von Kevin Rittberger
Der wohl liebevollste Satz, der je geschrieben wurde über die menschliche Seele, lautet wie folgt: „Je tiefer ich mich in mich selbst heimkehre, umso mehr werde ich der Welt teilhaftig.“ Diesen Satz sagte oder vielmehr schrieb Gustav Landauer, der 1919 beim Versuch, in Bayern eine Räterepublik zu wagen, von reaktionären Freikorps ermordet wurde. Landauer hatte während der Räterepublik neun Tage den Posten der Volksaufklärung inne. Welche neuen machtarmen und vielfältigen Beziehungsweisen eine länger währende Räterepublik ermöglicht hätte, hängt in den unabgegoltenen Staubfängern der Historie fest. Fest steht allerdings: Selbst ein Volksaufklärer vom Kaliber Gustav Landauer hätte einige Appelle an aufmerksame Bürger*innen richten müssen, um sich mit diesem Satz verständlich zu machen. Oder sprach der Satz bereits für sich? Konnte sich ein jeder Mensch mit ihm verflechten und tagein, tagaus um eine Schleife reicher aus dem Vollen schöpfen? Vielleicht hätte Landauer, um die vorübergehend notwendige Selbsteinkehr zu begründen, seinerseits mit der Historie aufgewartet. Ich schätze, Landauer hätte, anhand einer Anekdote, auf Jean-Jacques Rousseau verwiesen und dessen Gesellschaftsvertrag. Er hätte sich erinnert, dass Rousseau im Mai 1743 auf einem Schiff im Hafen von Genua anlandete und aufgrund der Auswüchse der Pest, so wie die übrigen Passagiere, vor die Wahl gestellt wurde, die notwendige Quarantäne einundzwanzig Tage auf selbigem Schiff zu verbringen oder in einem leerstehenden Gebäude. Rousseau wählte letzteres und damit als einziger die Isolation.
Wir wollen uns also einen Augenblick vorstellen, wie es geklungen hätte, wenn der muntere, zu Anekdoten aufgelegte Landauer zum Volk – „Ich mag das Wort nicht, können wir uns bitte auf Bevölkerung einigen?“ – gesprochen hätte. Sagen wir die Republik wäre im fünften Jahr, 1923. Und die NSDAP wäre aufgrund der raschen Verbreitung und Popularität des Rätegedankens zwar gegründet worden, aber gleich wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Landauer hätte also gesagt:
„Liebe Bevölkerung! Ich möchte unter diesem freien Maihimmel einen Moment des Innehaltens mit euch erschaffen, indem ich einen Satz spreche. Und ich wünsche mir, dass ihr ihn alle nachsprecht. Jedoch im Stillen. Jede und jeder für sich. Und dass ihr in eurem Inneren horcht, auf welchen resonanten Boden dieser Satz fällt und wo die Phantasie bereits durch die Decke geht. Und wo, nicht zuletzt, unsere Phantasie noch nicht genügt, ihm einen Nährboden zu bereiten, seine Wirkung weitergehend zu entfalten.
Also hört: ‚Je tiefer ich mich in mich selbst heimkehre, um so mehr werde ich der Welt teilhaftig.‘ Merkt euch diesen Satz und sprecht ihn im Stillen noch einmal! Sprecht ihn so lange, bis er in eurem Inneren angekommen ist, bis ihr ihn selbst denkt.
Ich möchte, wenn ihr ihn gesprochen habt und zu diesem Zwecke werde ich nun selbst still sein – an einen anderen Gesellschaftsvertrag erinnern, zu dem wir Stunde für Stunde, schlagendes Herz für schlagendes Herz, antreten. Und ich möchte, dass ihr diesen Vertrag nun zunächst in euch selbst sucht. Mit welcher Liebe, so möchte ich fragen, beschenkt ihr euch denn selbst? Fragt euch das, als wäret ihr der einzige Mensch! Wie gut haltet ihr es mit euch selbst aus? Und wann seid ihr bereit, eure Selbstliebe dergestalt auszuschütten, dass sie nicht wie ein blind entflammtes Herz überbordet, sondern maßvoll auch allen anderen zugutekommt, den Liebsten, den zu Umsorgenden und den anderen? Und wer sind denn alle anderen?
Ich möchte, liebe Bevölkerung, an Jean Jaques Rousseau erinnern, der 1743, während in Europa die Pest wütete, einundzwanzig Tage in völliger Isolation ein ganzes leeres Gebäude bewohnte, in der Abgeschiedenheit der Quarantäne, und dort mit Sicherheit die innere Arbeit tat, die nötig ist – das glaube ich wirklich! – um sich den allgemeinen Beziehungsweisen zu widmen. Man könnte meinen, er sei vor Einsamkeit verzweifelt. Nichts dergleichen! Der radikale Denker ist erst dann in seinem Element. Rousseau schreibt, auf der lichtdurchfluteten Marmortreppe des Atriums sitzend: „Ich machte mir es so bequem, dass ich es, wenn ich von den Vorhängen und Fenstern absehe, in diesem vollkommen kahlen Lazarett fast ebenso angenehm hatte wie in meinem Ballhause in der Rue Verdelet.“
Nun, es gilt die Umstände so zu schaffen, dass eine Einsamkeit nicht nur erträglich wird. Es gilt die Weltbezüge so stillzustellen, dass eine Seele sich beruhigt, bevor sie sich wieder zu allen anderen Seelen hinträumen, ihnen alle Annehmlichkeiten, ihnen einen gemeinsamen Boden bereiten kann.
Es gilt, es mit sich selbst nicht nur auszuhalten, sondern sich selbst eine Heimkehr im eigenen Körper zu ermöglichen. Eine Heimkehr, die nicht zu verwechseln ist mit den Umarmungen von Freunden, den Liebsten, der Familie, dem Mischen der Karten, den stolzen Herausforderungen an die Selbstdarstellung, nicht zuletzt den martialischen Flaggen und Ikonen der rührselig-heldenhungrigen Gemeinschaft. Es gilt, mit sich unvergleichlich einsam, eine Schwingung ins Unendliche einzupendeln, so dass der lose und sich stets ins Ungewisse übende Geist eine Fülle an Wohlklang erlebt, um von dieser Musik begleitet einzustehen für die allgemeinen Interessen. Und diese wollen, auch und gerade im Inneren, geübt sein wie vor einer kahlen Wand. Um sie mit Hingabe und Liebe und Dankbarkeit anzunehmen als die eigenen. Es geht um die Teilhaftigkeit an der Welt, den eigenen inneren lebendig liebenden Anteil an der Welt, an ihrem Klima; den Anteil, der aus der Einsamkeit erwächst und nur aus dieser.
Ich danke euch fürs Zuhören und dafür, dass ihr diesen Satz nun in euch tragt.“
Ohne Frage hatte bereits Rousseau Landauers Satz auf den Lippen, auch wenn er ihn nie ausformulierte. Hätte er ansonsten die Quarantäne in der Quarantäne gewählt? Nun fragen Sie sich trotz der sichtlich kontrafaktischen Episode aber sicherlich, warum ich diesen Satz für einen liebevollen halte; einen liebevollen und kräftigen, der unserer Zeit angemessen wäre. Nun gut, ich will mein Herz öffnen. Ich denke, wir fallen aus der Zeit und in die Zeit hinein. Und ich denke, dass es sich leider verbietet, in dieser Zeit von Utopien zu schwärmen. Und ich bleibe dabei: Ich meine mit der Utopie wirklich die reinste Versenkung ins Innerste, den Ort, an dem noch niemand wirklich war. Auch nicht die reinste Seele in der Abgeschiedenheit der tibetanischen Anhöhe nach fünfundzwanzig Jahren Versenkung. Erst recht nicht den Narzissmus der nur noch Selbstverliebten. Ach und: Rousseau und Landauer hätten das Wort Selbstoptimierung nicht zu buchstabieren gewusst.
Naja, unsere Zeit ist so von Ablenkung und Zerstreuung durchdrungen, dass die wenigsten nun diese von Kontaktsperre, Abstandszwängen und Einpferchung bestimmte Irrfahrt ins Ungewisse als Heimkehr empfinden wollen würden. Für die einen fehlt es schlicht an materieller Gewissheit, sich die Einsamkeit voller Wonne aus der Nähe anzusehen; den anderen ist das Heim in unerreichbarer Ferne – wie könnten sie das In-sich-selbst-Heimkehren anders denn als ausweglose und blanke Not erleben; den nächsten wiederum, den Selbstorganisationsfähigen, fehlt die Massenbasis, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Armut, Flucht, Nomadentum.
Was bleibt nun vom besagten Satz, wenn es kein biedermeierliches Abbild wäre? Sagen Sie es mir!
Lieben Sie sich selbst, bevor Sie einen nächsten lieben? Auf wie viele Menschen wären Sie bereit, Ihre von Krämerseelen durchgeboxte Liebesfähigkeit aufzuteilen?
Landauer, der mystische Anarchist, wäre sicher bereit gewesen, bei aller Selbstversenkung, die Räte über die notwendigen Verordnungen entscheiden zu lassen. Eine Seuche oder Epidemie hätte den Räterepublikaner sicherlich nicht gleich nach dem starken Vater Staat schreien lassen. Wohl vorbereitet wäre er gewesen, den liebevollen Satz in der Bevölkerung weiterhin rotieren zu lassen, auf dass er sich auch in der letzten Ecke der Welt manifestierte. Denn dass die noch ein jedes kriselnde Gemeinwesen heilende Kraft der Liebe sich von Staat, Nation und Blut ernähre, daran zweifelten gewiss bereits die historisch Geistesgegenwärtigen seines Schlages.
Freiheit, Gleichheit und Solidarität brauchen ja die permanente Praxis. In die Enge getrieben faltet sich der ungeübte Geist zusammen. Je mehr eine Seele sich jedoch die Praxis der inneren Arbeit gönnt, das Mit-sich-selbst-Kooperieren, desto eher zieht sie auch das Glück der Vielen an. Und noch auf jede Vorbereitung im stillen Kämmerlein folgt ja die Versammlung.
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Kevin Rittberger ist Autor und Theaterregisseur. Er ist Gewinner des Kurt Hübner Regiepreises, des Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatikerpreises. Am Schauspiel Hannover entwickelte und inszenierte er das Stück The Männy. Eine Menschtierverknotung. Er lebt in Berlin.
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