fühl’s“ ist ein solches Beispiel: Die Musik ist sehr fein gestaltet, mit einem Herzschlag unterlegt – so empfinde ich die Begleitung –, jede kleinste Gefühlswallung ist für den:die Musiker:in nachvollziehbar. Vielleicht gibt es wegen dieser Unmittelbarkeit und der feinen Mittel kaum eine:n spätere:n Opernkomponist:in, der:die Mozarts Kunst nicht bewundert hätte. Dazu haben Schikaneder und Mozart den Sprechtext und die Musik hervorragend aufeinander abgestimmt: Die Szenen führen immer hin zu der Musik, und die Musik setzt dann ein, wenn es auszudrücken gilt, was mit Worten nicht mehr zu sagen ist. 

 

Schikaneder schrieb die Rolle des Papageno für sich selbst. Diese Figur hat mehr Arien und Szenen als alle anderen. Ist Papageno die eigentliche Hauptfigur? 

 

Hilbrich: Nein, das glaube ich nicht. Es gibt zahlreiche Hauptfiguren. Die wichtigste aber ist vielleicht doch die Titelfigur: die Zauberflöte, also ein Musikinstrument. Ich fand es in der Vorbereitung wichtig zu erkennen, dass diese Oper die Rolle von Musik selbst thematisiert. Die Zauberflöte und das Glockenspiel retten Tamino, Pamina und Papageno aus allen Gefahren, sie leiten die entscheidenden Wendepunkte in der Handlung ein. Musik als Rettung, als geistige Nahrung, als Überlebensmittel. Vielleicht ist dies wirklich das versteckte Hauptthema der Oper. 

 

Inmitten einer komplexen Handlung mit archetypischen Figuren – wirkt da ein Instrument als Hauptfigur nicht reichlich profan? 

 

Rauhalammi: So komplex die Handlung ist, so vielschichtig die unterschiedlichen Figuren – die Flöte spielt eine ganz zentrale Rolle, denn immer kommt die Rettung durch Musik: Tamino spielt die Flöte oder Papageno das Glockenspiel, die Instrumente vertreiben die Sklaven oder sie spenden Trost. Sie bewahren die Figuren sogar vor dem Selbstmord. Die zentrale Prüfung des Stückes, die Feuer- und Wasserprobe, bestehen Tamino und Pamina nur dank der Flötenklänge. Als Musiker freut mich natürlich sehr, dass Frank diese elementare Bedeutung der Musik in seiner Inszenierung besonders hervorhebt. 

 

Diese Oper wurde und wird von vielen Seiten vereinnahmt. Sie markiert den Anfang der großen bürgerlichen Musiktheaterkultur in Deutschland, die Freimaurer sehen in ihr eine geheimnisvolle Darstellung ihrer Prinzipien, andere sehen in ihr den Kampf zwischen Matriarchat und Patriarchat. Dabei wissen wir, dass selbst Besucher:innen der Uraufführungsproduktion keine eindeutige Botschaft in dem Stück erkennen konnten. 

 

Hilbrich: Genau dieser Punkt hat uns in der Vorbereitung besonders interessiert: Obwohl der Inhalt dieser Oper schwer zu fassen ist und ihre Albernheiten ganz gegen die Strenge zum Beispiel des bürgerlichen Publikums im 19. Jahrhundert stehen, hat sie von Anfang an die Massen angezogen und ihnen offenbar etwas Besonderes gegeben. Es muss als eine seelische Wohltat empfunden worden sein, die Zauberflöte zu erleben. Das heißt, dass die Oper selbst für diese Menschen die gleiche Funktion übernommen hat wie die Instrumente in der Oper für Tamino und Pamina – Musik als Befreiung, als Ort des eigentlichen Menschseins, der Bewahrung von kindlichem Optimismus. Schillers Diktum, der Mensch sei nur dort Mensch, wo er spielt, könnte man erweitern: Er ist nur dort Mensch, wo er musiziert. 

 

Ein Plädoyer also für musikalische Früherziehung?

 

Hilbrich: Nein, aber ein Plädoyer dafür, seelische Freiheit niemals aufzugeben. Musik kann dabei helfen, sie steht hier als Zeichen. Die Oper erzählt sehr genau das Erwachsenwerden von jungen Menschen. Tamino und Pamina, auch Papageno, erscheinen zu Beginn als vielversprechende, brillante junge Leute – noch voller Hoffnungen, natürlich auch Zweifel. Am Ende der Oper sagen Tamino und Pamina gar nichts mehr, sind verstummt. Man hat das Gefühl, dass sie durch die Prüfungen um ihren emotionalen Reichtum gebracht, regelrecht korrumpiert werden. Sarastro und seine Leute bringen die jungen Menschen „auf Linie“, bis sie so funktionieren, wie sein zwar geistig reiches, aber sinnlich vertrocknetes Volk. Das würden Tamino, Pamina und Papageno alles nicht aushalten, wenn sie nicht die Musik hätten. Witzigerweise vergessen sie das immer wieder. Mehrmals müssen die drei Knaben auf die Bühne kommen und daran erinnern, dass sie schon wieder die Musikinstrumente irgendwo liegen gelassen haben. Die Verknüpfung von Kindern mit Musik ist in dieser Oper sehr auffällig. Deswegen spielen die Kinder auf der Bühne bei uns eine grundlegende Rolle: Sie eröffnen den Abend mit der Ouvertüre und mischen am Ende Sarastros scheintote Welt noch einmal kräftig auf. 

 

Wenn es vor allem um das Erwachsenwerden von Tamino und Pamina geht: Welche Rolle nehmen in diesem Zusammenhang die Königin der Nacht und Sarastro ein? Man unterstellt ihnen ja oft, dass sie im zweiten Akt ganz anders erscheinen als im ersten, dass es da Ungereimtheiten und regelrecht einen Bruch in ihren Persönlichkeiten gibt. 

 

Hilbrich: Das kann ich so eigentlich nicht nachvollziehen. Für mich erscheinen sie vor allem als verkörperter Gegensatz von Rationalität und Irrationalität. Und warum soll es da nicht möglich sein, Brüche in sich zu tragen und auch zu leben? Ich erlebe die Königin und Sarastro immer als die Erwachsenen in dieser Oper – und leider nicht als besonders gute Vorbilder für Tamino und Pamina. Die Königin gibt sich mit voller Wucht ihren Emotionen hin, kontrolliert sich nicht, sondern handelt stets impulsiv und ungestüm. Das reibt sie auf, daran geht sie letztendlich zugrunde. Sarastro ist das Gegenteil: Beherrschung, Form, Strenge bis hin zur Selbstkasteiung. In seinen Arien zeigt er den Geist der Vernunft, aber in den Dialogen gibt es Stellen, die zeigen, wie zornig, wie sehr er im Unreinen mit der Welt und sich selbst ist. 

 

Spiegelt sich das auch in der Musik? 

 

Rauhalammi: Die erste Arie der Königin der Nacht ist wie ein Feuerwerk voll von Virtuosität, Emotion und dramatischen Mitteln: Sie tritt auf mit einem feierlichen Vorspiel, sie spricht am Anfang und am Ende Tamino direkt an und erreicht ihn – und das Publikum auch – durch sehr gekonnte Wechsel zwischen Erhabenheit und Mitleid, durch funkensprühende Virtuosität und echte Traurigkeit. Diese Frau ist einfach spannend! In der zweiten Arie ist sie zwar noch immer virtuos, aber nicht mehr so vielseitig in ihren Emotionen und Mitteln, um ihre Zuhörerin Pamina zu erreichen. Sie ist stärker gebrochen als im ersten Akt und viel weniger geschickt im Umgang mit ihrer Tochter: Ihre Wut ist so stark, dass die Musik zu einer gleichmäßigen Einheit gefroren zu sein scheint. Die Entwicklung der beiden Arien Sarastros sieht anders aus: Die erste ist streng symmetrisch, alle Phrasen sind absolut gleich lang, die wenigen überraschenden Wendungen werden mit einer ausgleichenden Gegenwendung geglättet. Die zweite Arie ist dafür von Anfang an freier, vielfältiger an Ideen, hat eine abwechslungsreiche Begleitung. Hier nimmt Sarastro seine Zuhörerin Pamina mit geschickten Pausen und Wiederholungen ganz anders mit als die rachsüchtige Königin kurz zuvor. Mozart war ein Meister der Symmetrie und des Brechens von Symmetrie, und ich finde es oft nicht eindeutig, wo ein Gedanke endet und wo ein neuer beginnt. Und gerade diese Mehrdeutigkeit macht meiner Meinung nach die Musik so spannend und die Arien so wirkungsvoll.  

 

Der Gegensatz von Rationalität und Irrationalität ist ein Hauptmotiv der Oper. Was bedeutet das für die Darstellung auf der Bühne? 

 

Hilbrich: Es ist auffällig, wie oft im Text gefragt wird, ob das Geschehen denn „Wirklichkeit“ sei. Viel ist von Nacht und Dunkelheit die Rede. Man sehnt sich nach Klarheit und Wahrheit, scheint diese aber kaum zu finden, bis erst am Schluss „die Strahlen der Sonne“ alles erleuchten. Ob das dann ein schönes Ende ist, bleibt offen. Die vielen Zweifel, die zum Beispiel auch in einer Figur wie der Königin der Nacht angelegt sind, legen nahe, dass es um Traumwelten, also um seelische Realität geht. Rationalität und Irrationalität existieren in jedem Menschen – Träume sind Abbild davon. Das Bühnenbild von Stefan Heyne hält sehr viele optische Eindrücke bereit, die zumeist über Licht entstehen. Spiegel- und Zerrbilder spielen eine Rolle. Dadurch können wir in der Schwebe lassen, was greifbar-realistisch und was vielleicht nur ein Traum ist. Die Ebenen verschwimmen miteinander, auch in den Kostümen von Julia Müer. Erwachsen zu werden, anderen Menschen zu begegnen, von ihnen geprägt oder auch wieder verlassen zu werden – das sind innere Vorgänge, die mit „rational“ oder „irrational“ nicht zu beschreiben sind. 

Rauhalammi: Die Zauberflöte hat auch ihre düsteren Momente. Und sie wirken umso mehr durch die Momente der Lebendigkeit um sie herum. 

Hilbrich: Ich denke, dass Mozarts Blick auf den Tod ein wichtiger Aspekt der Zauberflöte ist. Immer wieder wird von Todesgefahr gesprochen, werden Tamino und Papageno gefragt, ob sie bereit seien, den Tod „nicht zu scheuen“. Es gibt zwei Selbstmordversuche in dieser Oper. Die Allgegenwart des Tods in Mozarts letzten Werken finde ich sehr spannend. Es ist ein zutiefst vom Katholizismus geprägter Blick: Der Tod umarmt das Leben – das Leben den Tod. Dies versuchen wir in der Feuer- und Wasserprobe erfahrbar zu machen und konfrontieren Tamino und Pamina mit dem Blick auf ihre Vergänglichkeit. Die letzte Prüfung zum Erwachsenwerden ist also gewissermaßen die Bereitschaft, den eigenen Tod zu akzeptieren. Musikalisch hört man in dieser größten Todesgefahr bei Mozart kein Feuer, kein Wasser. Man hört nur das Spiel der Zauberflöte, ein beinahe kindlich anmutendes Musizieren … 

Rauhalammi: ... das fast wie eine Improvisation der Flöte wirkt – die freieste Form des Musizierens. 

Hilbrich: Wir hören also nur das, worauf Tamino und Pamina sich konzentrieren, was sie erfüllt und schützt: die Musik. So irrational diese ist – sie ist ja nur ein Klang und völlig ungreifbar –, so sehr wird sie zur Bewahrerin der Seele. Vielleicht geht es vor allem darum in der Zauberflöte: wie man sich seinen Seelenschatz bewahrt und den Glauben an das Leben nicht verliert

 

Das Interview führte Christopher Baumann in der Spielzeit 2017/18 für das Programmheft zu Die Zauberflöte.

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