Kevin Rittberger im Gespräch mit Eva von Redecker
Rittberger: Eva, bevor wir in unser Thema eintauchen: Du bist Philosophin, Publizistin und Autorin. Du hast viele Aufsätze und Bücher geschrieben, zum Beispiel Revolution für das Leben und Schöpfen und Erschöpfen gemeinsam mit Maja Göpel. Es sei auch erwähnt, dass du das neue Vorwort für Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer verfasst hast.
Nun zur Autonomie. Autonomie, das bedeutet für mich: Freiheit, Unabhängigkeit, aber auch Selbst-Übereinkunft und Selbstverwaltung, Für mich braucht individuelle Autonomie einen inneren Kompass, Ruhe, eigenverantwortliches Handeln, Widerständigkeit, sie kann aber auch voller blinder Flecken sein, ignorant, eigennützig, kann den Zugang zu Privilegien unterschlagen. In unserer Reihe „Autonomie" versuchen wir von „relationaler Autonomie zu sprechen. Magst du dich zu dieser Differenz verhalten und sagen, ob du damit etwas anfangen kannst?
von Redecker: Im Grunde sind sich ja alle Linken und gegenwärtig feministischen Linken einig, dass relationale Autonomie auf jeden Fall die Richtung ist, die eingeschlagen werden muss. Es gibt diesen rechtslibertären Wahnsinn, der gerade die Welt regiert und bei dem man denkt, frei sein bedeutet, allein auf seiner Scholle zu sein. Das ist ein Extrem von individualistischer Autonomie. Letztens hatte ich ein Gespräch mit dem zwölfjährigen Sohn eines Freundes, der meinte, am freiesten wäre er, wenn er allein auf dem Mars wäre. Dass unsere moderne Freiheitsidee einen Anker in der individuellen Erfahrung hat, wird man, glaube ich, nicht so leicht los. Und wenn man − wie das inzwischen auch alle vernünftigen Liberalen machen − sagt, jaja es gibt individuelle Freiheit, aber die hat kollektive und relationale Bedingungen, dann kommt diese Relationalität für meinen Begriff häufig zu spät. Mich interessiert ein sozialer, ökologischer und irgendwie pluraler Freiheitsbegriff, der erlaubt, dass man diese Erfahrung der Freiheit, diese Kern-Verheißung, um die es in der Befreiung geht, auch wirklich empfinden und erfahren kann. Wenn man es mit der relationalen Autonomie ernst meint, muss man es schaffen, dass die Beziehung nicht nur eine Bedingung der Freiheit ist, sondern ihr Erfahrungsspielraum. Damit meine ich, dass man in dieser Pluralität wirklich die Freiheit empfinden kann und dass die Beziehungen zu den anderen nicht Bedingung, sondern selber Entfaltungsräume der Freiheit sind. Das wäre die Aufgabe.
Rittberger: Du hast ja gerade den Begriff des Rechtslibertären verwendet. Gelten in deinen Augen Putins Bande oder Trumps Männerclub auch als rechtslibertär?
von Redecker: Ich würde sagen, es gibt sehr interessante Verbindungen zwischen der eurasischen Ideologie, die dem Putin'schen Z-Faschismus unterliegt, und dem rechtslibertären Alt-Right-Individualismus und Faschismus, aber das ist trotzdem nicht das gleiche Projekt. Die eurasische Ideologie beruht nicht primär auf Phantombesitz am eigenen Körper oder an der eigenen Eigentumsfreiheit, sondern auf Phantombesitz am kollektiven Besitz an Land, ist also eine Art heteropatriarchale Gesellschaft, die in bestimmte Hierarchien, Unterordnungen, Plünderungslogiken auf Dauer gestellt ist. Dieses eher kollektivistische Projekt ist ein Gegenmodell zum, so beschreibt es der Putin-nahe Soziologe Alexander Dugin, durch die individuelle Freiheit dekadent gewordenen Westen. Der Ausweis der Dekadenz ist, dass es dort so viele Lesben, Schwule und Transmenschen gibt, was laut Dugin die automatische Folge davon ist, dass man überhaupt individuelle Freiheit annimmt. Wenn du sagst, die Leute sind frei, dann suchen sie sich am Ende ihr eigenes Gender aus, und dagegen hilft nur ein kollektivistisches, konstruktivistisch-faschistisches Projekt. Das Interessante ist, dass genau in dieser Obsession über Gender als zu eliminierende Feindkategorie sich die feministische und die kollektivistische eurasische Ideologie super verstehen. Dennoch kann man, glaube ich, sagen, dass das Freiheitsprojekt bei den Rechtslibertären mehr im Zentrum steht und das patriotische kollektivistische Projekt mehr im Zentrum der eurasischen Ideologie.
Rittberger: Der rechtslibertäre Freiheitsbegriff würde bedeuten: Ich bin frei von etwas und niemand pfuscht mir ins Handwerk, wenn ich zum Beispiel eine Waffe in die Hand nehmen will. Doch der positive Autonomiebegriff, den wir für die relationale Autonomie brauchen, wäre vielleicht eher: Ich bin frei für etwas, ich kann mich entschließen, etwas zu tun. Ist es das, was du auch gerade mit der Fülle meintest?
von Redecker: Ehrlich gesagt sehe ich die Fülle eher als einen alternativen Versuch, diese Debatte zwischen negativer und positiver Freiheit neu anzugehen. Weil mir nämlich scheint, dass es eine zu harmlose Rekonstruktion der libertären Freiheit ist, sie als negative Freiheit zu verstehen. Negative Freiheit – negativ nämlich durch die Abwesenheit von Zwang − zeichnet, glaube ich, das Vertragssubjekt aus. Das ist alles eine wunderschöne Architektur, aber ich glaube, in dem, was derzeit die rechte Mobilisierung treibt, sehen wir eben nicht ein rein negatives Projekt, Abwesenheit von Zwang, sondern es ist ein gewissermaßen finster-positives Projekt, indem es sagt, es habe die Freiheit zur vollen Verfügung über bestimmte Objekte. Im Rechtslibertären geht es nie ausschließlich um den Selbstbesitz, sondern zum Beispiel auch um Waffenbesitz oder die Verfügung über Reproduktionsfähigkeit von Frauen oder über rassifizierte Körper, zum Beispiel zur Ausbeutung. Ich glaube, wir wollen als Linke ganz andere Subjekte sein − beziehungsweise gar keine klassischen Subjekte im Sinne des Selbsteigentümer-Subjektbegriffs, sondern soziale Subjekte. Der Abbau von Privilegien wird als Befreiung gesehen, auch frei von Phantombesitz zu sein, frei zur Vergemeinschaftung, frei dazu, in jedem Gegenüber auch sich selbst finden zu können, aber auf Augenhöhe.
Rittberger: Jetzt hast du schon so selbstverständlich ein paar Begriffe fallengelassen, zum Beispiel Eigentum, Freiheit, Phantombesitz. Wie würdest du die mit dem Begriff der Autonomie in Verbindung bringen?
von Redecker: Ich würde sagen, die Freiheit in der Moderne ankert im Paradigma des Eigentums. Die spezifische Freiheit, die das moderne Eigentum verheißt, bedeutet, dass man in einem bestimmten eingegrenzten Rahmen machen kann, was man will. Diese Vorstellung von Willkür bringt uns zurück auf das, was wir eben mit der negativen Freiheit hatten, also völlige Abwesenheit von äußerem Zwang, aber auch von inneren Normen. Die volle Freiheit der Beliebigkeit verheißen zu bekommen, hängt von Anfang an als Muster mit der modernen Freiheit zusammen. Ich nenne das Sachherrschaft, wenn diese Beziehung eigentlich eine Herrschaftsbeziehung von einem Subjekt über ein Objekt, an dem man die Freiheit erfahren kann, darstellt. Besonders wenn sie zwischen Menschen stattfindet, aber auch die Beherrschung der Natur kann als Sachherrschaft gesehen werden. Die Natur wird als Ressource betrachtet, über die man vollkommen frei und grenzenlos verfügen kann, bis hin zu Missbrauch und Zerstörung. Wenn man das nicht könnte, dann könnte man den Kapitalismus komplett knicken. Die ganze Idee, so effizient wie möglich und profitausgerichtet für den Markt zu produzieren, bedarf dieser extremen Mobilisierbarkeiten und Beliebigkeit, die das Eigentum erstmal stiftet oder prägt. Wenn ein anzueignendes Objekt durch gelungene Emanzipation nicht mehr ohne weiteres verfügbar ist, dann entsteht Phantombesitz, der versucht, irgendwie die Souveränität des Eigentümers, die als Freiheit missverstanden wird, wiederherzustellen. Und gerade weil dem nicht so richtig etwas entspricht, ist die sicherste Nummer, immer zu testen, ob man ins Extrem gehen kann, nämlich in die Zerstörung.
Bei den ganzen Debatten um Meinungsfreiheit sieht man ziemlich gut, dass rechte Leute sich nur noch sicher sind, die Meinungsfreiheit innezuhaben, solange sie jemanden beleidigen und etwas kaputt machen können. Diese Zerstörungsdimension ist nicht einfach eine unmenschliche Aggression und auch kein Zufall, sondern bewegt sich in den Bahnen solcher Sachherrschaftsgeschichten von Eigentumsansprüchen, die eigentlich schon überwunden sind, aber dann umso mehr zurückkommen, weil man sich in der Zerstörung als funktionierender souveräner Eigentümer erfahren kann. Wenn ich sie schlagen darf, dann ist's wohl meine Frau. Das ist die volle Perversion der Logik des Phantombesitzes und die dunkle Unterseite der eigentlich ganz noblen individualistischen Freiheit. Und auch wenn wir als Linke individuelle Freiheit nicht wollen, ist es wichtig zu sagen, dass es eine helle und eine düstere individuelle Freiheit gibt und die vertragsnegative Freiheit nicht auf dieselbe Art fatal ist wie die Eigentümerfreiheit, die uns im Moment so krass auf die Füße fällt.
Rittberger: Um es nochmal konkret zu machen: Während der Pandemie ist die häusliche Gewalt angestiegen. Es haben hauptsächlich Frauen Sorgearbeit und migrantisch gelesene Menschen „Shit-Jobs“ gemacht, in denen sie einem höheren Risiko ausgesetzt waren. Würdest du sagen, dass dadurch der Phantombesitz auch wieder gewachsen ist und wir wieder näher an die Sachherrschaft gerückt sind?
von Redecker: Ja, und ich glaube, das kann man auch nochmal so rekonstruieren, dass dieser Phantombesitz immer eine Art von Kompensation oder auch Trostpreis ist, den es im Kapitalismus − wo die Vielen verlieren und nur wenige gewinnen − eigentlich immer braucht, um den relativen Verlust dennoch zu kompensieren. Ich glaube, dass eine Krisenphase wie die Pandemie den Druck stärker werden lässt, wieder Autorität zu akkumulieren und Beziehungen zu verdinglichen.
Rittberger: Du hast einen Revolutionsbegriff, der sich abwendet von einem Revolutionsereignis, dem, was bei Friedrich Engels mal „Kladderadatsch“ hieß. Du sagst, dass wir nicht auf die Wirkung der Revolution warten müssen, weil jetzt schon genügend solche Momente, Situationen, Anfänge von Gemeinschaft und Kollektivitäten da sind, die sich verbinden und ausweiten lassen. Du drehst damit das Ursache-Wirkungs-Verhältnis um. Somit ist dein Revolutionsbegriff viel langwieriger.
von Redecker: Wirkt auf den ersten Blick so, als wäre er unzureichend, oder? Vielleicht sollten wir erst einmal damit beginnen, dass ein Handlungsdruck wie beispielsweise die Klimakrise, die nicht individuell anzueignen und zu beherrschen ist, uns daran erinnert, kooperieren zu müssen. Die ökologische Revolution im Moment ist mehr als Re-Subjektivierung und funktioniert überhaupt nur, indem man bestimmte Praktiken der Zerstörung nicht nur aussetzt, sondern umkehrt. Was wir lernen müssen, ist eine ganz andere Art zu arbeiten, eine Art, die von der Reproduktions- und auch der Regenerationsarbeit ausgeht. Es ist nicht nur Reichtum umzuverteilen, sondern wir müssen uns auch der Gifte und Emissionen annehmen, die sich ausgebreitet haben. Deswegen ist mein Begriff im Akt der Revolution im Moment Weltwiederannahme. Damit meine ich, dass wir uns dem Unterworfenen, dem zum Eigentum Gemachten und in die Atmosphäre Gepumpten, diesen Substanzen annehmen müssen. Dass dieser Vorgang lange dauert, ist klar. Mir ist ein schwächlicher, langsamer Revolutionsbegriff lieber als gar keiner oder ein messianisch-apokalyptischer, der denkt, irgendwann knallt's und dann wird alles besser. Daran glaube ich nicht.
Rittberger: Diese Revolution müsste zunächst aus uns selbst heraus kommen. Es gäbe dafür keine Incentivierung, keine Partei oder Planwirtschaft, die uns Credits oder Anerkennung gäbe. Es handelte sich um selbstorganisierte, selbstgewählte oder selbstverwaltete Tätigkeiten.
von Redecker: Genau, aber weil du gerade das Stichwort der Incentivierung genannt hast, möchte ich noch ergänzen, dass Sinn der menschheitsgeschichtlich größte Driver überhaupt ist. Wir sehen auch im Moment, dass viele Leute ihre Arbeitsplätze verlassen und sich, sofern sie es können, aus der Lohnarbeit herauswinden. Es ist klar, dass selbst verheißungsvolle bürgerliche Karrieren an Sinn verloren haben. Es gibt so gut wie keine Institutionen mehr, die nicht neoliberal verhunzt sind, sodass ein großer Anreiz besteht, etwas Regenerierenderes, Sinnvolleres zu machen. Man muss die Wälder erst einmal besetzen, bevor man sie zum Mischwald machen kann, der mehr Regen freisetzt und weniger Waldbrandgefahr birgt und erst recht keine Autobahn ist.
Rittberger: Du hast das Vorwort geschrieben für die Dialektik der Aufklärung, und ich habe da einen ganz wunderbaren Begriff gefunden, „das Wagnis des Weichbleibens“, den du aus der Entwicklungsgeschichte des Oktopus ableitest, der sich vor 600 Millionen Jahren anders entwickelt hat als wir Menschen. Der Oktopus hat Krusten, Schalen und Panzer abgeworfen und ist weich geworden. Du hast den Begriff „das Wagnis des Weichbleibens“ vielfach benutzt, und mir scheint, dass dieser gerade ins Herz der Gegenwart trifft. Dem hinzugefügt hast du auch den Wunsch, dass Menschen sich trauen, ebenfalls ihre Panzerung abzuwerfen. Jetzt erleben wir in diesem Sinne wieder eine Art Rückschritt, denn momentan handelt alles von Waffenlieferungen, davon, sich zu panzern und wieder wehrhaft zu werden. Wie siehst du das Wagnis des Weichbleibens inmitten dieses Aufwinds der Notwendigkeit der Bewaffnung?
von Redecker: Wenn es leicht wäre, wäre es ja kein Wagnis. Deswegen muss man schauen, wann es geht und wann nicht. Das Wagnis des Weichbleibens ist ein Appell gegen die Wehrhaftigkeit als Selbstzweck, und das ist etwas anderes als die Notwehr und Selbstverteidigung im Fall des Angegriffenwerdens. Dass in der Ukraine jetzt Waffen gefordert werden, ist ja ein völlig anderer Akt in einem völlig anderen Kontext als diese 100 Milliarden für die deutsche Rüstung und erst recht der Diskurs darum. Den allerschlimmsten Diskurs finde ich ja den, in dem behauptet wird, jetzt sei die Realität zurück und alles vorher sei nur Pillepalle gewesen. Das ist das ultimative patriarchale Phantasma, das glaubt, diese Waffen seien das Realste. Seit der Erfindung der Atomwaffen geht es sowieso nur noch um die imaginäre Bedrohung, die eben immer den Overkill produzieren könnte.
Ich schreibe das Vorwort auf Deutsch in einen deutschen Diskurs hinein, und mir scheint, dass in einem Moment von wirklich ultimativer Erschöpfung – wie sie die kapitalistische, lebensgrundlagenzerstörende Wirtschaft erzeugt − es zwei Abzweigungen gibt: zur Regenerierung, zur Ko-Verletzlichkeit und Solidarität oder in die Härte, in die Opferlogik, in der man sagt, so ist es eben, ich erkläre die Erschöpfung zum Teil des Realitätsprinzips, und manche werden eben nicht durchkommen, das ist die Natur. Den Oktopus benutze ich als Allegorie für das, was bei Adorno und Horkheimer das Gegenbild zur „instrumentellem Vernunft“ ist. Sie sprechen die ganze Zeit von Verhärtung im Überlebenskampf, bei dem man sich gewissermaßen an die fiesen Kräfte angleicht, also das geschieht, was man psychoanalytisch dann „Identifikation mit dem Aggressor“ nennt. Der Gegenbegriff zu dieser Seite der Verhärtung ist das sehr schillernde und schwer greifbare Bild einer mimetischen Reflexion. Mimesis kann Verschiedenes heißen, zum Beispiel Nachahmung und Kopie. Doch der Kern dieses Begriffes bei Adorno und Horkheimer ist ein anderer, nämlich so etwas wie die Hingabe an das Gegenüber oder das Aufgehen in anderen. Das Wagnis des Weichbleibens ist auch immer das Wagnis des Selbstverlustes. Vorhin hatten wir von der Logik des Eigentums gesprochen, die drastisch zwischen Subjekt und Objekt trennt, und man kann sagen, dass die Idee der Mimesis dazu ein Gegenmodell darstellt, in dem Subjekt und Objekt ineinander übergehen, im Kontakt sind, auch im unbewussten verbalen Abgrenzungskampf stehen. Durch seine Weichheit, sein ständiges Form-Verändern hielt ich den Oktopus für eine schöne Versinnbildlichung von dieser Idee der Mimesis.
Rittberger: Mimesis muss ja nicht immer Nach-Ahmung sein. Es kann ja auch Vor-Ahmung bedeuten!
von Redecker: Oder Um-Ahmung!
Rittberger: Ich will nochmal weg von dieser philosophischen Grundierung und dich auch ansprechen als Revolutionstheoretikerin, die ja sehr viele der Protestbewegungen der letzten Jahre begleitet hat. Wie würdest du hier den Begriff der Autonomie definieren? Wie entsteht eine Bewegung, die transnational etwas erschüttern kann?
von Redecker: Damit aus etwas eine Revolution entstehen kann, braucht es die richtigen Verbindungen verschiedener Punkte und der aktivistischen Praktiken untereinander. Distribuierter Sozialismus beispielsweise beschreibt eine bestimmte Art, Verbindungen untereinander zu ziehen. Es gibt den Versuch, zwei Alternativen hinter sich zu lassen, nämlich die Alternative der völligen Dezentralität, wo sozusagen lauter kleine einzelne Wellen unabhängig voneinander agieren, und den Zentralismus, in dem alles auf einen Punkt zusammenläuft. Das wären zwei Arten, Verbindungen zu ziehen und Kollektive, Parteien, Bewegungen zu organisieren.
Die Idee des Distribuierten ist, dass es horizontale Verbindungen von möglichst vielen Punkten ohne ein Zentrum gibt. So ist das Internet als Kommunikationsinfrastruktur entstanden. Inzwischen sind die Datenflüsse durch diese Plattformkraken wieder sehr zentralisiert, aber als Kommunikationsnetzwerk hat es im Grunde genau diese distribuierte Struktur. Das ist auch eine Abstraktion des Modells der Rätedemokratie, wo man versucht, ganz verschiedene Bereiche der Gesellschaft immer in ihren jeweiligen Gremien zu organisieren und dann die Delegierten wieder miteinander in Kontakt zu bringen. Diese Verbindung zu stiften, ist dann sozusagen eine organisatorische Frage der Revolution. Und ich glaube, die Autonomie käme dann als Ziel und Methode hinzu, denn wir streben ja eine freie Gesellschaft an, also nicht nur eine befreite Gesellschaft, die die Herrschaft lediglich losgeworden ist, sondern eine, die immer größere Freiheit schafft. Dafür braucht man eine bestimmte Vorstellung von Freiheit, und ich finde es schön, diese zeitlich zu denken, als Fülle von Zeit und von Möglichkeiten, seine Zeit zuzubringen. Je reicher Beziehungen sind, je reicher Gesellschaften sind, je reicher eine Arbeitstätigkeit ist, desto mehr Möglichkeiten bieten sie und desto mehr findet man sich in ihnen wieder.
Ich finde deinen Ansatz, Autonomie nicht als Selbst-Gesetzgebung, sondern als Selbst-Übereinkunft zu konzipieren, super schön. Wie kann ich so leben und in Beziehung stehen, dass ich durch diese Tätigkeiten, durch diese Verbindung auch in Übereinkunft mit mir selber komme? Das ist, glaube ich, ein Rezept der Freiheit. Und damit das Revolutionäre gelingt, braucht es nicht nur Organisationsarbeit, sondern auch so etwas wie die günstigen Umstände, in denen das, was im Kleinen schon geübt ist, auf weitere Bereiche der Gesellschaft überschwappen kann. Aber das kann man oft nicht planen, und deswegen muss man auch in den Zwischenräumen festhalten an solchen anderen Modellen in der Hoffnung, dass man sie irgendwann übertragen kann auf die allgemeine Ebene.
Rittberger: So wie du es gerade schilderst, geht es auch darum, sich nicht mit diesem Status Quo abzufinden, sondern den Begriff von Demokratie und die Selbstübereinkunft permanent zu überarbeiten.
von Redecker: Ich finde das mit der Übereinkunft schön, weil es in sich sowohl das Zusammenkommen als auch das Einvernehmen trägt. Außerdem erinnert es an eine denkende Freiheit, so wie bei Hannah Arendt das Denken das Zwiegespräch zwischen mir und mir selbst ist und man folglich immer mit sich selber im Einvernehmen stehen muss, um zu wissen, wie man handeln will. Bei dieser Selbstübereinkunft schwingt auch die große Freiheit mit, überhaupt mit sich selbst leben zu können. Aber es braucht viel Arbeit und Glück und gute äußere Umstände, damit die Übereinkunft möglich ist.
Rittberger: Vielen Dank für dieses schöne Gespräch.
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Eva von Redecker *1982, ist Philosophin und auf einem Biohof aufgewachsen. Dort hat sie viel über Erdbeeranbau, Direktvermarktung und Pferdezucht gelernt. Heute lebt sie wieder auf dem Land. In den letzten Jahren publizierte sie u. a. Schöpfen und Erschöpfen (mit Maja Göpel, 2022), Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen (2020) und Praxis und Revolution: Eine Sozialtheorie radikalen Wandels (2018).
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