Philippe Roepstorff-Robiano
Er sinkt und sinkt, und der Schrei wird nicht laut (auch er ihm genommen, alles ihm genommen!), und er stürzt hinunter ins Bodenlose, bis ihm die Sinne schwinden, bis alles aufgelöst, ausgelöscht und vernichtet ist, was er zu sein glaubte.
Ingeborg Bachmann, Das dreißigste Jahr
Manchmal gerät eine Person derart ins Spielen mit allen Werten, dass sie alle um sich herum abgestoßen und angepöbelt und vermaledeit hat, dass sie sich selbst dabei verliert und am Ende nicht mehr weiß, wer sie ist, dass sie vereinsamt, verstummt, verschwindet. Welche Art von Risiko hat diese Person auf sich genommen? Kann sie das bewusst gemacht haben? Stellt eine solche Person ein Risiko für die Gemeinschaft dar? Ist diese Auslöschung des eigenen Selbst in irgendeiner Weise politisch? Entsteht dadurch ein für die Gesellschaft gefährliches Subjekt? Wie kann die Auflösung der Person realistisch dargestellt werden? Diese Fragen sind im Zeitalter digital mobilisierter Mobs genauso virulent wie im Jahr 1866, als ein hochverschuldeter Fjodor Dostojewskij den Roman Der Spieler im kurzen Zeitraum von nur 26 Tagen seiner zukünftigen Frau Anna Grigorevna Snitkina diktierte. Wer sich mit den genannten Fragen beschäftigen möchte, sollte sich auf diesen Text einlassen und seinen einzelnen Bewegungen folgen, auch wenn das bedeutet, selbst in seinen Wirbel zu geraten. Diese Lektüre ist riskant.
Roulettenburg
Der Hauslehrer Alexej Iwanowitsch setzt regelmäßig alles aufs Spiel: sein Geld, seine Stelle, seine Reputation, seine Existenz, seinen Verstand. In diesen Momenten mutiert die Hauptfigur von Dostojewskijs Roman zu einer Funktion – zum Spieler. Seine Spielexzesse beschränken sich nicht auf Spielhallen, vielmehr imaginiert der Ich-Erzähler sein gesellschaftliches Umfeld als Roulettetisch, auf dem die einzelnen Figuren – eine internationale Mischpoche aus Adeligen, Parvenüs und Ganoven – wie Spieleinsätze stehen, ihre Augen auf das schwindelerregende Drehen des Rads der Fortuna geheftet. Wir befinden uns nicht mehr an einem realen Ort wie der von Dostojewskij selbst besuchten Glücksspielstadt Baden-Baden, sondern am fiktiven Ort Roulettenburg.
Faites le jeu! Faites le jeu!, ruft der Croupier in Roulettenburgs prachtvoller Spielhalle. Die Augen der Spieler funkeln wie die Lichter der Kronleuchter. Alle um einen Roulettetisch Herumstehenden sind nun angehalten zu setzen, was sie auch tun, manche auf rouge (Rot), andere auf noir (Schwarz), einige auf impair (Ungerade), andere wiederum auf pair (Gerade); auf manque (Niedrig) oder passe (Hoch) setzt auch manch einer; viele streuen ihr Risiko, indem sie auf eine Kombination der soeben genannten Möglichkeiten setzen; Irre oder Waghalsige oder Verzweifelte setzen wiederholt auf zéro (Null).
Der russische General, bei dem Alexej angestellt ist, setzt auf den Tod seiner Tante, deren Erbe es ihm ermöglichen würde, seine verspielten Güter von Hypotheken zu befreien und die mysteriöse Mademoiselle Blanche de Cominges zu heiraten, bei der er wahrscheinlich verschuldet ist. Zu dieser Hoffnung veranlasst ein Telegramm, in dem steht, die Tante liege im Sterben. Seither telegraphiert der General tagtäglich nach Moskau, um die neuesten Neuigkeiten zu erfahren, aber die Tante will nicht schnell genug sterben. Der ganze Tross um den General herum befindet sich in heller Aufregung. Von dessen Einsatz hängen alle Schicksale ab, die er um sich versammelt hat: das Schicksal seiner Gläubiger de Grieux und Mademoiselle Blanche, jenes seiner Stieftochter Polina und seiner beiden Kleinkinder, und auch Alexejs bescheidenes Schicksal; in der nervös-hysterischen Vertonung von Sergej Prokofiev wird diese Aufregung, nebenbei gesagt, kurzweilig moduliert.
Rien ne va plus? Noch kann gesetzt werden, noch kann sich etwas verändern, aber nur noch kurz. Danach dreht und dreht und dreht sich das Rad.
An dieser Stelle kommt Alexej noch zum Zug. Er hat sich Hals über Kopf in seine Schülerin Polina verliebt, aber sie zeigt ihm die kalte Schulter. Nachdem Alexej sich erfolglos als ihr (Liebes-)Sklave andient, fragt sie ihn, ob er denn auch bereit wäre, einen Mord für sie zu begehen. Natürlich ist er das! Am Ende will Polina sich aber doch nur amüsieren und stachelt den jungen Mann dazu an, der deutschen Baronin Wurmerhelm, die gerade mit ihrem Mann durch den Park streift, etwas Kokettes auf Französisch zu sagen. Dieser Bruch mit den Konventionen soll ihren Mann provozieren. Alexej willigt ein und grüßt die Baronin forsch mit den Worten „Madame la baronne, j’ai l’honneur d’être votre esclave“ („Frau Baronin, ich habe die Ehre, Ihr Sklave zu sein“), seinen Hut ziehend und sich tief verbeugend. „Sind Sie rasend?“, erwidert der Baron. „Jawo-o-ohl!“, schreit Alexej aus voller Kehle, das O in der preußischen Art in die Länge ziehend; ein Jawohl, das bei Prokofiev zu einem Urschrei wird. Der General dagegen, für den Alexej arbeitet, will es sich mit den Wurmerhelms nicht verderben. Seine Angetraute Mademoiselle Blanche ist nämlich nicht die, die sie vorgibt zu sein: Im Vorjahr kam sie als Frau des „eine Unmenge von Ringen und Brillanten an seinem Leib“ tragenden Fürsten Barberini in Roulettenburg an. Als das Spiel nicht mehr so rund lief, wurde sie vom Fürsten, hinter dem wahrscheinlich derjenige steckt, der sich nun de Grieux nennt, verlassen und nannte sich fortan Mademoiselle Selma. Diese verspielte ihren letzten Louisdor beim Roulette und forderte ausgerechnet den regeltreuen Preußen Baron Wurmerhelm auf, für sie zehn Louisdor auf Rot zu setzen, woraufhin der empörte Baron veranlasste, dass sie aus Roulettenburg verbannt werde. Würde Wurmerhelm Mademoiselle Blanche wiedererkennen, so müsste der General seine Angebetete, die ihn wahrscheinlich in den Ruin getrieben hat, fahren lassen. Ihm bleibt nichts mehr übrig, als den erratischen Alexej zu entlassen.
Le jeu est fait! Das Rad dreht sich, lustig springt die Kugel an den Zacken hin, landet mal auf der einen, mal auf der anderen Zahl. Alexej spricht von „jene[m] Wirbelsturm, der mich damals packte und herumschleuderte und mich nun wieder irgendwohin ausgeworfen hat“.
Die Kugel kommt zum Halten, „das Rad [braucht] nur eine einzige Drehung zu machen […], und alles ändert sich“. Diese eine einzige Drehung wird in der Mitte des Romans durch die Ankunft der Tante in Roulettenburg vollzogen. Der General hat auf den falschen Ausgang gesetzt; obwohl es doch so wahrscheinlich geschienen hatte, dass die Tante stirbt, erscheint sie leibhaftig. Aber die Tante geht noch weiter, als bloß am Leben zu bleiben und das Spiel für sich zu entscheiden, sie verfällt selbst heillos dem Glücksspiel. In nur ein paar Tagen ist das gesamte ihr zur Verfügung stehende, aus Bargeld und Staatschuldenscheinen bestehende Kapital verspielt. Der General versucht, das mit allen Mitteln zu verhindern, sogar Alexej stellt er wieder ein, weil er denkt, dass dieser einen guten Einfluss auf die Tante nehmen könne. Die Tante entgegnet dem General aber höhnisch: „So, so! Also du rechnest auf meinen Tod? […] Mach, daß du fortkommst! […] Was geht es euch an? Ich habe mein eigenes Geld verspielt und nicht eures!“
Die Tante macht dem General einen doppelten Strich durch die Rechnung: Erstens erbt er nicht oder noch nicht, das heißt, dass sich seine finanziellen Komplikationen nicht oder noch nicht auflösen; zweitens bringt sie das, was er zu ererben erhofft, selbst in Gefahr, womit die Garantie, auf der die Geduld seines Gläubigers de Grieux beruht, wegfällt. Nach dem Verlust ihres liquiden Kapitals beschließt die Tante, doch abzureisen; am Ende wird sie ihr Vorhaben, eine hölzerne in eine steinerne Kirche umzubauen, etwas aufschieben müssen. Für den General ist das Resultat der Spielsucht der Tante trotzdem verheerend: De Grieux bricht nach Paris auf, um die Güter und Ländereien des Generals auf sich überschreiben zu lassen, und lässt sich nie wieder blicken. Mademoiselle Blanche heiratet den Verlorenen dennoch und hält ihn fortan wie einen Schoßhund.
Nullsummenspiel
Die gebieterische Tante setzt zu Beginn ihres Spielexzesses mehrfach auf zéro. Fällt die Kugel auf diese Zahl, so gewinnt die Bank alle Spieleinsätze, die auf dem Tisch liegen; aber sie muss auch demjenigen, der auf zéro gesetzt hat, das Fünfunddreißigfache seines Spieleinsatzes auszahlen. Die Chancen stehen 1:36, dass die Kugel auf zéro landet. Eigentlich möchte die Tante das Spiel bloß observieren, um zu verstehen, wie man so dumm sein kann, ihm zu verfallen. Alexej soll sie durch die Spielhalle führen. Als sie selbst am Spieltisch postiert ist, hört sie den Croupier mehrfach zéro rufen und fragt nach, was es damit auf sich hat. Die Null zieht sie in ihren Bann. Alexej rät ihr zwar eindringlich davon ab, da die Chancen, dass die Kugel in nächster Zeit wieder auf Null landen wird, sehr schlecht stünden, aber die Tante setzt trotzdem nicht einmal, sondern stolze sechsmal hintereinander auf zéro – und erzielt dabei den Höchstgewinn. Alexej kommentiert dies folgendermaßen: „[D]as war ein seltener Zufall, daß unter etwa zehn Malen dreimal zéro herausgekommen war; aber etwas besonders Erstaunliches war nicht dabei.“
In der Mitte von Dostojewskijs Erzählung hockt die Null in nihilistischer Selbstgenügsamkeit. Sie ist weder eine negative noch eine positive Zahl, vielmehr bildet sie gleich dem Styx die Schwelle zwischen dem Reich des Positiven und der Unterwelt des Negativen. Ohne die Null könnte man das Reich der Schatten gar nicht vermessen. In der Finanzwelt heißt dieses Negative Schuld. Schulden fassen das Versprechen, geborgtes Geld zu einem bestimmten Zeitpunkt gegen soundsoviel Zinsen zurückzuzahlen, in ein vertragliches Verhältnis, sie verleihen dem Negativen eine kalkulierbare Vertragsform.
Der General steht für dieses finanzielle Negative. Sein exzessives Spielen hat ihn dazu gebracht, Hypotheken aufzunehmen, das heißt sein Haben (Güter, Ländereien) in ein Sollen (Hypothekenscheine) umzumünzen, um so weiterspielen zu können. Das finanzielle Negative, wofür er steht, kann genau auf Gulden und Friedrichsdors beziffert werden und setzt ihn vielfältig in Beziehung zu anderen ökonomischen Akteuren, denen gegenüber er als Schuldner verpflichtet ist. Der General kann nur soundsoviel Positives riskieren, da er nur soundsoviel Negatives dafür bekommt. Für ihn ist das Spiel irgendwann aus. Indem er sich die Besitztümer des Generals gerichtlich überschreiben lässt, weist de Grieux auf, wie es zahlungssäumigen Schuldnern ergehen kann, solange sie weniger Macht besitzen als ihre Gläubiger.
In entrückter Ferne steht die Tante zunächst für jenes Positive, das – indem es als Erbe von einer Toten auf einen Lebenden übertragen wird – kurz davorsteht, das Negative aufzuheben, also die Schulden des Generals zu begleichen und ihm seine Güter zurückzugeben; es bleibt jedoch ungewiss, ob er nicht doch wieder dem Spielen verfiele. Die Ankunft der Tante am Kurort Roulettenburg, wo sie sich nach ihrer Krankheit eigentlich auskurieren sollte, bestätigt zunächst ihre Rolle als ein Positives, das dem General aber nicht zur Verfügung steht: „Geld werde ich dir übrigens nicht geben“, sagt sie ihm wiederholt. Da sie selbst auf die Weise zu spielen beginnt, die alles riskiert, wechselt die Tante jedoch, ihrem radikalen Charakter entsprechend, vom Reich des Positiven in die Unterwelt des Negativen. Die Tante trägt Züge, die sie der Null annähern, aber ihre Abreise aus Roulettenburg bedeutet, dass sie sich letztendlich auf die Seite des Habens schlägt.
Die eigentliche Null der Erzählung, das ist der Ich-Erzähler Alexej selbst. Der Schrei, den er in Prokofievs Oper ausstößt, besteht aus dem Buchstaben „O“; am Ende der Erzählung zieht er Bilanz, nachdem er Polina schon mehrfach unterstellt hat, sie sehe ihn als Null: „Was bin ich jetzt? Zéro.“ Da die Null nichts zu verlieren, aber auch nichts zu gewinnen hat, ist sie der ewige Spieler. Weder der General noch die Tante könnten diese Rolle einnehmen, für sie ist das Spiel ab einem gewissen Punkt immer aus, insofern sie, wie gesagt, irgendwann für ihr Spielverhalten zur Rechenschaft gezogen werden. Der Junggeselle Alexej hingegen hat kein Kapital, sondern bloß kleinste Ersparnisse, die er dem Spiel stets opfert; auch nimmt er keine Schulden auf, weil keiner ihn als Schuldner haben wollen würde. Wenn er ein Risiko eingeht, dann ist dieses zugleich auf seine Person begrenzt und unbegrenzt, da es weder an die vertragliche Form der Schulden noch an ein soziales Netzwerk gebunden ist. Er könnte sein gesamtes Geld verspielen und müsste dann wieder ein paar Monate als Hauslehrer minijobben; dann könnte er wieder sein ganzes Geld verspielen usw. Und genau das tut Alexej, wodurch er den Wirbel, in den er geraten ist, zu einer Null schließt. Das Einzige, was Alexej diesem nihilistischen perpetuum mobile entzöge, wäre Polina. Die Ehe mit der Stieftochter des Generals ginge mit vielfältigen familiären Verpflichtungen einher, was sich wiederum mehr schlecht als recht mit der Glücksspielsucht vereinen ließe. Alexej erweist sich als vollkommene Null, die weder positiv noch negativ ist, vielmehr mal das Positive, mal das Negative verkörpert.
Risiko und Kalkül
An der Felsklippe des Schlangenbergs stehend flüstert Alexej folgendes Angebot seiner Angebeteten Polina ins Ohr: „Sagen Sie ein Wort, und ich springe in diesen Abgrund!“ Laut dem Etymologischen Wörterbuch von Friedrich Kluge wurde das Wort ‚Risiko‘ im 16. Jahrhundert dem italienischen Wort ‚rischio‘ entlehnt, dessen weitere Herkunft nicht sicher geklärt sei. Die Hypothese, dass es sich vom vulgärlateinischen Wort für Felsklippe ‚resecum‘ herleitet, ist fragwürdig; heute leiten die meisten Etymologen ‚rischio‘ aus dem frühromanischen Wort für ‚streiten‘, ‚rixicare‘, ab. Seine Herkunft mag umstritten sein, unumstritten ist aber die Tatsache, dass das Wort zunächst ein Fachbegriff war, der in der Kaufmannssprache eine Rolle spielte. Risiko war zur Zeit der ersten Händler in den italienischen Stadtstaaten, da es noch keine Versicherungsgesellschaften gab, das Unwägbare und Unkalkulierbare jeder Unternehmung, jenes schicksalshafte Moment, das einem auf einen Schlag alles wegnehmen könnte.
Die etymologischen Spekulationen kommen nicht von ungefähr: Für die Schifffahrt waren Felsklippen äußerst riskant. Das machte sie in vielen literarischen Werken der Zeit zu dem Symbol schlechthin für das Risiko des Kaufmanns. So sei das Schiff des wohl emblematischsten Händlers der Literatur, Antonio aus Shakespeares The Merchant of Venice (Erstaufführung 1605), „wrecked on the narrow seas; [...] a very dangerous flat, and fatal, where the carcasses of many a tall ship lie buried“. Es gibt viele literarische Felsklippen, an denen mit Gold beladene Schiffe zerschellt sind, während der eine oder andere in der Lektüre versunkene Epikureer – im Einklang mit der Empfehlung des Meisters, sich aus der schicksalshaften Verkettung von Ursache und Wirkung zu lösen – den Verlust von seinem Garten des Wissens aus mit Genuss betrachtete.
Als er sich auf den Fernhandel einlässt, geht Antonio ein Risiko ein, das ihm einen hohen Profit einbringen könnte. Risiko und Kalkül sind hier zwei Seiten derselben Medaille. Das Risiko wird gegen den möglichen Gewinn abgewogen; befinden sich beide im Gleichgewicht, so spricht das für eine Unternehmung, und sei diese auch noch so waghalsig. Man kann sich aber auch nolens volens einem Risiko ausgesetzt sehen, wenn jemand etwas für andere Riskantes unternimmt. In Dostojewskijs Text sind beide Bedeutungsvarianten am Werk: Der General geht im Glücksspiel ein unvernünftiges Risiko ein und setzt seine Kinder diesem Risiko aus. Wie in Shakespeares Drama wird in Der Spieler ein Netz von Schuldenbeziehungen um den riskanten Spieleinsatz des Generals herum gewebt, das allerdings nicht buchstäblich den Leib des Schuldners bedroht, sondern dessen Güter und damit dessen Kinder. Diese sehen sich dem Risiko ausgesetzt, in die Armut abzurutschen.
Welchem Risiko setzt sich Alexej aus? Man könnte sagen, dass dieses unbedeutend ist, so unbedeutend wie ein Menschenleben. Warum sollte dann aber gerade dieses Risiko ins Zentrum der Erzählung gerückt werden? Ist die Geschichte des Generals und jene seiner Erbtante nicht viel bedeutender? Auf der einen Seite bestätigt Dostojewkijs Text diese Sicht auf die Dinge, denn wovon erzählt Alexej, wenn nicht vom General, seiner Erbtante und dem sie umgebenden Tross an Heuchlern? Das ist, wenn man so will, das realistische Moment in diesem Text, jenes Moment, das typische Schicksale festhält. Aber die Wahl des fiktiven Spielorts Roulettenburg und auch die Perspektivierung des Geschehens durch einen dem Spielwahn verfallenen Ich-Erzähler stimmt einen skeptisch. Wer sagt uns, dass das, was erzählt wird, wirklich so geschehen ist? Es gibt keine solche Instanz.
Das Roulettespiel erzeugt ferner eine eigene Form des Risikos, die mit dem Risiko einer Unternehmung nicht gleichzusetzen ist. In der Welt der Wirtschaft hat die Bank oder der Gläubiger nämlich etwas davon, wenn ein Unternehmen gelingt, denn dann können Schulden beglichen werden, und alle verdienen dabei Geld. Das Roulettespiel – laut Alexej eine „ganz wertlose, unökonomische Tätigkeit“ – funktioniert grundsätzlich anders: Der Spieler arbeitet gegen die Bank; gewinnt er, so verliert die Bank, und umgekehrt. Außerdem ist das Risiko, das beim Roulettespiel eingegangen wird, von einer eigentümlichen Art: Einerseits ist es auf dem Rouletterad so gleichmäßig verteilt, dass es in einer Weise der Wahrscheinlichkeitsrechnung zugänglich ist, die für keine Unternehmung gelten kann; andererseits ist es radikal unsicherer als jede Unternehmung, denn dieser Verteilung des Risikos vermag kein Kalkül mehr beizukommen. Dazu passt Alexejs oben zitierter Kommentar zum Gewinn der Tante, dass nichts besonders Erstaunliches daran sei, wenn unter zehn Malen dreimal die Null herausgekommen sei. Dem Ich-Erzähler scheint es nicht von ungefähr, dass „Berechnungen eigentlich herzlich wenig zu bedeuten haben und ganz und gar nicht die Wichtigkeit besitzen, die ihnen viele Spieler beimessen. Sie sitzen mit liniierten Papierblättern da, notieren sich die einzelnen Resultate, zählen, folgern daraus Chancen, rechnen, setzen endlich und – verlieren gerade ebenso wie wir gewöhnlichen Sterblichen, die wir ohne Berechnung spielen.“
Die Ordnung des Sozialen
Der unzuverlässige Ich-Erzähler Alexej spielt, ohne zu berechnen, er spielt auf eine unberechenbare Art und Weise, und das nicht bloß am Roulettetisch, sondern auch in seinem sozialen Umfeld. Er schildert atemlos seine Rückkehr nach Roulettenburg und wie er dort regelmäßig die Gesellschaft des Generals durch seine Tiraden stört. In diesen Wutausbrüchen verstößt Alexej schamlos gegen die guten Sitten: Gerne hätte er einem Monsignore in den Kaffee gespuckt; zu Polina sagt er: „Es ist in mir oft ein unwiderstehliches Verlangen aufgestiegen, Sie zu prügeln, zu verstümmeln, zu erwürgen.“ Obzwar es Polina, die diese Tirade als „Geschwätz“ abtut, nicht im Geringsten stört, so angesprochen zu werden, trägt Alexej durch diese und ähnliche Handlungen zu seinem fortschreitenden Ausschluss aus der Gesellschaft bei. Er wird zur persona non grata.
Im Zuge seiner Ausraster scheint sich Alexej der wahre Charakter seiner Mitmenschen zu offenbaren: Polina gefällt seine forsche Art und sie nutzt sie aus; der General entlässt ihn. Wir bewegen uns ja in einem sozial hochgradig unsicheren Umfeld, das durchaus vergleichbar ist mit einem Roulettetisch: Was die Leute vorgeben zu sein, sind sie oft nicht, und was sie tun, tun sie oft nicht um der Tat selbst willen, sondern um etwas anderes zu erreichen. Genau wie die oben beschriebenen professionellen Spieler sucht der Erzähler nun nach einer Formel, um den Schein auf das Sein, das Sichtbare auf das Unsichtbare, die Oberfläche auf die Tiefe zu beziehen und somit dem sozialen Feld jene Ordnung zu verleihen, die Vorhersehbarkeit garantiert. Diese Ordnung hat zwei Achsen: sozialer Stand einerseits, nationaler Charakter andererseits.
Kommen wir zunächst zur nationalen Achse: Im Großen und Ganzen begrenzte, vorhersehbare, formvollendete Westeuropäer treffen in den Spielhallen auf exzessive, unberechenbare Russen ohne Manieren. Das Modell wird noch differenziert: Der Deutsche tritt als kleiner Landesfürst auf, der alle in seinem spießigen Häuschen bis zum Punkt der Selbstzerstörung unterjocht; der Franzose als profitgeiler Heuchler, der gute Manieren nur vortäuscht, solange es ihm etwas nützt; Juden und Polen als raffsüchtige Betrüger; Russen als irrationale Chaoten. Warum werden diese rundum fremdenfeindlichen Stereotype ins Feld geführt? Man könnte diesen recht unappetitlichen Aspekt von Dostojewskijs Text einfach aus seiner Zeit erklären und ihn entweder achselzuckend hinnehmen oder aus Gründen des guten Geschmacks und der Moral ablehnen. Ich würde dafür plädieren, diese wichtige Diskussion einzuklammern und sich stattdessen zu überlegen, welche Vorteile eine solche Typisierung für die rouletteförmige Darstellung des sozialen Feldes bietet. Die einfache Formel lautet: Der Franzose tut so und so, eigentlich fühlt er aber so und so, da sein Charakter so und so ist. Hat man in dieser Weise den Schein – das, was der Franzose tut – auf das Sein – das, was der Franzose ist – zurückgeführt, so kann man ziemlich genau vorhersagen, was der Franzose als Nächstes tun wird, wenn x oder y eintritt. Der Gläubiger des Generals de Grieux etwa ist nur die Höflichkeit selbst, solange etwas für ihn dabei herausspringt.
Die zweite Achse ist die des sozialen Standes. In Roulettenburg spielen Personen aus verschiedenen Ständen Seite an Seite, und zwar, grob gesagt, Aristokraten und Nicht-Aristokraten. Das aristokratische Spielverhalten zeichnet sich durch Contenance aus: „Das Geld muss so tief unter der Würde eines Gentleman stehen, daß es kaum wert erscheint, sich darum zu kümmern.“ Der Gentleman dürfe für den Gewinn kein Interesse zeigen, einzig aus Zeitvertreib und höchstens aus Wissbegierde spiele er, um die Chancen zu beobachten und Berechnungen anzustellen, aber nicht in dem Wunsch zu gewinnen. Neben der Art des Gentlemans zu spielen existiere „eine plebejische, selbstische, die der unfeinen Menge, des Pöbels [сволочи]“. Damit ist wohl der bürgerliche Wert par excellence gemeint: das Selbst-Interesse. Indifferenz wird gegen Interesse ausgespielt.
Pöbel
Aber wie beim Roulette kann man, um das obige Diktum des Ich-Erzählers aufzugreifen, derartige Berechnungen anstellen, helfen tun sie einem herzlich wenig. Einerseits weichen die meisten Figuren in Dostojewskijs Text in ihrem Handeln vom vorgestellten Schema ab: Die Tante schränkt sich ein; Mademoiselle Blanche ist ehrlich; Gentlemen bilden Interessen aus. (Die einzigen Ausnahmen bilden nicht zufällig in diesem recht antisemitischen und antipolnischen Text jene Figuren, die es nicht wert zu sein scheinen, eigens beschrieben zu werden: die stets mit rücksichtsloser Raffgier auftretenden Juden und Polen; sie werden einhellig auf unsympathische Typen ohne Individualität reduziert.) Diese Inkongruenzen zwischen dem konkreten Handeln einzelner Figuren und dem Verhalten des jeweiligen Nationaltypus werden nötig, da eine naive Typisierung den Figuren jegliche Freiheit nähme. In Dostojewskijs Text bilden die feinen Unterschiede eine Oberfläche, unter der alles Mögliche treibt und drängt.
Andererseits ist die Typisierung systematisch durch die Figur des Pöbels unterlaufen. Der Pöbel stört die Versuche, dem sozialen Feld eine vorhersehbare Ordnung zu verleihen, aufs Empfindlichste. Einerseits lässt er sich weder einem Stand noch einer Nation eindeutig zuordnen; andererseits birgt er ein potenziertes Risiko – das Risiko erratischen Verhaltens.
Gehört Alexej diesem Pöbel selbst an? Der sich mit dem Tatarischen identifizierende Ich-Erzähler ist auf der sozialen Achse äußerst schwer zu positionieren. Alexej nimmt eine für Dostojewskijs Hauptfiguren typische Sonderstellung ein: die des verarmten Aristokraten. Er ist somit nicht das, was Marx einen vogelfreien Proletarier nennt, und kann es nie werden, denn um vogelfrei zu sein, muss man aus dem feudalen System ausscheiden und sich beziehungsweise seine Arbeitskraft auf dem ‚freien‘ Markt verkaufen. Alexej hat ja einen Namen und damit Kontakte zu anderen Aristokraten, die sich nur um den Schall und Rauch von Titeln scheren. Aber der sich vom Pöbel abgrenzende Ich-Erzähler steht dem Gehabe des Adels ablehnend gegenüber und riskiert seinen Ruf und seinen guten Namen, indem er selbst pöbelt. Jedes Mal, wenn Alexej ein Risiko eingeht, droht er alles zu verlieren, was er hat, was aber materiell nichts ist. Sein Spielen ist höchstens für Leib und Leben riskant, für andere jedoch amüsant. Alexej ist eine Niete.
Aber auch die Volksgruppe, der er angehört, ist im Rahmen nationaler Rollenbilder beziehungsweise Stereotype schwierig zu klassifizieren. Die europäischen Aristokraten werden als formell, konventionell und privilegiert dargestellt, aber der russische Adel fügt sich nicht in dieses Schema, er entspricht geradezu dem Pöbel, auch wenn er es, wie der General und seine Entourage, zu kaschieren versucht. Die Tante entspricht vollständig dem „russische[n] wüste[n] Wesen“, das Alexej der „deutsche[n] Art, durch ehrliche Arbeit Geld zusammenzubringen“, gegenüberstellt. Sie wird misogyn dem „Typus eines eigensinnigen, herrschsüchtigen, kindisch gewordenen alten Weibes“ zugeschlagen. Dieses Kindische zeitigt einen komischen Effekt: Durch ihre scheinbar naiven Fragen bringt sie alle um sich herum aus der Fassung, zum Beispiel den Portier, den sie dafür schilt, nicht zu wissen, wer die Bilder in ihrem Hotelzimmer gemalt hat oder wen sie darstellen.
Wahrscheinlichkeit
In der Mitte der Null ist Leere, die Null umfasst das Nichts, indem sie es in einen Kreis einschließt, sie bannt das Formlose in eine Form. Dostojewskijs Erzählung vollzieht eine analoge Operation im Feld des Sozialen. Die Spielhalle ist der perfekte Ort, das Formvollendete gegen das Formlose, Verlotterte, kurz: gegen den Pöbel auszuspielen. Dieser Pöbel steht für das Amorphe im Menschen selbst, für jenes Moment also, das weder der Anthropologie mit ihren deskriptiven Nationaltypen noch der Soziologie mit ihren statistischen Sozialtypen zugänglich ist und mit einem Gesellschaftsmodell interferiert, das sich Auguste Comtes positivistischem Diktum Voir pour prévoir! verschrieben hat. Das heißt, dass man sehen soll, um vorherzusehen, sprich die Gegenwart an der Zukunft ausrichten, einer Zukunft, die mithilfe statistisch erstellter Prognosen vorhergesehen wird. Wahrscheinlichkeit wird spätestens in Dostojewskijs Zeit von einem poetologischen zu einem probabilistischen Begriff umgemünzt: Das, was wahr zu sein scheint, aber doch bloß Fiktion ist, wird durch das, was am häufigsten zu- und eintrifft, ersetzt.
Dostojewskijs Text untergräbt sowohl den poetologischen als auch den probabilistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff auf eine Weise, die heute noch von Interesse ist. Poetische Wahrscheinlichkeit steht in Der Spieler im Dienst der statistischen Wahrscheinlichkeit, insofern die National- und Sozialtypen um der Vorhersehbarkeit willen eingeführt werden. Das ist keineswegs veraltet: So berufen sich die heutige Management- und Marketingtheorie, aber auch das Fach Interkulturelle Kommunikation auf ähnlich reduktive Kulturschemata, um Vorhersagen zu gewinnen, beispielsweise über das wahrscheinliche Kommunikations- oder Konsumverhalten einer sozialen oder kulturellen Gruppe; und auch neoliberal ausgerichtete Ökonomen arbeiten mit reduktiven Modellen des Menschen als homo oeconomicus, als profitmaximierendes Individuum. Der Grund dafür ist ein einfacher, er hängt mit der Form des Wissens zusammen, die benötigt wird: Will man wissen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit liegt, dass A oder Nicht-A eintreffen wird, braucht man einen Gegenstand, der qua unabhängiger und abhängiger Variablen stochastisch erfassbar ist. Der Gegenstand darf aber nicht dreidimensional sein, er muss zweidimensional bleiben, indem er etwa im Rahmen von Fragebögen auf simpelste Ja/Nein-Fragen Rede und Antwort steht. Dass es den homo oeconomicus oder die kulturelle Gruppe ebenso wenig gibt, wie es den Franzosen gibt, stört dabei nicht, denn wenn die Gesellschaft so und so eingerichtet wird, muss der homo oeconomicus entstehen, ob er es will oder nicht; keiner will ja verhungern. Der Pöbel und der Russe sind indessen zwei allzu uneinheitliche Einheiten, um in ein statistisches Modell eingespeist zu werden. Ersterer bildet den Gegenbegriff zum Proletariat, dem man immer noch ein Interesse und dementsprechend eine Ratio zuschreiben kann (das Interesse, am gesellschaftlichen Reichtum teilzuhaben); letzterer ist das wilde Gegenmodell zum Europäer, der seinerseits in verschiedene Völker zerfällt, die bestimmte Triebe entwickeln (die vanitas [Eitelkeit] des Franzosen; die avaritia [Habgier] des Deutschen) und damit berechenbar scheint.
Diese sich gegen die literarische und stochastische Wahrscheinlichkeit wendende Poetik birgt jedoch ein eigenes Risiko. In Der Spieler gerät keiner derart aus der Fassung wie der Ich-Erzähler selbst, der dem Glücksspiel verfällt und vereinsamt. Dabei trägt das Zusammenfallen von Ich-Erzähler und Erzähltem zur systematischen Verunsicherung der Leserschaft bei. Entspricht das, was erzählt wird, den Regeln der Wahrscheinlichkeit? Könnte das Erzählte so, wie es perspektiviert wird, wirklich geschehen sein?
Unwahrscheinlichkeit
Die Erzählstruktur von Dostojewskijs Roman entspricht einer Spirale. Es gibt unzählige – oft durch das Adverb ‚plötzlich‘ markierte – Wendungen im Text, die das, worauf bisher gesetzt wurde, in sein Umgekehrtes verkehren, was die einzelnen Akteure dazu bringt, sich in letzter Sekunde noch mal anders zu entscheiden, was wiederum die Entscheidungen anderer Figuren beeinflusst usw. Nicht von ungefähr betrifft die Übertragung der Merkmale des Roulettetischs auf das soziale Feld die Erzählstruktur mit ihren zahlreichen zufälligen Wendungen, die oft in Form von cliffhangers am Ende eines Kapitels platziert sind. Auch auf dieser überraschend klippenreichen Ebene ist Risiko im Spiel. Obwohl Der Spieler einer der wenigen Romane von Dostojewskij ist, die nicht als Fortsetzungsgeschichte im Feuilleton erschienen, entspricht er der Form des Feuilletonromans: Jedes Kapitelende bedeutet in dieser Form einen Sprung in jenen Abgrund, der zu einer in der nächsten Ausgabe vergrößerten, gleichbleibenden oder verkleinerten Leserschaft führen könnte. Das ständige Risiko des verschuldeten Autors, seine Leserschaft einzubüßen, erzeugt ein wüstes, wirbelndes Erzählen.
Die Spirale wird jedoch zum Teufelskreis. Alexej selbst entzieht sich systematisch der oben umrissenen Typisierung. „Ich gebe sogar zu, daß ich nicht nur keine Form besitze, sondern auch keinerlei wertvolle Eigenschaften“, sagt er Polina. Alexej ist avant la lettre ein Mann ohne Eigenschaften, der sich aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang loslöst, um ins gebannte Formlose eines als perpetuum mobile gefassten ewigen Roulettespiels abzudriften. Dostojewskijs Text verläuft im Sande, es gibt irgendwann nichts mehr zu erzählen.
Das Risiko, das von einer literarischen Figur wie Alexej eingegangen wird, ist zwar kein echtes Risiko; es sind ja bloß Buchstaben, um die gespielt, gestritten, gerungen wird, words, words, words. Aber ein literarisches Risiko birgt Der Spieler doch. Auf der rhetorischen Ebene tendiert Dostojewskijs Text an einigen Stellen zur Sinnlosigkeit. „Schneller, schneller, schneller!“, befiehlt die Tante am Höhepunkt ihres Rausches. Sie hat gerade ihr ganzes Bargeld verloren und möchte zur Wechselstube, um weiterspielen zu können. „Das ist nur deine Schuld, nur deine Schuld!“, sagt die Tante zu Alexej, als sie – seinem Rat folgend – für ihr Empfinden mit zu geringem Einsatz gespielt hat. Der General, der Alexej bittet, die Tante entweder vom Spiel ganz abzubringen oder ihr Spiel zumindest positiv zu beeinflussen, sagt wiederum: „Alexej Iwanowitsch, retten Sie uns, retten Sie uns!“ Die beiden letzten Textbeispiele sind Anaphern, also die Wiederholung derselben Wortgruppe in verschiedenen Satzteilen. In den aufgezählten Fällen dienen die Anaphern der amplificatio und entsprechen damit ihrer klassischen Rolle in der Rhetorik, also der Verleihung von Nachdruck und Pathos (etwa Wut oder Mitleid), wie im von Gert Ueding herausgegebenen Historischen Wörterbuch der Rhetorik beschrieben. Dass dabei streckenweise eine affektierte Schreibweise entsteht, nimmt Dostojewskij offenbar in Kauf.
Aber es gibt auch eine Anapher, die keiner amplificatio dient, sondern in die Sinnlosigkeit führt: „Manchmal habe ich die Vorstellung, als drehte ich mich immer noch in diesem Wirbel herum, und als werde im nächsten Moment jener Sturm wieder heranbrausen und im Vorbeijagen mich mit seinen Flügeln erfassen, und als werde ich wieder aus dem Geleise herausgerissen werden und alles gesunde Urteil verlieren und im Kreise herumgetrieben werden, immer im Kreise, im Kreise …“ Das rhetorische Wörterbuch erwähnt neben der Erweckung von Pathos eine zweite Indienstnahme der Anapher: Sie werde häufig in Zauber- und Bannsprüchen oder in der Prophetie verwendet. Als self-fulfilling prophecy vollzieht Dostojewskijs Text eine teuflische Kreisbewegung, in diesem Sinne ist die Vorstellung des Ich-Erzählers, sich immer im Kreis zu drehen, auch als Aussage über die eigene Poetik zu lesen. Die poetologische Aussage enthält außerdem eine metaphorische Entgleisung, insofern ein Bild heraufbeschworen wird, das gravierende Inkonsistenzen aufweist: Zwischen einem geflügelten Wirbelwind und einem Gleis, auf dem Alexej gleich einem Zug fährt, findet eine ins Sinnlose tendierende sprachliche Transaktion statt.
Ins Weiße des Nichts führt uns Dostojewskijs sich ständig wiederholende Kreisbewegung: „Gerät ein Mensch von solchem Charakter auf diesen Weg, so ist es, als ob er im Schlitten einen Schneeberg hinabführe: es geht immer schneller und schneller hinunter.“ Alexejs manische Stimme, die immer wieder anaphorisch in die Sinnlosigkeit wiederholter Silben abdriftet oder, wie im vorletzten Zitat, wild zwischen Bildregistern wechselt, deutet einen Persönlichkeitszerfall an, der auch explizit vom Erzähler thematisiert wird: „Ich […] habe geradezu mich selbst, meine Persönlichkeit zugrunde gerichtet.“ Dostojewskijs Text mündet in eine Auslöschung der literarischen Figur als Gefäß, anhand dessen Veränderung über die Zeit hinweg beobachtet werden kann. Das, was man Bildung, Entwicklung, Erfahrung und dergleichen nennt, gibt es für Alexej am Ende nicht mehr. Somit ist die Mutation von einer Person zu einem lebenden Toten vollbracht: „Was bin ich jetzt? Zéro. Und was bin ich vielleicht morgen? Morgen werde ich vielleicht auferstehen von den Toten und ein neues Leben beginnen!“ Wir sind am Nullpunkt der Literatur angelangt.
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In dieser Krise, in der das Verweilen in den eigenen vier Wänden zur Minimierung des Infektionsrisikos beiträgt, empfiehlt sich die Lektüre von Dostojewskijs Text. Es passieren ja lauter irrwitzige Dinge, die an die irrationale Figur des Spielers gemahnen: Ein Mob wird von im Netz kursierenden Verschwörungstheorien, denen zufolge ein orangefarbener Immobilienhai aus Queens die Welt vor einer kannibalistischen Elite retten wird, angestachelt, das Kapitol zu stürmen; moderne Schildbürger nennen sich selbst Querdenker und leisten sogenannten Widerstand, indem sie sich zu einer infektiösen Masse zusammenschließen; teils aus Langeweile, teils aus Aktionismus treiben auf reddit vernetzte Teenager die Aktie eines Computerspielehändlers binnen kürzester Zeit in schwindelerregende Höhen, was fast zum Ruin jener Hedgefonds führt, die auf den Verfall der Aktie gesetzt haben. Alle Werte werden in dieser Krisenzeit umgewertet. Der Spieler stellt im Modus der Fiktion die Frage, wie eine spielende, pöbelnde, sich selbst vernichtende Niete die Ordnung des Sozialen stört. Im digitalen Zeitalter der Nullen und Einsen mit Smartphone ist diese Frage politisch.
Alle Zitate aus Dostojewskijs Text entstammen der von Hermann Röhl übersetzten Ausgabe, die 1984 im Reclam Verlag erschien.
Philippe Roepstorff-Robiano ist Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Autor. Zuletzt erschienen sind die literaturwissenschaftliche Arbeit Kreditfiktionen. Der literarische Realismus und die Kunst, Schulden zu erzählen (2020, Wilhelm Fink Verlag) und die Übersetzung von René Crevels surrealistischem Erstling Umwege (2019, zero sharp Verlag).