Ein Gespräch mit Lucía Muriel geführt von Kevin Rittberger

 

Rittberger: Wir wollen Autonomie von verschiedenen Seiten betrachten und herausfinden, wer einen Zugang zu ihr hat und wem sie eher verwehrt bleibt, wann Autonomie aufblühen kann und wann sie blockiert wird. Lucía, du bist Psychotherapeutin, Supervisorin, Prozessbegleiterin und tätig in der antirassistischen und dekolonialen Bildungsarbeit. Du bezeichnest dich selbst als dekoloniale Therapeutin. Was verstehst du unter deiner Arbeit, wie hast du selbst deinen Zugang zur Autonomie gefunden?

 

Muriel: Der Begriff „dekolonial“ ist zurzeit in eine Konjunktur geraten und wird sehr viel benutzt, oft im Unwissen darüber, was er genau bedeutet. Mich begleitet dieser Begriff, seitdem ich bewusst als politischer Mensch denke, also bestimmt seit meinem sechzehnten Lebensjahr. Verbunden ist damit die Dekonstruktion von Machtgefällen sowie aller Kategorien, die wir in dieser Gesellschaft oft von klein auf mitbekommen haben. Ich komme aus Ecuador, meine Mutter ist mit meiner Schwester und mir in die DDR eingewandert, wo ich aufgewachsen bin. Sehr früh habe ich erlebt, dass es Ausgrenzung gibt, und mich gefragt: Wie funktioniert Ausgrenzung? Woher kommt sie? Warum werden schon Kinder ausgegrenzt und gelabelt, die ja am wenigsten etwas dafür oder dagegen tun? In meiner Beschäftigung habe ich gelernt, dass wir Unterdrückung lernen. Dass wir Machtgefälle verinnerlichen. Dass wir lernen, auf andere herabzuschauen. Ich habe mich für ein Psychologiestudium entschieden und mich in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen psychologischen Theorien immer daran orientiert, welche kolonialen Denkformen auch in diesen Theorien stecken, beispielsweise die weiß-dominante Lehre. Das habe ich versucht, so früh ich konnte, so stark ich konnte, bis heute, zu dekonstruieren. Und so begegne ich auch meinen Klient:innen.

 

Rittberger: Du bist nach Westberlin gegangen und hast dort studiert, richtig?

 

Muriel: Genau. Als ich achtzehn Jahre alt war, konnte ich selbstbestimmt, also autonom, entscheiden, nicht mehr weiter in der DDR zu leben, und bin in das damalige Westberlin gegangen. Ich konnte das, denn ich hatte zum Glück einen eigenen Pass, also keinen DDR-Pass. In Westberlin konnte ich dann Psychologie studieren, was ich in der DDR nicht gedurft hätte. Als Psychologin habe ich festgestellt, dass es das eine ist, Therapeutin zu sein, aber das andere, mit dem Wissen über die Menschen, über ihre Wurzeln, über das, was wir lernen, in die Bildungsarbeit zu gehen − ich habe auch Erziehungswissenschaft studiert und bin zunächst in die Bildungsarbeit gegangen. Angefangen als Therapeutin zu arbeiten habe ich erst viel später. 

 

Rittberger: Wie würdest du rückblickend die Erfahrung beschreiben, zunächst einmal in einem realsozialistischen Land aufgewachsen zu sein, wo es ja zumindest ideologiehalber diese Solidarität mit den sozialistischen Bruderstaaten gab, den Internationalismus, und dann eine Sozialisierung im Westen erlebt zu haben?

 

Muriel: Ich habe bereits in der DDR gelernt, was Rassismus heißt und was Spätfolgen der Nazi-Ideologie alles anstellen können. Vom „großen sozialistischen Geist“, an den beispielsweise meine Mutter sehr geglaubt hat, habe ich nicht wirklich viel mitbekommen. In meiner Familie und meiner Erziehung hat die „Utopie des Kommunismus“ eine bedeutende Rolle gespielt. Aber zum Glück hatte ich eine Mutter, die auch sehr kritisch gewesen ist, und diesen kritischen Blick und den Mut, immer wieder hinterfragend auf das zu schauen, was mich umgibt, habe ich von ihr mitbekommen. Ich habe gesehen, dass der real existierende Sozialismus, so wie ich ihn kennengelernt habe, viele Fehler produziert. In Westberlin bin ich dann auf Menschen, auf Themen, auf Bewegungen gestoßen, die sich viel intensiver mit der Vergangenheit beschäftigt haben, auch mit der Friedensbewegung beispielsweise und feministischen Debatten und Diskursen. Ich habe mich dort viel stärker wiedergefunden. 

 

Rittberger: Kommen wir mal auf deine therapeutische Tätigkeit zu sprechen: Du hast seit zehn Jahren eine eigene Praxis und arbeitest vorwiegend mit Klient:innen of Color. Wenn wir jetzt den Begriff der Autonomie nehmen: Arbeitest du mit diesem Begriff, und wann funktioniert er und wann nicht?

 

Muriel: Interessanterweise habe ich nicht nur BIPoC-Klient:innen, sondern auch sehr junge Menschen, die zu mir kommen mit Fragestellungen in die Richtung: „Was für ein Mensch möchte ich werden? Was habe ich gelernt? Macht mich das glücklich? Was kann mein Leben sein? Es kann doch nicht sein, dass Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen mein Leben bestimmen sollen.“ Ich erlebe die jungen Menschen im Spannungsfeld zwischen der Entwicklung und Entfaltung der Autonomie. Auf der einen Seite das Finden der eigenen Autonomie und auf der anderen Seite diese kapitalistisch geprägte Individualisierung. Zum einen erleben sie, dass die Suche nach Autonomie oft sanktioniert wird, sowohl von Eltern als auch von der Gesellschaft, zum anderen hat in dieser Gesellschaft die Individualität einen hohen Wert. Wenn sie sich an diesem Wertekanon orientieren, dann müssen sie Individualisten werden, um anerkannt zu werden. 

Was ich in den Therapien in Bezug auf die Autonomie ebenfalls sehr stark erlebe, ist das Kämpfen darum, nicht die Kopie des Vaters oder Großvaters zu werden, oder sich dem zu widersetzen, was man vom Deutschlehrer gelernt hat. Diese widerständige Auseinandersetzung mit dem Gelernten halte ich für eine sehr wichtige Ressource der Entwicklung. Und auch aus dekolonialer Perspektive finde ich das wertvoll. Deshalb ermuntere ich meine Klient:innen auch, sich selber in der Gesellschaft neu zu hinterfragen. Viele meiner männlich gelesenen Klienten möchten sich zum Beispiel mit ihrer Rolle als Mann auseinandersetzen und eine neue Männlichkeit entwerfen.

 

Rittberger: Wie sieht die aus?

 

Muriel: Wir leben in einer Zeit, in der wir Frauen sehr viel verändert und erreicht haben, zum Beispiel den Anspruch auf Gleichberechtigung. Aber viele Männer lernen in ihrer Kindheit nicht, was Gleichberechtigung für sie heißt. Sie lernen oft: Du bist als kleiner Junge und zukünftiger Mann auf die Welt gekommen, dir wird es also erstmal um einiges besser gehen, besonders wenn du weiß bist. In ihren Liebesbeziehungen stellen sie fest, dass eine horizontale Beziehung bis zu einem bestimmten Punkt wunderbar ist, aber was passiert, wenn die Partnerin sich auf einmal eine offene Beziehung wünscht? Ich erlebe Männer in schwersten panischen Zuständen, Depression, Angst, die einerseits ihre Beziehung nicht verlieren wollen, andererseits vor ihrer eigenen Grenze stehen und nun wieder verlernen müssen, was sie über Besitz, Eigentum etc. gelernt haben. Das ist oft der Prozess, dass die jungen Männer sich darin begegnen und darin auch ein Stück weit weicher werden können und merken, dass sie erst einmal lernen müssen, sich selbst anzuerkennen und zu lieben.

 

Rittberger: Sind in deiner Praxis auch toxische Beziehungen ein Thema? Welche Rolle spielt die Autonomie da?

 

Muriel: Das Thema toxische Beziehungen bringen viele Klient:innen mit in die Praxis, die an Grenzen stoßen, an Grenzen des Respekts, aber eben auch der Anerkennung ihrer Autonomie als Frau, als Mutter usw. Das hat natürlich viel damit zu tun, was man an toxischen Mustern gelernt hat, zum Beispiel die männliche Dominanz, die für so selbstverständlich gehalten wird. Ich glaube, das ist eine falsch verstandene Autonomie, eben eine patriarchale Denktradition. 

 

Rittberger: Du hast die Unterdrückungsmechanismen wie Klassismus, Rassismus und Sexismus angesprochen. Wenn wir jetzt mal eine utopische Welt entwerfen wollen, in der alle ihren Platz haben und Respekt erfahren: Wir haben schon gehört, dass es der reale Sozialismus für dich nicht gewesen ist, der für die meisten Menschen heute an Attraktivität verloren hat. Es gibt eine Praxis, die die im letzten Jahr verstorbene Commons-Forscherin Silke Helfrich beschrieben hat, in der 1500 Menschen sich radikaldemokratisch selbst organisieren und für zwei- bis dreihunderttausend Menschen in Venezuela Nahrung herstellen. Das ist der Versuch der Ernährungssouveränität, und auch die Gesundheitsversorgung scheint über diese Praxis der Selbstorganisation zu funktionieren. Es gibt ja viele dieser Versuche, kooperativer zu arbeiten, zu wirtschaften und auch die Eigentumsfrage wieder anzugehen. Sind diese Modelle für dich auch hier in unserer Gesellschaft anwendbar? 

 

Muriel: Ja, es gibt eine Suche nach neuen Praktiken. Ich berate beispielsweise Gruppen, die sich auf den Weg machen, Kollektive zu gründen. Ich habe diesen Blick von Ganzheitlichkeit und stelle fest, dass es in vielen Punkten notwendig ist, genau diese Dekonstruktionsarbeit zu machen und uns selbst zu hinterfragen: Wo bin ich weiß-dominant, paternalistisch, patriarchal? Mit welchen Mustern stehe ich selber im Leben? Wie weit habe ich beispielsweise mein Verhältnis zu Eigentum dekonstruiert? Ich stelle mich selber täglich vor die Herausforderung, mich mit den Wissenschaften und Theorien dekolonial auseinanderzusetzen und zu schauen, wo dieses dominante, pseudo-wissenschaftliche weiße Denken drinsteckt, das uns in solchen Kollektiven und im Zusammenleben auf die Füße fällt. 

 

Rittberger: Ich danke dir für dieses Gespräch. 

 

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Lucía Muriel *1955 in Ecuador, lebt seit ihrer frühen Kindheit in Deutschland. Sie ist Psychotherapeutin mit eigener Praxis und engagiert sich in der antirassistischen und dekolonialen Bildungsarbeit, hält Vorträge und Workshops und initiierte die Gründung mehrerer migrantischer Organisationen und Verbände. Gegenwärtig leitet sie bei glokal e.V. das Projekt Klima Dekolonial und solidarisch

 

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