von Cornelia Oestereich
Der Begriff Autonomie braucht einen Referenzrahmen. Für sich allein stehend hat er keine Relevanz. Er muss kontextualisiert werden.
Autonomie in Bezug auf was? In Bezug auf Ideen, in Bezug auf Kritik? In Bezug auf Partnerschaft? Auf Ideologien? Auf Abhängigkeit?
Autonomie wovon? In welcher biografischen Situation? Welchem Lebensalter? In welcher Kultur? In welcher Gesellschaft?
Autonomie findet nicht alleine statt. Es ist also zu fragen: Wie sehen andere Beteiligte ein Streben nach Autonomie (z. B. elterliche Bezugspersonen im Kindesalter, bei Heranwachsenden)? Gibt es ein Zuviel oder Zuwenig an Autonomie? Gibt es Angst vor Autonomie? Vermeidung von Autonomie?
Wie reagieren Partner:innen auf die Autonomiebestrebungen ihrer Lebenspartner:innen? Eher unterstützend? Eher ängstlich? Vielleicht mit Verlassenheitsbefürchtungen? Versuchter Verhinderung? Engerer Bindung?
Und weiter: Autonomieentwicklung wohin? Was soll erreicht werden? Und woran wird jemand merken, dass er/sie dem Ziel, autonomer zu werden, nähergekommen ist? Konkret woran? Wie sieht das Leben dann anders aus? Wie fühlt es sich dann anders an? − Und woran werden die jeweiligen Bezugspersonen dann merken, dass ein neues Maß an Autonomie erreicht wurde? Reagieren sie darauf eher mit mehr Verbundenheitsbestrebungen oder eher mit mehr Eigenständigkeit? Wie sieht das Leben dann konkret für diese Personen aus?
Autonomie als Erziehungs- und Lebensziel ist ein vor allem der westlichen Kultur zugerechneter Wert. Andere Kulturen benennen vielleicht eher kollektive Zugehörigkeit als bedeutsamen Wert. Es würde eher die Fähigkeit zur Verbundenheit als die Fähigkeit zur Autonomie als Erziehungsziel formuliert. Zu fragen ist daher auch: Passen die Autonomiebestrebungen einer Person in die jeweilige Kultur? Besonders deutlich wird diese Frage am Beispiel von Familien im Migrationsprozess, wenn beispielsweise Heranwachsende einem anderen Autonomie-Ideal folgen (möchten) als dem bisher in der Familie vertretenen und vielleicht zurückgehalten werden, was zu tiefgreifenden familiären Konflikten führen kann.
In Menschen gibt es immer beide Pole: das Streben nach Zugehörigkeit und das Streben nach Eigenständigkeit. Dies ist schon an Babies und Kleinkindern zu beobachten: Deren Entdeckerlust, die Welt zu „erobern“, gelingt dann besonders gut, wenn eine verlässliche Bindung an die Bezugspersonen besteht − hinaus in die Welt mit der sicheren Zugehörigkeit zu Bezugspersonen, zur Familie, zur Gemeinschaft, zur Kultur als Ressource.
Streben nach Autonomie ist ohne Sehnsucht nach Bindung, nach Verbundenheit und Zugehörigkeit (zu Menschen, zu Ideen u. a.) nicht einzuordnen und sollte jeweils dazu in Beziehung gesetzt werden. Menschen finden in unterschiedlichen Lebenssituationen und Lebensphasen und in unterschiedlichen Kulturen je unterschiedliche Balancen zwischen Autonomie und Verbundenheit. Wir Menschen bewegen uns ständig auf einem Kontinuum zwischen diesen Polen. Autonomie ist also nichts Statisches. Diese grundsätzlich vorhandene Ambivalenz muss immer wieder neu austariert werden.
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Cornelia Oestereich *1952, ist Psychiaterin, Psychotherapeutin, Familientherapeutin. Lange Jahre war sie Chefärztin der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrie Wunstorf bei Hannover. Sie arbeitete in vielen Gremien sowie als Lehrbeauftragte.
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