Nastasja Penzar

 

„Die Geburt ist nicht der Anfang.“

 

Der vernarbte Körper der Frau, die mir und Cristóbal gegenübersitzt, gibt den ruckartigen Bewegungen des Busses nach wie eine Qualle den Wellen. Ihr Kopf liegt auf der Brust zum Sekunden­schlaf, bis eine Bremsung oder das Klingeln eines Handys sie auf­weckt, sie kurz ein Auge öffnet, uns halb ansieht und wieder in sich einsinkt. Sie schläft jeden Tag hier in den seit Langem ausrangier­ten Schulbussen aus Nordamerika, in denen die Abstände zwischen den Sitzbänken für US-amerikanische Kinderbeine bemessen sind.

 

Zwischen mir und meinem Vater war Holz. Ich stand vor ihm und dem Sarg, der die Farbe seiner Haut hatte. Die Orgel spielte eine Melodie von früher und bestätigte meine Vermutung, dass diese Art von Musik für traurige Momente gedacht ist. Ich hatte als Kind die Texte der Kirchenlieder nie verstanden in dem hallenden Chorgeschwülst der Stimmen. Als ich anfing, in den Gesangsbüchern zu lesen, musste ich meinen Vater nach fremd klingenden Wörtern fragen: „ergötze“? „frohlocke“? Er antwortete knapp: „Ich freue mich.“ Ich glaubte ihm nicht. Ich dachte, er wolle mir etwas ver­heimlichen wegen meines Alters, ich wusste, dass zu dieser Art von Musik kein „Ich freue mich“ passen konnte.

 

Der Bus ist voll, und die Frau schnarcht. Eine Ameise sucht sich nervös ihren Weg über meinen schwitzenden Arm nach oben. Ne­ben uns sind Abhänge, unter uns der tiefste Teil der Stadt. Häuser und Hütten reihen sich dicht aneinander und nehmen sich gegen­seitig die Sicht. Der Bus hält auf dem Viadukt, die Ameise kommt auf meinem Ellenbogen zum Stehen und reibt ihre Fühler, als würde sie auf etwas warten. Die Haltestelle besteht bloß aus einer Reihe von Menschen. Sie stehen dicht gedrängt an dem Geländer der Brücke, das ihnen höchstens bis zu den Kniekehlen reicht. Ihre Kleidung und ihre Haare pressen sich im Wind gegen ihre Körper.

 

Mein Vater hatte Doñas Namen, ihre Telefonnummer und Adresse auf ein abgerissenes Stück Papier geschrieben. „Cuidado. “ Vor Krankheit zitternd legte er den Zettel in meine Hand und schloss meine Finger darum. Ein Vermächtnis. Ich hatte verstanden. Ich lernte die Namen, die Nummer und die Adresse auswendig und hob ihn trotzdem ein Jahr lang regelmäßig aus der Schublade, um sicher zu sein.

 

Es sind drei kleine Männer, dünn und dunkel. Den mit dem einge­fallenen Gesicht bemerke ich zuerst. Er setzt sich irgendwo in die Mitte des Busses, der Zweite setzt sich nicht, schiebt die Men­schen im Durchgang beiseite auf seinem Weg nach hinten, vorbei an uns, zielstrebig.

 

Cris wird unruhig, als wittere er etwas. Der Dritte ist vorne ein­gestiegen, beim Fahrer und seinem ayudante, seinem Helfer. Ich strenge mich an, sie zu ignorieren, wie ich es bei allen in diesen Bussen mache, bei dem Mann, der uns Kaugummis verkaufen woll­te, der bunten Frau mit Baby im Tuch und Spielwaren im Angebot und beim Bußprediger, der die Gunst der Nachmittagsmüdigkeit im rostigen Bus nutzte, um ganz vorn im Bus schwankend das Heil zu predigen. Hier und da bekam er ein „Amen“ als Echo aus den hinteren Reihen. Ich schwieg.

 

Gefährlich. Nicht so gefährlich. Normal.

 

Bei der Beerdigung meines Vaters klopften mir die Hände der Fremden ihr Beileid auf den Rücken. Ich nickte für jeden drei Mal, so wie mein Vater es mir beigebracht hatte. Sie redeten auf mich ein, ihre Gesichter verzerrten sich dabei, ich verstand sie nicht mehr. Der Ton in meinem Kopf hatte sie schon lange zum Schweigen gebracht. Ich vergrub mich darin, sank darin ein, keine Stimme der höflich Trauernden drang so tief, dass ich sie hätte hören müssen. „Genieß es doch, stell dir vor, es ist ein Walgesang, Yona“, mein Vater hatte gezwinkert, mehr für sich als für mich. Ich hatte es ihm gegönnt.

 

Cris neben mir schnaubt einmal kurz und leitet damit die Wendeein. Die Qualle wird wach. Sie starrt. Der ganz vorn ist lauter, als sein Körper hätte vermuten lassen. „Asalto!“, schreit er, aber der Bus bleibt nicht stehen, nur die Passagiere werden plötzlich andächtig wie beim stimmlosen Mitbeten liturgisch vorgeschriebener Abläufe. So wie damals, wenn ich nur die eine alte, gebrochene Stimme aus den Lautsprechern hörte und ahnte, dass alle, die mit mir in dem Gewölbe knieten, simultan dieselben Worte an denselben Gott richteten, während ich sie dabei beobachtete.

 

»Alles Scheinheilige“, hatte mein Vater gesagt und mich trotzdem jeden Sonntag in unbequeme Schuhe und einen Rock gesteckt und mit Eiscreme zum einstündigen Stillhalten bestochen. „Du kommst nicht drum herum, Yona.“ Er hatte geschmunzelt über meinen erneuten Versuch, mich über simulierte Bauchschmerzen vor der Messe zu drücken. „Am Ende, sogar dann, wenn sie dich ins Meer schmeißen, mija“, nur er nannte mich so, mija, meine Tochter. Es war das einzige Wort, das ich ausschließlich in der Tonlage seiner Stimme kannte. „Selbst dann kannst du nicht einfach davonschwimmen, dann kommt ein großer Fisch“, er klappte seine Arme auf, ich rannte weg in meinen Sonntagsschuhen, er lachte, jaulte kurz, machte Walgeräusche. „Am Ende“, er schnappte mich, hob mich hoch und trug mich ins Auto, „spuckt dich der Wal genau da aus, wo du hingehörst. Du kannst dein Ziel gar nicht verfehlen, Yona, das ist ja das Gute.“ Wir lachten während der Fahrt über seine Walimitationen, so lange, dass uns noch während der Messe die Wangen wehtaten.

 

Der mit dem eingefallenen Gesicht in der Mitte des Busses stellt sich in den Gang, hebt den Arm mit der Waffe, wartet auf Auf­merksamkeit, auf seinen Einsatz. Er dreht sich nach vorn, zum Ersten, dem Dirigenten, der dem ayudante gerade fast höflich seine Tasche hinhält, damit er sie mit dem Geld des Fahrers füllen kann. Er nickt dem Eingefallenen zu, Cristóbal stößt mich leicht an, der Eingefallene senkt seinen Arm auf die Höhe unserer Köpfe. Sein Körper schwankt mit den Bewegungen des Busses, seine Pistole dringt ein in unsere andächtige Stille. Dann ist die Busge­meinde dran, sie reichen ihm Wertgegenstände, er nickt dazu, als würde er sich bedanken. Cris’ Hand an meinem Bein kontrolliert meine Bewegungen, kein Kopf der Gemeinde bewegt sich, nur die Augen suchen sich gegenseitig, keiner spricht. Seine Knarre geht die Köpfe ab, und die Furcht ist überall, außer in den Gesichtern. Alle wenden sich von ihm ab, als ginge eine Gewalt von seinem Antlitz aus. Selbst Moses wäre gestorben, hätte er Gott ins Gesicht geschaut, hatte mein Vater gesagt, als ich ihn fragte, wie er denn aussehe, dieser Gott.

 

Cristóbal holte mich vom Flughafen ab. Ich hatte alles dabei. Auch den Zettel. Mein Körper war gekrümmt wegen der Taschen und langsamer, als meine Nervosität es wollte. Alle schwirrten in Richtung Ausgang oder lagen Familienmitgliedern in den Armen. Ich schob mich durch die Glastür aus der Wartehalle, Schwüle, Schweiß und Geräusche setzten sich auf mich, Taxifahrer schrien mir ins Gesicht, ich schüttelte den Kopf, zu langsam, als dass sie es hätten bemerken können. „No“, mein Rachen war verklebt, ich versuchte es noch einmal: „No.“ Ich tönte nicht an gegen sie und ihre laute Stadt, legte keine Tasche ab, blieb stehen und suchte mitdröhnendem Kopf. Irgendwo zwischen den Schwirrenden wartete Cristóbal mit meinem Namen auf einem Kartonrest. Er hielt ihn hoch, lief auf mich zu, sein offenes Gesicht kam näher, zwei Küsschen, ich wehrte mich nicht, seine Wange war feucht, kurz klebten wir aneinander. Er nahm zwei Taschen und meinen Ellenbogen. „Da vorne ist das Auto.“ Er war schnell, schob mich über die Straße, blieb stehen, selbst gekrümmt vom Gewicht meiner Sachen, drehte sich um, musterte mich. „Entschuldige“, er machte etwas wie ein Lächeln, „ich bin Cristóbal, sie nennen mich Cris. Bienvenida!“ Dann fuhr er mich zu Doña.

 

Der Bus fährt an den Haltestellen vorbei, und die Menschen, die dort warten, sehen uns nur kurz nach, keiner wundert sich darüber. Hier im Bus geht von jedem eine Bewegung aus, das Überreichen der Handtasche oder das Herausholen von Gegenständen aus den Hosentaschen, es ist fließend, der Eingefallene schwitzt an den Schläfen und über den Lippen, zeigt mit seiner winzigen schwarzen Pistole auf Einzelne aus dem Chor der Wegblickenden. Es ist ein Wartezimmer. Es stinkt. Es ist zäh. Ich sehe die Menschen, die vor mir dran sind, einer nach dem anderen kommt an die Reihe, ich rücke auf in der Warteschlange, ich zähle die Menschen, ich will endlich drankommen. Ich habe das Warten immer gehasst. Die Waffe schweift, kommt näher, doch selbst jetzt sieht sie noch er­staunlich klein aus. Der Ton in meinem Kopf wird lauter, er ist tief und ruhig. Ich saß neben Cristóbal im Auto und sagte nichts. Ich wollte nur ankommen. Er war stolz auf alles, was er zeigen konnte, seine Stadt: Farben, eine große Leuchtreklame in Fünfmeterhöhe, die ich kannte, die die Welt kennt und die wie überall auch hier Zerstreuung von dem ist, was unter ihr geschieht. Männer standen um Autos herum, als wären sie die Quelle von irgendetwas. Sie trugen kurze Hosen, Bäuche und Schlappen. Die Häuser dahinter formten ein chaotisches Bild in ihrer ungleichen Zweistöckigkeit. Ich stellte mir meinen Vater in dieser Umgebung vor. Alles hier war staubig, das überraschte mich. Cris fuhr durch Zonen, erklärte mir die Zahlen und bewertete: „Gefährlich. Nicht so gefährlich. Normal.“ Alles sah gleich aus. Vor den Autowerkstätten stapelten sich Reifen, Metall und Müll, rote und gelbe Busse überholten sich gegenseitig und wir sie, Cristóbal fluchte auf einen, hupte, dann lachte er. „Die sind gefährlich“, er überholte und warf ihm mit Blick in den Rückspiegel ein Schimpfwort hinterher. „Wenn du kannst, fahr immer mit einem Bus, wo vorn ein Securitymann drinsteht, manchmal gibt’s auch Securityfrauen, mit Flinte.“ Er er­wartete jetzt etwas von mir, seine Blicke auf mich wurden länger, ich nickte, damit war er zufrieden. Er überholte zwei Pickups und bog von der Straße ab, streckte plötzlich seinen Arm in Richtung meiner Schenkel, das hatte ich nicht kommen sehen, ich zuckte, aber er zeigte nur auf das Handschuhfach über meinen Knien. „Also da ist auch immer eine drin“, er zog seine Hand zurück aufs Lenk­rad, dann das Auto in die Kurve. „Willst du mal sehen ?“, er grinste, ich sagte: „No.“ Mehr nicht.

 

Unser Bus hat keinen Sicherheitsmann. Und keine Frau. Wir hatten es eilig und nahmen den ersten, der kam. Cris hatte auf die Plaket­te gezeigt, auf der in bunten Lettern Q Dios Te Bendiga prangte. „Ist schon okay“, Cris war als Erster eingestiegen, „der wird uns beschützen.“ Sein Finger zeigte nach oben, als er sich einen Platz für uns aussuchte.

 

Alles ist langsam, wir sind an der Reihe. Zuerst Cris, die Waffe zeigt auf ihn, schwebt vor mir in Augenhöhe, er ist geübt, kramt in seinen Taschen, holt ein paar Scheine und sein Handy heraus. Der Ein­gefallene nimmt es und steckt es sich in die Hosentasche. Jetzt ist die Qualle dran. Sie macht das Gesicht eines bockigen Kindes. Der Arm des Eingefallenen ist ausgestreckt, an ihm baumeln schon drei Taschen, die Knarre zielt auf den Schädel der Qualle, sie schwingt ihren Rucksack in seine Richtung, erwischt seinen Körper an der Seite, setzt der schwebenden Waffe etwas entgegen und grinst kurz, als sie mich ansieht. Ihre kleine Rebellion. Dann fällt ihr Kopf wieder auf die Brust. Der Eingefallene schnauft, mit der freien Hand nimmt er den Rucksack, öffnet ihn, sieht kurz hinein, dann treibt der Arm mit der Waffe in meine Richtung, mein Ton wird lauter, setzt sich hinter meine Schläfen und pocht gegen meine Schädelknochen. Ich löse meinen Blick nur langsam von der Qual­le, die Waffe zeigt auf meinen Schädel, es ist eine Angst, die mir die Beine absägt. Der Eingefallene sagt nichts, hält nur den geöff­neten Rucksack vor mich hin. Sein Beutel für die Kollekte. Er blickt weg, bleibt diskret, als wäre das Ausmaß meiner Spende mir selbst überlassen, ein guter Ministrant.

 

Ich kannte nur die Pistolen der Jungs zu Karneval, wenn sie als Cowboys gingen. Mein Vater hatte sie gehasst, wir hatten gestritten darüber, ich wollte als Cowboy gehen, ich wollte Plastikenten schießen auf dem Jahrmarkt, ich wollte Ego-Shooter, er sagte Nein.

 

Meine Hände machen nichts. Alle anderen kennen die Choreo­grafie schon. Erst, wenn keiner mehr über die Abfolge nachdenkt, wird daraus Kunst. Ich mache die Show kaputt. Ich muss mir Mühe geben. Ich muss abgucken, so wie im Ballettunterricht bei den Mädchen in der ersten Reihe, vorn beim anderen und seinen Op­fern, wie sie es machen. Dann fängt mein Arm an sich zu bewegen, meine fast eingeschlafene Hand greift in die Hosentasche nach allen Scheinen, die sie erreichen kann, ich halte sie ihm hin, er nimmt sie aus meiner Hand, seine Berührung durchfährt mich kurz, er wirft die Scheine in den offenen Rucksack, bleibt vor mir stehen, gibt mir Zeit nachzudenken, geduldig, die Waffe ist uns sehr nahe. Dann ziehe ich mein Handy unter dem Hemd hervor, ich bin langsam, alles ist zäh, ohne Zeit. Er sieht kurz runter, Hand und Knarre winken ab, mein Handy ist zu alt oder zu billig. Er zieht weiter. Cris legt mir seine Hand auf, ich fühle sie nicht, würde sie abschütteln, wenn ich könnte. Endlich bleibt der Bus stehen für die Eingefalle­nen. Sie hinterlassen nur Hitze. Und Stille. Cris fasst an mein Bein, sein Griff ist fest. „Du wirst dich dran gewöhnen.“ In der Straße wur-de Cris langsamer. „Das hier ist die doce, Zone 12.“ Es stand auf dem Zettel, ich hatte es seit Jahren gewusst. „Doña ist eine Göttin, dein Vater hat sie sehr geliebt, du wirst es mögen bei ihr.“ Die Fens-ter der Straße waren verschlossen, ihre Häuser standen wie tot und hatten alle verschlossene Gitter vor den Eingängen. Zwei Männer unterhielten sich leise in einer Einfahrt, Feinripp und braune Waden vor Motorrädern, die Betonhäuser rechts und links hatten fast alle die gleiche Höhe, flache Dächer, klare Linien, dahinter die Berge. „Da vorne ist es, Doña wartet schon.“ Cris bremste langsam, einer stand in seinem Fenster, er hob die Hand und grüßte. „Sobald die hier wissen, dass du bei Doña wohnst, bist du sicher wie im Himmel.“ Er parkte und beugte sich über mich, um aus meinem Fenster zu­rückzuwinken. Vor dem Haus spannte sich eine große Markise, rot und blau, es sah wie die Eisdielen in den alten Filmen aus, nur die Gitter darunter passten nicht. Sie warfen Schatten in Streifen auf Doñas Gesicht. Sie lächelte.

 

Nastasja Penzar *1990 in Berlin, lebte in Guatemala, studierte in Leipzig, São Paulo und Wien. Sie schrieb Lyrik, ein Theaterstück und arbeitete als Übersetzerin. Dieser Text ist ein Auszug aus ihrem Debütroman „Yona“, der 2021 bei Matthes & Seitz Berlin erschienen ist.

 

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