Özgür Uludag
Im April 2013 stand ich an der türkisch-syrischen Grenze und wollte nach A’zaz fahren, wo gerade die Freie Syrische Armee gegen Regierungstruppen kämpfte. Einige Tage zuvor wurde ARD-Auslandskorrespondent Jörg Armbruster von einem Scharfschützen in Aleppo in die Schulter getroffen; der IS, der sich selbst als Islamischer Staat bezeichnete, hatte weite Teile der irakischen Provinz Al-Anbar und einige syrische Provinzen unter seine Kontrolle gebracht, und die Al-Qaida bzw. Jabat al-Nusrat mischte sich immer mehr unter die Rebellen, die für eine Revolution kämpften, als ich am Grenzübergang Kilis stand und darüber nachdachte, ob ich den sicheren Boden unter meinen Füßen verlasse und in das vom Bürgerkrieg zerrissene Gebiet fahre. Neben der Gefahr durch militärische Gefechte war ich mit Kameraequipment auch noch leichte Beute für Räuber und Diebe. Gerade hatte ich an der türkischen Passkontrolle einen Stempel in meinen Reisepass bekommen und ging auf den syrischen Grenzposten zu, als mir erneut bewusst wurde, was für ein hohes Risiko ich einging.
Wozu? Ich wollte aufzeigen, warum die Menschen aus Syrien fliehen und ihrerseits ein sehr hohes Risiko auf sich nehmen. Was bedeutet es, tagein, tagaus in einem Kriegsgebiet zu leben? Manchmal verschieben sich Kampflinien bis vor die eigene Haustür. An anderen Tagen detonieren Granaten oder Bomben in unmittelbarer Nachbarschaft. Eine Frage der Zeit, bis das eigene Haus getroffen wird. Und dann noch das Risiko, vom IS oder syrischen Geheimdienst entführt und ermordet zu werden. Wenn das Risiko, zu Hause getötet zu werden, größer wird als auf der Flucht zu sterben, fällt der Entschluss zu fliehen. Wüsten, Berge und Meere, aber vor allem nationalstaatliche Grenzen werden überquert. Schutzlos sind die Flüchtenden Schleppern und Grenzsoldaten ausgeliefert. Genauso schutzlos war ich dem Polizeichef von A’zaz, Sheik Yussuf, ausgeliefert, als ich ihn für ein Interview im Gefängnis traf. Inzwischen hatte er sich der Jabat al-Nusrat angeschlossen, die mit der Al-Qaida sympathisierte, und am Stadtrand in Richtung Aleppo kämpfte noch immer die Freie Syrische Armee gegen die Regierungstruppen um eine Straßenkreuzung. Eine Frage der Zeit, bis sich die Front wieder verschieben würde und es gab keine Garantie, dass Polizeichef Sheik Yussuf mich nicht einsperren würde.
Eine Frage der Zeit, bis sich die Fronten wieder verschieben würden.
Ist das Risiko zu hoch? Eine freiwillige Abwägung, vor der Kriegs- oder Krisenberichterstatter:innen immer stehen, wenn sie rechtsstaatlichen Boden verlassen, um aus einem schwer umkämpften rechtsfreien Raum zu berichten. Es geht immer darum, das Risiko einzugrenzen: Das bedeutet, aktuelle Agenturmeldungen zu verfolgen, Genehmigungen bei sich zu haben und verlässliche Kontaktpersonen zu kennen. Meine Kontaktperson war Osman. Er studierte in Japan Wirtschaftslehre und kam zu Beginn des Bürgerkrieges zurück nach A’zaz, wo er geboren worden war. Gemeinsam mit seinen Freunden, zu denen auch der Polizeichef Sheik Yussuf gehörte, half er nun dabei, überlebensnotwendige Strukturen wie Bäckereien, Müllabfuhr, Stromerzeugung usw. aufrechtzuerhalten, nachdem die staatliche Verwaltung zusammengebrochen war. Häuser in der Umgebung und Wohnblöcke im Stadtzentrum von A’zaz wurden von Fassbomben, Granaten und Raketen zerstört. Dort haben dann Überlebende keine Alternative mehr als zu fliehen. Doch ihre Flucht endet oft an nationalstaatlichen Grenzen in Flüchtlingscamps, wie in jenem direkt am Grenzübergang zur Türkei. Ganze Familien lebten dort bereits seit vielen Monaten in Zelten. Einige Taschen mit Kleidung, Matratzen und Decken hatten sie noch mitnehmen können. Und selbst wenn sie mehr mitgenommen hätten, würden sie mit dem Hausrat nicht weit kommen, schon gar nicht über die türkische Grenze. Seit Monaten ist der Grenzübergang Kilis für Fliehende geschlossen. Zu viele sind bereits in die Türkei geflohen, und zu wenige wollen weiter nach Europa. Zu gefährlich und zu ungewiss wäre das. Einige wenige gehen das Risiko aber dennoch ein. Zu gering ist ihre Perspektive in der Türkei.
Um nicht nur die Fluchtursachen, sondern auch die Hürde aufzuzeigen, die für Fliehende nach Europa am schwersten zu überqueren ist, habe ich in Istanbul einen Schlepper begleitet, der Geflüchtete zur türkisch-bulgarischen und manchmal zur türkisch-griechischen Grenze bringt und dort über den Grenzfluss Evros/Meric nach Europa einschleust. An dieser EU-Grenze wurden in den vergangenen Jahren bereits mehrere Geflüchtete von griechischen Grenzsoldaten gezielt erschossen. Andere wurden zurück in die Türkei gebracht, sogenannte Pushbacks, und wer Glück hat, landet in einem griechischen Flüchtlingscamp und kann dort einen Asylantrag stellen.
Von der Türkei in die EU einzureisen ist für mich hingegen, mit deutschem Pass, kein Problem. Mein Risiko als Journalist bestand dagegen darin, gemeinsam mit dem Schlepper und seinen Spähern an der Grenze von türkischen Grenzsoldaten oder Polizisten aufgegriffen zu werden. Ohne Presseausweis oder Drehgenehmigung im türkischen Grenzgebiet mit einem Schlepper unterwegs zu sein, macht mich zu seinem Komplizen. Und wozu das Ganze? Also wozu all diese Risiken eingehen? Um die Gegenwart zu zeigen, die auf die Zukunft der Fliehenden blickt.
Özgür Uludag, *1976, ist promovierter Islamwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist aus der MENAT Region (Middle East, North Africa and Turkey) aus Nahost für ARD, ZDF, ARTE und Zenith – Zeitschrift für den Orient. Für seine Arbeiten wurde er mit dem Grimme-Preis und dem Grimme-Online-Award ausgezeichnet, sowie für den Marler Menschenrechtspreis von Amnesty International nominiert. Er erhielt das Rudolf-Augstein Stipendium für Soziales sowie das Richard-Holbrooke Recherche-Stipendium für Nah-Ost. Er ist Mitglied bei den Neuen Deutschen Medienmacher:innen und im Hamburger Aktivisten- und Künstlerkollektiv Das Gängeviertel. Er ist Praxisfellow an der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft an der Frankfurter Goethe-Universität und außerdem kann er Vögel mit dem Mund fangen (türkisches Sprichwort).