von Kevin Rittberger

 

 

… ist Bildungssprache, oder? Das erste Anliegen muss also sein, für alle verständlich zu sprechen. Was denken wir, wenn wir Autonomie sagen? Oder: Was denken wir, wenn wir nicht Autonomie sagen, aber Autonomie meinen?

 

Wir denken, so behaupte ich, an Freiheit, an Unabhängigkeit, an Selbstbestimmung, an Selbstverwaltung. Oder falls das auch alles zu hoch gegriffen klingt: Wir denken daran, dass uns keiner reinredet, dass wir leben können, wie wir wollen. Autonomie ist dann vorhanden, wenn keiner das Sagen hat, nach dessen Pfeife wir tanzen, wenn wir uns selbst die Regeln geben. Generisches Maskulinum? Absicht! Erklärung folgt.  

 

Nun habe ich schon von „Ich“ und „Wir“ gesprochen und das ist ja schon wieder so abstrakt. Denn wer soll das sein, das „Ich“? Und wer das „Wir“? Ganz abgesehen von den Regeln. 

 

Ich möchte Autonomie im Zwischen verorten, zwischen dem Ich und dem Wir, wobei ich davon ausgehe, dass beide immer in Bewegung sind. Die verschiedenen Vorstellungen von Autonomie werden sich ineinander verhaken, einander widersprechen. Und mir scheint es wichtig, diese Spannungen und Verknotungen unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht gilt es Widersprüche, die sich ergeben, nicht aufzulösen, sondern sich in sie hineinzubegeben. Vieleicht kann es gelingen, trotz der makropolitischen Krise, trotz den grausamen Folgen des derzeitigen Krieges, an alten und neuen Beziehungsnetzen zu stricken, damit die Welt nicht zurück in alte Zustände der Abschottung, Feindschaft und Hochrüstung verfällt. Jede Grenze, die gewaltsam verteidigt wird, ob im Kleinen oder Großen, widerspricht der Bewegungsfreiheit, die ich mit einer offenen Form der Autonomie verbinden möchte. Es gilt den gewaltfreien Ort zu finden, einen Ort der Zurückhaltung und des Miteinanders, gleich dem abarischen Punkt zwischen zwei Massen, in dem sich ihre Anziehungskräfte aufheben. „Bleibt weich, bleibt zärtlich!“, ruft die Autorin Elsa Koester den von der Brutalität des Krieges zum Gegenschlag Verführten zu. 

 

Seyla Benhabib schreibt über einen Fehler in der Mainstream-Philosophie: Sie betrachte Menschen nicht als abhängige, Fürsorge gebende und empfangende Wesen. Benhabib räumt mit einem althergebrachten Menschenbild auf, das den Menschen isoliert konzipiert, „gleich Pilzen plötzlich ohne irgendeine Beziehung zueinander gereift“ (Thomas Hobbes). Ökonomen haben sich dieses Menschenbild eines „homo oeconomicus“ zu eigen gemacht. Wer den Menschen als nur durch den eigenen Egoismus angestachelt denken kann, hält auch den täglichen Daseinskampf mit anderen in konkurrierenden (Markt-)Beziehungen für vernünftig. Eine „relationale Autonomie“ (Catriona MacKenzie) denkt den Menschen dahingegen immer auf substantielle soziale Beziehungen angewiesen. Autonomie, so verstanden, löst sich vom Individuum und entsteht zwischen den Akteur:innen. Oder anders gesagt: Das Ich ist nichts ohne das Wir. Das Wir ist nichts ohne das Ich. Jetzt kommt es darauf an, dafür zu sorgen, dass der Zwischenraum nicht weiter beschädigt wird, dass bereits erfolgte Beschädigungen repariert werden, dass für das Gedeihen dieses Zwischenraums Sorge getragen wird. Und das ist nicht unkompliziert, denn Autonomie ist ein politisches Feld, an ihr ziehen und zerren verschiedene Interessensgruppen. 

 

Was mich zunächst interessiert ist diese relationale Autonomie einer (gerne großen) Gruppe zu begreifen, eine, die weder aus privaten (Kapital-)Interessen handelt, noch staatlich organisiert wird. Autonome sind Leute, die sich zusammentun. Dafür ist die „Senkung der Ich-Schranke“ nötig, wie Alexander Kluge das nennt, und das kann durchaus absichtsvoll geschehen. Indem die Verwirklichung der Freiheit des Einzelnen sich gleichzeitig wieder an Gleichheit und Solidarität messen lässt, indem die Bürde von leistungsgetrimmten Individuen abfällt, jede:r wäre ihres:seines eigenen Glückes (und damit auch Elends) Hufschmied, indem Kooperation ohne Kapitalzuwachs erprobt, indem gegenseitige Hilfe ohne Profitinteresse wieder erlernt werden darf. Ein solches Ich ist ungepanzert und traut sich allen in die Augen zu schauen. Die Klimakrise wiederum wirft diesen Fragen nach persönlichen Kapazitäten und teilbaren Ressourcen und die alten Verteilungsfragen neu auf. Ich würde gerne dahin gelangen, den Begriff der individuellen Autonomie abzustreifen und einen anderen anzubieten: Autonomie als Kooperation. 

 

Geschichtsschreibung und politische Philosophie haben in der Vergangenheit viel dazu beigetragen, dass die westliche Zivilisation als alternativlos angesehen wurde. Freiheit, Fortschritt und Wohlstand galten als gesetzt, universell. Das westliche Versprechen bestand darin, dass es sich von Europa aus auf die ganze Welt ausbreiten möge. Pustekuchen. Dieser Universalismus war nie für alle da, wie der portugiesische Philosoph Buenaventura de Sousa Santos betont. Und wenn Lebensweisen und kulturelles Wissen umgekehrt aus anderen Erdteilen im globalen Norden auf Interesse gestoßen sind, dann meist um sie einzugliedern, zu kommerzialisieren und damit zu neutralisieren. Die Selbstverständlichkeit dabei hat viel mit den Nachwirkungen des Kolonialismus zu tun, der Glauben an die eigene Überlegenheit lebt fort. Einer, der bereits im 17. Jahrhundert mit der eigenen Überlegenheit haderte, war der französische Offizier und Reisende Baron de Lahontan, der sich 1683 in die französischen Kolonien in Nordamerika aufmachte und 1716 am Hof des Kurfürsten von Hannover verstarb. Zeugnis der Zweifel an der französischen Ständegesellschaft und der Vorzüge der sehr viel freier erscheinenden Gütergemeinschaften Nordamerikas war eine Schrift von 1703 mit dem Titel „Baron de Lahontan: Kuriose Dialoge zwischen dem Autor und einem Wilden mit gesundem Menschenverstand“, die auch Philosophen des Zeitalters der Aufklärung bekannt waren. Lahontan begründet die Autonomie seines Gesprächspartners durch seine Unabhängigkeit von Geldmittel und Besitz. Bei dem sogenannten „Wilden“, den Lahontan hier portraitierte, handelte es sich um Kondiaronk. Kondiaronk hatte sich als Häuptling der Tionontati-Huronen und Sprecher der Wendat-Konföderation zwischen dem Michigan- und dem Huronsee sowie als Friedensstifter in zahlreichen Konflikten mit den Kolonialmächten Frankreich und England einen Namen gemacht und war für seine Eloquenz berühmt. In der besagten Schrift entlockt Lahontan Kondiaronk einige grundlegende Unterschiede: 

 

    Lahontan: „Sie finde es unverantwortlich, dass ein Mensch mehr als ein anderer besitzen sollte und dass die Reichen mehr Respekt verdienen sollten als die Armen. Kurz, sie sagen, die Bezeichnung Wilde, die wir Ihnen geben, treffe besser auf uns zu, da in unseren Handlungen nichts erkennbar sei, das auf Weisheit schließen lasse?“

 

    Kondiaronk: „Ich habe nun sechs Jahre damit zugebracht, über die europäische Gesellschaft nachzudenken und so wie sie sich verhalten, kann ich nicht an eine einzige Sache denken, die nicht unmenschlich wäre. Und dies wird weiterhin der Fall sein, solange sie nicht aufhören, einen Unterschied zu machen zwischen „meins“ und „deins“. Was für eine Art von Menschen müssen die EUROPÄER sein? Welcher Art von Geschöpfen gehören sie an? Die EUROPÄER, die gezwungen werden müssen, das Gute zu tun, und die keinen anderen Antrieb haben, das Böse zu vermeiden, als die Furcht vor Strafe. 

 

    Wer hat euch all die Länder gegeben, die ihr jetzt bewohnt, mit welchem Recht besitzt ihr sie? Vorher gehörten sie immer den ALGONKINS. Im Ernst, mein lieber Bruder, du tust mir aus tiefster Seele leid. Nimm meinen Rat an und wende dich uns zu; denn ich sehe deutlich einen großen Unterschied zwischen deinem Zustand und meinem. Ich bin Herr über meinen Zustand und gehöre mir. Ich bin Herr meines eigenen Körpers, ich habe die absolute Verfügungsgewalt über mich selbst, ich tue, was mir gefällt, ich bin der Erste und der Letzte meines Volkes, ich fürchte keinen Menschen, und ich bin nur vom Großen Geist abhängig. Dagegen sind dein Körper und deine Seele zur Abhängigkeit von deinem großen Hauptmann verdammt, dein Vizekönig verfügt über dich, du hast nicht die Freiheit zu tun, was du willst, du hast Angst vor Räubern, falschen Zeugen, Mördern usw., und du bist von einer Unzahl von Personen abhängig, die durch ihre Stellung über dich erhoben wurden. Ist das nun wahr oder nicht? (...) Ist es nicht so, dass man stirbt, während man lebt, wenn man seinen Geist stündlich quält, um Güter oder Ehren zu erwerben, die einen anekeln, sobald man sie genießt? Dass man seinen Körper schwächt und sein Leben aufs Spiel setzt, um Unternehmungen zu machen, die meistens scheitern? Glaub mir, mein lieber Bruder, werde ein Hurone wie wir, um lange zu leben. Du wirst trinken, du wirst essen, du wirst schlafen und du wirst Nahrung beschaffen. Du wirst von den Leidenschaften befreit sein, die dich tyrannisieren. Du wirst weder Gold noch Silber brauchen, um zu überleben. Du wirst keine Angst vor Dieben und Mördern haben. (...) Das, was ihr Geld nennt, ist der Dämon der Dämonen, die Quelle der Übel, der Verlust der Seelen und das Grab der Lebenden. In den Ländern des Geldes leben zu wollen und dann seine Seele und sein Leben zu bewahren: beides ist nicht möglich. Dieses Geld ist der Vater der Wollust, der der Arglist, der Intrige, der Lüge, des Verrats, des schlechten Glaubens und generell aller Übel, die es gibt. Sage mir bitte, ob wir danach Unrecht haben, dass wir dieses verfluchte Geld weder handhaben noch sehen wollen.“

 

    Lahontan: „Kannst du nicht begreifen, teurer Freund, dass die Völker Europas ohne Gold und Silber nicht bestehen könnten? Wer würde für Könige oder sonst irgendjemanden arbeiten? Welche Soldaten hätten wir? Europa würde ins Chaos stürzen und in die schlimmste Verwirrung, die man sich nur vorstellen kann.“

 

    Kondiaronk: „Glaubst du ernsthaft ich wäre glücklich, als Einwohner von Paris zu leben, jeden Morgen zwei Stunden damit zu verbringen, mein Hemd und mein Puder anzulegen und vor jedem widerlichen Tölpel zu katzbuckeln, weil er mit einer Hinterlassenschaft geboren wurde? Wenn du die Vorstellung von Mein und Dein ablegtest, dann würden solche Unterscheidungen zwischen den Menschen verschwinden; eine allgemeine Gleichheit würde unter den Deinen herrschen, wie sie jetzt bei den Wendat besteht. Freilich würde in den ersten dreißig Jahren nach dem Verbot der Selbstsucht eine gewisse Verwüstung eintreten, da diejenigen, die nichts anderes als essen, trinken, schlafen und sich vergnügen können, ermatten und sterben würden. Ihre Nachkommen indes wären für unsere Lebensweise geeignet. Immer wieder habe ich die Eigenschaften hervorgehoben, die nach Überzeugung der Wendat die Menschheit definieren sollten – Weisheit, Vernunft, Gleichheit usw. – und demonstriert, dass die Existenz separater materieller Interessen all diesen zuwiderläuft. Ein Mensch, der von einem Interesse getrieben wird, kann kein Vernunftmensch sein.“

 

Meins und Deins, Zivilisierte und Wilde, Kultur und Natur, Mann und Frau, Subjekt und Objekt: Die Europäer sind bekanntlich Meister der Binaritäten und wir können uns im Zuge der Klimakrise durchaus erneut fragen, ob diese hierarchische Welterzählungen noch fortschrittsfähig sind und welche Konsequenzen das für das Konzept von Autonomie hat. Jene Autonomie, jedenfalls wie sie in nordamerikanischen Gesellschaften vor der Kolonialisierung vorzufinden war, scheint in weiter Ferne. Aber der intellektuelle Austausch, den ich hier zitiert habe, hatte maßgeblichen Einfluss auf manche Vordenker der Französischen Revolution wie Voltaire und Rousseau. Sodass der gesamte Diskurs über das, was wir heute unter Demokratie verstehen, durch indigene, außereuropäische Konzepte mitbeeinflusst wurde. David Graeber und David Wengrow, der eine Anthropologe, der andere Archäologe, stellen diese den meisten unbekannte Tatsache in ihrem eben erschienenen Buch Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit überzeugend dar. Nicht nur der Mythos des „edlen Wilden“ wird zurückgewiesen, sondern auch unterstrichen, dass die Formen von Freiheit und Gleichheit, die in vielen „prähistorischen“ Gesellschaften beschrieben werden können, bewusst und selbstbestimmt hervorgebracht wurden. Kondiaronk etwa beschreibt Lahontan, wie Entscheidungen, die alle betreffen, stets gemeinsam getroffen werden, ohne Autorität und Zwang, sondern durch Überzeugung und Übereinkunft. Lahontan kann dem Argument seines Gegenübers einiges abgewinnen, dass nicht die amerikanischen Ureinwohner sich als „Wilde“ aufführten, sondern umgekehrt die Europäer, indem sie Reichtümer anhäuften, um Macht über andere Menschen zu gewinnen. Dass sich Besitzverhältnisse der Wendat einschränkend auf ihre persönlichen Freiheit auswirkten, konnte Kondiaronk umgekehrt von den Amerikanern nicht behaupten.  

 

Vieles von der ganz anderen Verfasstheit des Gemeinwesens schwingt auch heute noch mit, etwa wenn wir dem Bericht der kürzlich verstorbenen Commons-Forscherin Silke Helfrich folgen, die wiederholt und stets mit leuchtenden Augen über das venezolanische Selbstverwaltungsmodell „Cecosesola“ gesprochen hat. Der Europäer (!) damals wie heute kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und Graeber und Wengrow versuchen dieses Staunen produktiv zu machen. Es gebe keinesfalls nur einen urspünglich-unschuldigen Egalitarismus, der aufgrund seiner Einfachheit durch den zivilisatorischen Fortschritt zwangläufig verdrängt worden sei, sondern auch nach der Entstehung des Ackerbaus und der ersten Städte sei nachzuweisen, wie Menschen auch in großen Gemeinschaften weiterhin als Freie und Gleiche miteinander gelebt hätten – und zwar spielerisch und experimentell, wie die beiden Autoren schreiben. Es gilt die Komplexität und Vielfalt der vormodernen Lebensweisen anzuerkennen, wenn wir mit Graeber und Wengrow heute „neue und verschiedene Formen sozialer Realität“ erschaffen wollen, anstelle den Status Quo zu bewahren. Auch der senegalesische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr hat dafür plädiert, vormoderne Wissensformen mit heutigen zu verschränken. Die vormoderne Autonomie ist im Grunde eine Autonomie der Weltwahrung, die aber heute erneut zu einer Form der Weltveränderung werden kann. Der kalkulierende Furor, mit dem die Welt verbraucht worden ist – und wohlbemerkt nicht von allen gleich – muss aufhören, soll die Welt weiterhin allen Lebensmöglichkeiten bieten. Und gerade indigene Formen der Autonomie, die sich kolonialer Weltzerstörung immer schon verweigert haben, können Lernprozesse voranbringen, die antreten, einen alten Begriff des Fortschritts zu verlernen, um einen neuen einzuüben. 

 

Zurück zum Urknall der Evolution: Für die Biologin Lynn Margulis ist alles Planetarische nicht nur auf Symbiose angewiesen, sondern wir selbst sind darin Symbionten und nur durch Symbiose entstanden. Wer behauptet, dass das eine Ich vom anderen Ich getrennt existiert, hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Nicht nur das, den Menschen vom Tier, das Tier von der Pflanze, die Pflanze vom Pilz usw. zu unterscheiden, hat evolutionsbiologisch, also vom Beginn aller Tage an gerechnet, wenig Sinn. Ursprünglich haben sich alle aus einer Lebensform entwickelt. Wir sind alle aus einer Symbiose von Bakterien hervorgegangen, wahrscheinlich unter Wasser. Autonom erscheint allenfalls die gesamte Ökologie in ihrer Entwicklung bis heute. Sie hat sich selbst hervorgebracht und weiterentwickelt, und die Menschen gehören untrennbar dazu. Die Biologin Donna Haraway, eine Schwester im Geiste, hat darum den Begriff der „Sympoiesis“ entworfen, um zu beschreiben, wie alles mit allem zusammenhängt (oder lokal situiert: alles ist mit etwas verbunden) und das Werden immer ein Gemeinsames ist. Das klingt wie Poesie und vielleicht ist es das auch. Angesichts der Klimakrise braucht es mindestens Vorstellungskraft (oder: Komposition), damit die eine Spezies, die ein gigantisches Massensterben vieler anderer Spezies zu verantworten hat, wieder absichtsvoll symbiotisch zu denken und zu leben lernt. Homo homini Lupus? Der Mensch ist dem Menschen Wolf? Macht euch speziesübergreifend verwandt! – ruft Haraway uns Menschen zu, als würde Sie als etwas Nicht-Menschliches sprechen, das immer schon „tentakulär denkt“. Wir sind Multispezies oder gar nicht, niemand und nichts ist unabhängig! 

 

Und wenn schon der Vergleich mit dem Wolf oder dem Pilz: Wir können Thomas Hobbes, den alten Grantler, gerne auch beim Wort nehmen. Wölfe haben nämlich ein hochentwickeltes soziales Verhalten. Und Pilze bauen unterirdisch verblüffend intelligente Netzwerke. Merlin Sheldrake hat über dieses „verwobene Leben“ geschrieben, das unsere Zukunft noch beeinflussen wird. So weisen etwa Schleimpilze eine überragende dezentrale Intelligenz auf und können helfen, effiziente Infrastruktur wie Schienennetze oder Föderbandsysteme zu entwickeln. Hätte Hobbes dieses Wissen um Kooperationsverhalten und Netzwerke in der Tier- und Pflanzenwelt gehabt, wäre sein Leviathan, der für die politische Philosophie der Neuzeit einigen Einfluss hatte, dann anders ausgefallen? In Krisenzeiten voneinander zu lernen bedeutet auch, den alten Gegensatz zwischen Natur und Kultur zu überwinden, der mindestens seit Descartes unser Denken geprägt hat und dazu da war, eine sogenannte Natur zu domestizieren (zu der auch Menschen gerechnet wurden, die nicht dem Typ männlich-weißer Aufklärer entsprochen haben). Wir sind, so will es die biologische Systematik, die vernünftige Affenart unter den Menschenaffen namens Homo sapiens. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns Kraft unserer Vernunft nicht mehr als Teil der Natur begreifen können.  

 

Ich möchte Autonomie gerne in alle Einzelteile zerlegen. Liebe, Politik, Kunst dienen hierbei als Landschaften, die wir schon bestaunt haben oder noch bestaunen wollen, vor denen wir auch schon mächtig erschrocken sind. Vielleicht navigieren wir im einen Gelände sicherer als im nächsten, heben hier ab in luftige Höhen und versinken dort hoffnungslos im Treibsand. Mit der Vorstellung von Autonomie in der Liebe zu beginnen, ist gewagt, aber sinnvoll, weil uns alle interessieren muss, ob sich unser Kraftwerk der Gefühle auf weitere Menschen und Nicht-Menschen ausdehnen kann, gerade auch auf die von der romantischen Liebe nicht mitgemeinten. Muss Autonomie in der Liebe zwangsläufig bedeuten, dass sich eine Hälfte ihre sogenannte Unabhängigkeit bewahrt, sich nicht festlegt und mauert oder wegrennt, wenn‘s schwierig wird? Oder kann es auch bedeuten, dass Autonomie nicht auf das mitunter zwanghafte Auswechseln von Liebespartner:innen hinausläuft, sondern dass ein Beziehungsnetz immer verbindender und damit verbindlicher gestrickt wird? 

 

Lucía Muriel ist Diplompsychologin und als Prozessbegleiterin in verschiedenen Institutionen und Organisationen tätig. Sie versteht sich als „dekoloniale Therapeutin“ und trifft auf Migrations- und Fluchterfahrungen, auf Traumatisierung durch Rassismus, Ausgrenzung und andere Gewaltformen. Ihre Klient:innen gehen in Therapie, weil sie in der Welt der Individualisierung kein Glück finden und als BIPOC zudem häufig die Erfahrung einer Mehrfachbelastung gemacht haben. Bei der Bearbeitung von toxischen Beziehungserfahrungen oder auf der Suche nach neuen Geschlechtsidantitäten kreist die Frage immer wieder um das Verständnis von Autonomie. Muriel zufolge ist Autonomie mit Widerständigkeit verbunden, gegenüber sozialer Kälte und Ausgrenzung, aber auch gegenüber der eigenen Verhärtung. Etwa wenn es darum geht, sich selbst gegenüber weicher zu werden und nicht in Panik zu verfallen, wenn ein:e Partner:in eine Form der Öffnung der Beziehung anspricht. Wie ich Şeyda Kurts Buch Radikale Zärtlichkeit entnehme, ist Liebe eine Handlung, eine Entscheidung, ein Versprechen (dieser Gedanken ist von bell hooks inspiriert). Ein falsches, dichotomes Verständnis von Autonomie – Autonomie als das Männliche, Fürsorge als das weibliche Prinzip – steht dieser radikalen Zärtlichkeit im Weg. Das Versprechen, auf das Kurt hinauswill, existiert nicht nur gegenüber geliebten Partner:innen, sondern kann auch gegenseitige Hilfe und Sorge gegenüber weiteren Menschen und Nicht-Menschen einschließen. Der Wunsch, die Zärtlichkeit auszuweiten, ist auch darin begründet, dass es immer noch viel zu viele gibt, die in ihrem Leben wenig Schonung erfahren haben und Respekt immer noch verdienen müssen. So verstehe ich radikale Zärtlichkeit auch als Suche nach neuen, revolutionären Beziehungsweisen, wie Bini Adamczak sagen würde. Als Beziehungsweisen, die darauf angelegt sind, eine einzelne „gerechte intime Beziehung“ (Kurt) immer daran zu messen, ob anderen Menschen diese schiere Möglichkeit auch gegeben ist. Die Möglichkeit autonomer, zärtlicher Liebesweisen wird dergestalt zum absoluten, herrschaftsfreien Anspruch, der hoffnungsvoll und verzweifelt machen kann. Kurt formuliert diese Suche nach einer radikalen Zärtlichkeit auch, wenn ihre Finger rote, selbst gepflanzte Tomaten berühren und deren Duft davontragen oder der Gedanke aufkommt, eine Fabrik den Klauen des Kapitalismus zu entreißen und künftig in Selbstverwaltung zu betreiben. Bei Silvia Federici nennt sich diese Form der Autonomie, die jahrhundertlange Ausbeutung entlang der Achsen „Race“ und „Gender“ abgestreift hat, auch „Commoning“. Anarchist:innen sagen zu dieser beziehungsreichen Organisationsweise auch gerne Syndikat. Und fast eine Milliarde selbstorganisierter Kleinbäuer:innen weltweit sind darin übereingekommen, dass sich die Weltbevölkerung klimagerecht, d.h. ohne Agro-Business ernähren ließe (La Via Campesina). Auch eine Form der Autonomie, die von Regierungen und transnationalen Konzernen seit Jahrzehnten totgeschwiegen wird.

 

Ich frage mich auch ob Arbeiterselbstverwaltung, ein Relikt aus der linken Bewegung des 20. Jahrhunderts, heute noch eine brauchbare Referenz ist? Zu Beginn des Jahrtausends etwa gab es noch Fabrikübernahmen durch die Arbeiter:innenschaft. Naomi Klein hat diese in ihrem Film The Take beschrieben. Doch kann sich diese Form der Autonomiebestrebung an die Gegebenheiten der neuen Arbeitswelt anpassen, gerade wenn es um die Notwendigkeit geht, viele alte wegfallende Energie- und Industriejobs für eine klimagerechte Produktionsweise zu gewinnen? Wird die Konversion der Automobilindustrie selbstverwaltet von statten gehen oder staatlich organsiert? Wie ist es um die Selbstorganisation von arbeitnehmerrechtlich weitgehend isolierten Rider:innen, Click- und Cloudworkern und weiteren Bullshitjobber:innen im Bereich von Arbeit 4.0 bestellt? Eva von Redecker schlägt vor, eine „Revolution für das Leben“ anzuzetteln. In ihrem gleichnamigen Buch stellt sie den Kräften der Zerstörung, die den modernen Menschen trotz ihrer Vielzahl alleine zurücklassen, eine Fülle von Zuwendungen gegenüber. In ihrem Entwurf geht es nicht um das große revolutionäre Ereignis, sondern um beziehungsreiche Lebensformen, die bereits heute existieren. Mit „Retten“, „Re-Generieren“, „Teilen“, „Pflegen“ werden diese Prozesse überschrieben, die dazu führen können, dass sich sogar „Liebesbeziehungen zum Land“ entwickeln. Für Redecker hängt alles daran, die „Geschichte unserer speziellen Weltverwobenheit erzählen zu können“. Autonomie lässt sich so mühelos relational denken, ernährungssouverän und klimagerecht, queerfeministisch und solidarisch, lustvoll und zwanglos. Aber sind diese vielfältigen, utopischen Inseln, die Redecker aufblühen lässt, auch widerständig genug? Was können sie der extremen Konzentration von Kapital und Ressourcenverschwendung entgegensetzen?

 

Autonomie als Selbstverwaltung war immer an die Eigentumsfrage geknüpft: Ob das Haus besetzt wird oder die Fabrik übernommen, Eigentum oder „Sachherrschaft“, wie Redecker das nennt, gilt es zu kollektivieren. Nur wer sind die Protagonist:innen dieser Revolution für das Leben? Wie organisiert sich diese beziehungsreiche, kollektive Intentionalität? Und lässt sich ihre Autonomie bei wachsender Komplexität bewahren? Ihr Leben, da ist sich Redecker sicher, wäre nicht mehr auf der „Entlebendigung der anderen“ gebaut.

 

Jan Groos hat in seinem Podcast Future Histories zusammen mit vielen Co-Autor:innen bereits einen fulminaten Garten postkapitalistischer Zukünfte angelegt, der einer „Welt-Räte-Kommune“ (Redecker) immer näher kommt. Seine Hauptfrage ist: „Wie organisieren wir unser Wirtschaften so, dass die Bedürfnisse aller – Menschen, Tiere, Mischwesen, Maschinen und Umwelten – berücksichtigt und befriedigt werden“? Immer wieder werden auch planwirtschaftliche Modelle diskutiert. Im Vergleich zu den abgewirtschafteten, realsozialistischen Planwirtschaften des 20. Jahrhunderts werden diese jedoch heute dezentral gedacht. Die Rechenkapazitäten sind heute unvergleichlich besser und fast alle tragen eine kleine personalisierte Feedback-Maschine namens Mobiltelefon mit sich herum. Planwirtschaft ist heute auch nicht mehr das graue Pendant zum freien, bunten Markt. Man kann es sich eher so vorstellen, dass real-existierende Walmart- oder Amazon-Infrastrukturen weiterentwickelt werden können, nur unter nicht-kapitalistischen Vorzeichen. Arbeiter:innenräte entscheiden dann über die nachhaltige Produktion. Die Bedürfnisse des Individuums sollen weiterhin befriedigt werden, auch spontaner Konsum, jedoch müssen diese mit den „ökologischen Grenzen der Ressourcennutzung“ in Einklang gebracht werden. Groos Suche nach „alternativer Gouvernementalität“ ist doppelgleisig. Autonomie kann hier nie lediglich nischenförmig praktiziert werden, d.h. bereits jetzt bestehende „Vorformen“ und „Freiräume“ werden zwar mitgedacht, darüber ist aber wesentlich hinauszugelangen. Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang, Autonomie nicht nur als relational, sondern auch als skalierbar zu denken, sodass nicht nur die in unmittelbarer „Pantoffeldistanz“ (P.M.) miteinander in Beziehung Stehenden gemeint sind (ein Mietshaussyndikat, ein Häuserblock als „Commons“), sondern Autonomie auf jeder (Selbst-)Verwaltungsebene praktiziert werden soll. Damit ist gemeint, dass unsere Lebens- und Produktionsweise anders geplant werden kann (nachhaltig, ressourcenschonend, klimagerecht usw.), die Autonomie der Planenden aber auf jeder höheren, organisatorischen Ebene (vom Lokalen bis zum Globalen) gewährt sein muss, d.h. in Übereinkunft aller Partizipierenden und frei von einer zentralen Machtinstanz. Groos Zukunftsgeschichten zeigen, dass Organisationskybernetik dafür sorgen kann, dezentrale und zentrale Entscheidungsprozesse auszubalancieren. Er nennt dies einen „distribuierten Sozialismus“. Es gilt herauszufinden, ob Autonomie als Strategie von unten und oben hochskaliert werden kann. Außerdem werden sich nicht nur alle, die im Realsozialismus mit einem kalten, technokratischen Apparat konfrontiert worden sind, fragen, ob sich Menschen mehrheitlich zu einer solchen großen Transformation bewegen lassen, die wesentliche Infrastrukturen vergesellschaftet. Antikommunistische Reflexe sind längst noch nicht stumpf geworden. Und die Nutznießer der Krisen aller Ländern werden sich mit aller Gewalt an ihr Eigentum klammern. Totalitär sind immer die anderen. Und einzig nach Freiheit schreien die am lautesten, für die Ungleichheit zur menschlichen Natur gehört. Der Ökoaktivist und Humanökologe Andreas Malm hat unlängst darauf hingewiesen, dass der fossile Kapitalismus (und der ihm folgende grüne, der sich derselben Wachstumslogik verschreibt) nur beendet werden kann, indem der eine Teil der Bevölkerung dem anderen seinen Willen aufzwingen muss. Ich frage mich, auf welche Zerreißprobe eine derart ökosozialistisch hochskalierte Autonomie dann gestellt wäre? 

 

Autonomie ist ein Kompositum aus dem Altgriechischen: „Auto“ und „Nomos“. Letzteres wird meistens als „Gesetz“ übersetzt, selten als „Übereinkunft“. Ich finde Übereinkunft aber viel treffender – und auch zärtlicher. Nur wer trifft welche Übereinkunft mit wem und wer bleibt außen vor? Autonomie als Selbst-Übereinkunft – nicht nur des Individuums, sondern eines Kollektivs – reagiert für mich direkt auf Herrschaftsformen (oder Herrschaftsapparate wie den Staat), beugt ihnen vor und setzt auf die vielen Übereinkünfte, die nebeneinander bestehen können. 

 

Wenn wir die Anthropologin Eleanor Leacock hinzuziehen: In egalitären Gesellschaften vor Kolonialismus und Kapitalismus (ja, diese Zeiten gab es!) war die Autonomie aller Geschlechter gegeben. Dass Männer immer schon das beherrschende Geschlecht waren, ist nur gut gelogen, ebenso wie die Behauptung, der Mensch sei dem anderen Menschen Wolf. Beherrschende aller Länder haben seit jeher ihre Geschichte geschrieben, damit Untertanen sie glaubten – oder angehalten, ihre Fesseln schätzen zu lernen. Die Antropolog:innen Eleanor Leacock, Marshall Sahlins und David Graeber schreiben zum Glück andere Geschichten. Hier zeichnen sich Menschen entgegen zu Hobbes Menschenbild dadurch aus, dass sie ohne staatliche Kontrolle gesellig und gesellschaftsfähig sind, dass sie kooperieren und auch Verwandtschaften immer schon viel größer denken als Papa, Mama, Kind. 

 

Damit komme ich zur Unterseite der Autonomie. Im abendländischen Kanon ist die Autonomie an das cis-männliche, bürgerliche, weiße Subjekt geknüpft und damit an die Vernunft, Ratio, Urteilskraft und Kognition des Individuums usw. Viele Menschen sind in ihrem Alltag Diskriminierungen, Herrschaftsbeziehungen und Ausschlüssen ausgesetzt. Das bürgerliche Autonomieversprechen bleibt für viele uneingelöst. Ja, es gibt noch so viele alte und fortlaufende Geschichten, die ein verzerrtes Bild von Autonomie aufgeworfen haben, das wie ein zerbrochener Spiegel wirkt. Weiterhin irren Lichtsplitter in sämtliche Richtungen. Einst hieß das Aufklärung. Am schwierigsten ist dieses Rest-Licht wohl aus unserem abendländischen Denken herauszufiltern, wenn es um Säulenheilige wie Immanuel Kant geht. Wollen wir uns vom großen Philosophen, der Autonomie sowohl als individuelle, menschliche Vernunft konzipiert hat wie als allgemeinen Leitsatz, nicht gerade in Zeiten einer Pandemie aus der Patsche helfen lassen, wenn sich das Irrationale wieder Bahn bricht (Verschwörungserzählungen, Wissenschaftsfeindlichkeit, sozialdarwinistischer Freiheits(irr)glauben)? Oder hat der Königsberger Philosoph, der mit seiner Rassentheorie dem Deutschen Kolonialismus Vorschub geleistet hat, für ewig ausgedient? Wie kann das Denken dekolonisiert und das „kognitive Empire“ (Buenaventura de Sousa Santos) entlarvt und beendet werden, damit aus der Vernunft eine zärtlichere, eine vielarmigere wird? Wie können auch nicht-kognitive Fähigkeiten neu erworben werden, damit eine „pluriverselle“ Übereinkunft möglich sein wird, wie das Leben von allen mit allen trotz begrenzten Ressourcen gestaltet werden kann? Muss das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden oder wird es gelingen, die Wiege der Demokratie neu zu zimmern, sodass alle darin aufblühen dürfen? „Fortschritt ereignet sich dort, wo er endet“, hat Adorno einmal geschrieben, aber nicht um den Fortschritt ganz zu verabschieden, sondern ihn für die Zukunft neu zu gewinnen. „Mehr Fortschritt wagen“, sagt die Ampel-Koalition – und damit ist nicht der sozial-ökologische Fortschritt gemeint ist, den die Klimagerechtigkeitsbewegung fordert. Wenn Adornos Ruf nicht verhallen soll, gilt es aber das alte, westliche Versprechen eines universellen Fortschritts, das von jeher gegenüber sogenannten Primitiven, Wilden und Unterentwickelten in Stellung gebracht wurde, erstmal zu verlernen und damit auch alle bisherigen Vorstellungen von Autonomie, sofern sie nicht für alle taugen: Autonomie ereignet sich dort, wo sie endet. 

 

Autonomie lässt sich auch noch weiter problematisieren, wenn sie Teil eines „neuen Geistes des Kapitalismus“ wird, so wie die französischen Soziologen Luc Boltanski und Yves Chiapello das beschrieben haben. Autonomie, individuelle Selbstbestimmung, wie kollektive Selbstverwaltung, war eine der grundlegenden linken Forderungen der Generation 1968. Und spätestens mit der „New Economy“ Anfang der 1990er, beschreiben Boltanski/ Chiapello, sei diese von Unternehmensphilosophien einverleibt worden. Wer Rudi Dutschke im Gespräch mit Günter Gaus 1967 erlebt hat und wie selbstverständlich er seine Forderung nach einer gesamtgesellschaftlichen Transformation qua Selbstverwaltung vorzutragen wusste, wird überrascht sein, wie offen dies im Deutschen Fernsehen einst verhandelt werden konnte. Aber was waren die real-existierenden Konsequenzen? Die frühen Entrepreneurs im Silicon Valley erinnerten sich zwar noch an den Whole Earth Catalogue, der sich von Selbstversorgung und autarken Communities inspiriert wusste. Im Dienste kapitalistischer Großkonzerne verpufften diese Abkömmlinge des Autonomie-Gedankens aber zusehends zum profitablen Geschäft mit der Selbstverwirklichung. Mag sein, dass das Arbeitsleben in Big-Tech-Konzernen angenehmer war als anno dazumal noch bei der hierarchisch organisierten Telekom, mit Autonomie hatte das aber kaum noch etwas zu tun. Gerade weil niemand mehr die Stechuhr bediente, sondern in seiner Freizeit auf dem Firmengelände noch den letzten Tropfen „Chi“ hergab, wurde Autonomie endgültig zum „ärmsten und letzte Strohhalm des Subjekts“ (T.W. Adorno). Gesamtgesellschaftlich haben neoliberale Deregulierungen und Privatisierungen vielfach Sorgelücken entstehen lassen und der „Community-Kapitalismus“ (Sile van Dyk / Tina Haubner) rechnet damit, dass Vereine, Nachbarschaften, Netzwerke und sonstige selbstorganisierte Initiativen diese Lücken schon stopfen.

 

Dennoch gibt es gleichzeitig zu den beschriebenen Schwundformen auch nicht tot zu kriegende Formen der Autonomie. Auch in der außerparlamentarischen, radikalen Linken. Die autonome, antifaschistische Bewegung hat den Zenit zwar längst überschritten. In aktivistischen Kreisen wird heute eher von einer postautonomen Bewegung gesprochen. Aber seit und mit den altermundialen Weltsozialforen, den weltweiten Platzbesetzungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, den Vorschlägen zu einer repräsentationskritischen, „präsentischen“ Demokratie, den feministischen Streikbewegungen, der analogen und digitalen Commons-Bewegung, neuen Vorschlägen zu einer dezentralen, planwirtschaftlichen Produktionsweise, der Kurdischen Selbstverwaltung (mitsamt dem Widerstand gegen den IS in Nordsyrien) und nicht zuletzt der Klimabewegung erfreut sich die Idee der Selbstverwaltung neuer Beliebtheit und wird in der Praxis immer neu erprobt. Zwischen individueller Suche nach dem Richtigen im Falschen und einem neuen kategorischen Imperativ, der der „Neuerfindung des Planeten“ (Gayatri Spivak) gewidmet ist. 

 

In einer gewissen libertären Spielart, wie sie vor allem in den USA zu beobachten ist, wird auch der kompromisslose Entrepreneur à la „Wulf of Wall Street“ noch als autonom betrachtet: Die subversive Grenzüberschreitung gegenüber staatlicher Politik, die ökonomischen Exzessen noch Einhalt zu gebieten verspricht, wird belohnt. Er erscheint völlig unabhängig in seinem Handeln. Der Kern dieser Autonomie ist die negative Freiheit, das bedeutet frei zu sein von etwas, in diesem Beispiel von staatlicher Einflussnahme oder Zwängen. Am Ende wirft sein unbedingtes Emporkommen auch noch etwas für die ihm treu ergebenen Mitarbeiter:innen ab. Gerade wenn staatliche Politik und traditionsreiche Gewerkschaften als unzuverlässig und korrupt erfahren werden oder keine Handlungsmacht haben (oder haben dürfen), es keine oder kaum sozialen Sicherungssysteme gibt, wird diese Art der Gefolgschaft zum einzigen Weg der sozialen Mobilität. In strukturell rassistischen und sexistischen Gesellschaften kann diese Form der libertären Entrepreneurship für viele diskriminierte Gruppen, die sich für eine Form der Lohnarbeit in diesem kapitalistischen Kosmos „autonomer Entrepreneurs“ bewerben, immerhin ersatzweise gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, inklusive dem amerikanischen Traum des Aufstiegs, der bis heute auch an Hautfarbe und Geschlecht geknüpfte Klassenunterschiede zu verschleiern weiß. Dieser autonome Entrepreneur, der einer globalen Elite angehört, hat auch rechte Kritiker. Nicht von ungefähr hat sich Björn Höcke Teile der Globalisierungskritk einverleibt. Eine feministische Kritik an diesem Autonomie verkörpernden, männlichen Erfolgstyp hat aber darauf hingewiesen, dass nicht nur die völkisch-nationalistische, sondern auch die kommunitaristische Kritik am kosmopolitischen Libertarianismus abzulehnen ist. Antiliberaler, die Gemeinschaft schmiedender Kommunitarismus, der auf vererbte, soziale Werte setzt wie Familie, Religion, Nation, Identität usw. setzt diese grundsätzlich über jede Form der individuellen Autonomie. Diese Form der Autonomiekritik schmiedet Volksgemeinschaften. „Communities of Choice“ (Linda Barcley) sind dahingegen genau in der Abkehr der damit verbundenen Rollenzuschreibungen auf der Suche nach “relationaler Autonomie“ – durch die bewusste Wahl von Nicht-Blutsverwandten, Queers und Neuankömmlingen uvm. als den neuen Wahlverwandten. Autonom sind diese anderen Beziehungsweisen eben durch den Bruch mit identitären, exklusiven Sorgegemeinschaften. Doch welche geteilten Werte schreiben sich „Communities of Care“ auf die Fahne, die sich den Begriff der Autonomie neu aneignen? Und wie gerät die „Response-Abilität“ (Haraway) zur Verantwortung, wie das Versprechen zur Übereinkunft, zum Gesetz? Das bitterste ist: Die Klimakrise lässt streng genommen keine Zeit mehr für langwierige, demokratische Aushandlungsprozesse. Und im Moment ist der Glauben an nunmehr grünes Wachstum immer noch ohne wirkliche Alternative (zumindest an der Urne). Im Deutschen Kaiserreich waren es Industrielle wie Robert Bosch, der die Tugenden des Unternehmers mit Gemeinsinn ausgestattet hatte – und die Philosophien einer vom Sozialen völlig loszulösenden Autonomie Lügen strafte. In der Gegenwart sind es, wenn wir uns etwa den Umbau von Heilbronn mithilfe der Dieter Schwarz-Stiftung (Lidl) anschauen, supperreiche Supermarktketteninhaber. Autonomer (im wirtschaftsliberalen Sinne) geht es nicht. 

 

Es benötigt gar nicht unbedingt noch weitere Exkurse in Bereiche wie „Autonomes Fahren“ oder „Autonome Systeme“, also intelligente Maschinen, die zum angeblichen Wohl der Menschen – und mit KI bestückt – selbständig lernen und komplexe Aufgaben lösen. Uns ist wahrscheinlich klargeworden, dass der Begriff vielschichtig und reichlich dehnbar ist. Vielleicht ist er sogar eine eierlegende Wollmilchsau und wir ernten immer neue Erträge, je mehr wir ihn anzapfen. Doch bei all der Recherche nach einer verlorengegangenen Autonomie darf auch der landläufige Gebrauch des Begriffs nicht unter den Tisch fallen. Für manche wird individuelle Autonomie immer wichtig bleiben, aus anderen Gründen als den emanzipativen, die ich in Richtung einer „relationalen Autonomie“ angedeutet habe. Viele haben Autonomie als neoliberale Primärtugend längst internalisiert: Erst kommt der persönliche Erfolg – und dann (vielleicht) die Moral. Und für andere ist Autonomie ein vom kapitalistischen Realismus korrumpierter Begriff, der an den deformierten Individuen klebt und für die Allgemeinheit ohnehin nicht mehr zu retten ist. Was wir in jedem Fall brauchen, wenn wir uns ein umfassendes Bild von „Autonomie“ zusammensetzen, ist Ambiguitätstoleranz. Also Offenheit für Mehrdeutigkeit.

 

Zurück zur Liebe, dem „kleinsten Kommunismus“ (Alain Badiou). Die Frage ist ja immer ob die Einsicht, zum Wohle der anderen zu handeln, im Alltag dann auch zur anderen Handlungsweisen führt. Für eine der erfolgreichsten Paartherapeutinnen in Deutschland, Stefanie Stahl, sind Autonomie und Abhängigkeit nur scheinbare Antipoden. Ohne auf eine „gute Weise abhängig in der Beziehung zu einem geliebten Menschen“ zu sein, sei Autonomie in Wahrheit aber gar nicht zu haben. Sie warnt vor einem einseitigen „Autonomiekult, der eher diejenigen in die Bredouille bringt, die Nähe suchen. Einander brauchen habe den schlechten Ruf der Abhängigkeit, dabei führe nur eine „gesunde Abhängigkeit“ zur Selbstverwirklichung. So kann der Stempel „needy“ auch Licht auf den geringen Selbstwert des vermeintlich Unabhängigen werfen. Die eine Hälfte der Paartherapieklient:innen gehört laut Stahl zu den Beziehungs-Vermeidern (meist er), die andere zu den Bedürftigen oder Bindungssuchenden (meist sie): Das ist der toxische Kugelmensch. Bei den „Switchern“ oder „ambivalent Gebundenen“ wird es dann am interessantesten. Das sind Paare, wo mal die eine, mal der andere den jeweiligen Part übernimmt. Meistens fühlen sich Männer in ihrer sogenannten Autonomie bedroht: Er braucht Ruhe, sie will mehr Nähe. Er reagiert mit noch mehr Ruhebedürfnis. Sie sieht ihre rote Linie überschritten und droht. Vorwurf, Gegenvorwurf. Er lässt sich nicht erpressen und flieht. Selbstregulation versagt auf beiden Seiten, das In-das-Gegenüber-Einfühlen ist unmöglich, es ist irre anstrengend. Sie macht Schluss und swiped auf der Dating-App sofort wieder los. Er wird von Verlustangst heimgesucht und fängt an sich jetzt richtig ins Zeug zu legen. Sie willigt wieder ein. In der Verschmelzung kommt es zu Versprechen, die nicht nachhaltig sind. Er legt sich, nachdem sich der Schock gelegt hat, wieder zurück und braucht seine Ruhe. Vielleicht fängt er nun auch an zu Swipen, nur um mal zu schauen, was sie daran findet, wie er sagt. Die Paartherapeutin nennt das ganze toxisch, wenn die beiden es nicht schaffen, ihre Unsicherheiten, die aus unsicheren oder abgebrochenen Bindungen in der Kindheit rühren, offenzulegen. Doch die Selbstoffenbarung, sich nackt zu machen, benötigt Vertrauen. Autonomie braucht Selbstvertrauen. Die Klient:innen reißen sich drei Wochen oder drei Monate zusammen, versuchen besser über ihre Bedürfnisse zu sprechen, dann geht‘s von vorne los. Wieder Unsicherheit, wieder auf Abstand gehen, wieder Schlussmachen, wieder Swipen, wieder Werben, wieder Versöhnen – und so kann sich diese dynamische Endlosschleife weiter bis zum Wahnsinn drehen. Manche nennen das dann nicht mehr toxisch, sondern Borderline. Die Autonomie ist hier weder individuell noch relational und führt bei diesen Ambivalenzen zu Verzweiflung, Wut und Einsamkeit. Die Beliebtheit desPodcasts und der Bücher von Stefanie Stahl, der Youtube-Channel von Michael Hemschemeier und weiteren zeigt, dass es in Sachen „Autonomie als gesunde Abhängikeit“ noch viel zu lernen gibt. Dass noch viele verletzte Schattenkinder, wie es im Therapeut:innensprech heißt, in den Erwachsenen toben und dass deren Macht viel zur Ohnmacht der ungesund Liebenden beitragen. Und dass Selbstliebe als Grundform für relational-autonom Liebende immer wieder praktiziert werden muss.  

 

Für Eva Illouz ist schiere Wahl(-möglichkeit) das „wichtigste Medium von Subjektivität“ und die „wichtigste kulturelle Erzählung des modernen Menschen“, also die Tatsache, dass ich in Sachen Liebe, Arbeit, Konsum und Politik immer neu (aus-)wählen kann. Jede Wahl beinhaltet auch die Nicht-Wahl (oder Abwahl), schreibt die Kultursoziogin in Warum Liebe endet. Wir wählen wie der Teufel. Aber ist meine (schiere Aus- und Ab-)Wahlmöglichkeit wirklich eine eigenständige Form des Handelns, dessen kulturelle Rahmenbedingung wir Autonomie nennen wollen? Illouz sagt der Kapitalismus habe unsere sexuelle Freiheit kolonialisiert, sexuelle und Liebesbeziehungen seien „verwirrend flüchtig“ geworden, nicht weil wir wirklich die Qual der Wahl hätten, sondern überbordende Abwahlmöglichkeiten. 

 

Wie verhält es sich mit den zärtlichen Versprechen, von denen Kurt spricht: Versagt sich jemand die permanente (Aus-)Wahl oder wird die dauerhafte Auswahl der Geliebten und Umsorgten immer größer? Wie springt der Funke vom Individuum aufs Kollektiv über? Wann werden wir uns auf Kosten der althergebrachten, individuellen Autonomie zugunsten einer relationalen entscheiden? Müsste eine überindividuelle relationale Form der Autonomie, die Liebe als Entscheidung und Hinwendung betrachtet, nicht gerade auf die permanente Abwahl verzichten, also ein Versprechen darauf geben, sich nicht an der nächsten Ecke wieder für die Wahl der Abwahl zu entscheiden, also für jemand Neues? Wer bin ich, der das fragt? Wann wird das als männlicher Besitzanspruch gelesen, als Angst verlassen zu werden und wann als Queeren von Liebesbeziehungen?  

 

Ich frage mich also auch wie sich die radikale, polyamore Zärtlichkeit dazu verhält – im autonomen Sinne der Selbst-Übereinkunft vieler Liebenden? Also wie geht das, wenn mehrere im Spiel sind, die jeweils völlig verschiedene Bedürfnisse nach Nähe und Sicherheit haben? Gibt es dafür bald einen Algorithmus, um das Glück auszutarieren? Well, es gibt ihn längst. Und? Tut die computergesteuerte Ablehnung weniger weh? Ist es nicht ein Armutszeugnis, nur dann „autonom“ lieben zu können, wenn ein Algorithmus meine Beziehungen organisiert, damit sie mir nicht zum Nachteil gereichen? Übereinkunft muss weiterhin heißen, einander in die Augen schauen zu können, oder nicht? 

 

Zuletzt noch zur Kunst (last but not least): „Kunst hat ihren Begriff in der geschichtlich sich verändernden Konstellation von Momenten; er sperrt sich der Definition“ und „Deutbar ist Kunst nur an ihrem Bewegungsgesetz, nicht durch Invarianten“ (schon wieder: Adorno). Lässt sich der Satz auch mit „Autonomie“ beginnen? Autonomie hat ihren Begriff in der geschichtlich sich verändernden Konstellation von Momenten...“ Sicher, auch der Begriff der Autonomie ist veränderlich. Und den meisten Veränderungen ist er in der Kunst ausgesetzt. Was heute noch als autonomes Kunstwerk gilt, ist morgen schon Teil des Kanons oder in Vergessenheit geraten. Um Non-Konformismus oder Anerkennungsverweigerung kann es primär nicht gehen. Auch nicht um sozialistischen Realismus. Wie gibt sich das autonome Kunstwerk seine eigenen Gesetze? Welche können das sein, wenn diese permanent in Bewegung begriffen sind? Welche Selbst-Übereinkunft kennt die Kunst, welche Künstler:innen? Kafka, Beckett, Schönberg waren für Adorno unter den Top 5 der Autonomen (in der Kunst). Gibt es heute noch denselben ästhetischen Anspruch? „Kunst ist die gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft, nicht unmittelbar aus dieser zu deduzieren.“ Und jetzt kommts: „Autonom ist künstlerische Erfahrung einzig, wo sie den genießenden Geschmack abwirft.“ Den genießenden Geschmack hat Adorno in der verhassten kapitalistischen Kulturindustrie verortet. Die Gesellschaft, die diese beheimatete, war eine rationalisierte und durchökonomisierte. „Das Ganze ist das Unwahre.“ So tat sich Adorno leichter damit, das autonome Kunstwerk ex negativo zu benennen: Autonome Kunst „reagiert auf die schlechte Irrationalität der rationalen Welt als einer verwalteten.“ „Denn wahr ist nur, was nicht in diese Welt passt.“ Aber „Anti-Sein“ ist nicht genug. Die Form kommt ins Spiel, die Frage: Wie spricht das autonome Kunstwerk zur Gesellschaft? Sodass autonome Kunst einen Doppelcharakter hat: Nicht allein mit einer Aussage ist es getan, sondern durch die Form erhält Kunst ihren gesellschaftlichen Charakter. Oder in Adornos unverwechselbaren Worten: Autonomer Kunst wohnt etwas „Nicht-Identisches“ inne, etwas „Inkommsensurables“ und „Idiosynkratisches“. Was mich interessiert, ist, was Adorno zur Klimakrise gesagt hätte, zu den durch sie ausgelösten Fluchtbewegungen, zum Massenaussterben in der Tier- und Pflanzenwelt? Und wie er das, was seit den 1960er Jahren als „Antithesis zur Gesellschaft“ formuliert wurde, heute rückwirkend betrachten würde? Ursprünglich habe die Kunst ihre Autonomie erlangt, nachdem sie „ihre kultische Funktion abschüttelte“. Hätte er aus der immer wahrscheinlicher werdenden, andauernden Klimakatastrophe und ihren ungleichen Folgen nicht sogar die Rückkehr zur kultischen Funktion abgeleitet? Dieser Kult, denke ich, könnte heute wieder etwas sein, was sich den Kräften der Zerstörung entgegensetzt, wieviele Tiping Points auch immer schon überschritten oder bald überschritten sein werden. Für den Kunsthistoriker Gene Ray kämpft die kritische Theorie für Gerechtigkeit mit einer Unerbittlichkeit, die halbblind sei. Während sie den Schmerz in der Welt sehe, bringe sie in ihrer Aufbietung der Vernunft ihre eigenen Gefühle des Schmerzes darüber ebenso selten zum Ausdruck wie sie sich zu ihnen bekennt. Ray bezweifelt, dass eine solche Arbeitsteilung – die Rationalität der Trauer den einen und die Gefühle anderen überlassen –  gerechtfertigt sei. Wenn Trauer ein Übergang zu politischer Aktion sein soll, dann müssten Vernunft und Gefühl gemeinsam wirksam werden. „So wie der Geist zur Einsicht geleitet wird“, schreibt Ray, „muss auch der Schmerz die Trauer durchlaufen, um zu Mut zu gelangen. Wenn wir heute wach wären, sollten unsere Tränen dann nicht ebenso schnell fließen wie das abschmelzende Eis?“

 

Hätte Adorno Künstler.innen, die der Klimakrise ins Auge blickten und sich doch nicht zynisch vor ihr in Deckung brächten, zugestanden, die Utopie wieder auszupinseln? „Autonome Kunst ist ein Stück veranstalteter Unsterblichkeit, Utopie und Hybris in eins.“ Wie ließe sich der Doppelcharakter einer sich als autonom verstehenden Kunst heute anwenden? Ich würde diesen gerne daran festmachen, ob sich Künstler:innen darauf einlassen, den einen, einst omnipotenten Begriff des Fortschritts zu verkleinern, um den anderen, noch fragilen, zu kräftigen. Ob sie der Versuchung widerstehen, vor der Pandemie in ein neues Biedermeier zu fliehen und Ungleichheit und Solidarität vor dem Hintergrund der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ins Auge fassen. Ob sie sich trauen, von der bevorstehenden Klimakatastrophe aufzusehen. Ob sie es wagen, beim anthropo-zentri-fugalen Versuch, d.h. dem Versuch, den Menschen aus dem Zentrum allen Lebens zu rücken, an den Fäden mitzuweben, sodass das kommende Lebensnetz allen Erdlingen Möglichkeiten auf Zukünfte bietet. Sodass es nicht bei der Spiegelung der misslichen Lage bleibt, die aus der defätistischen Rechthaberei, dass alle Chancen vertan worden seien und die letzte Stunde endgültig geschlagen habe, noch einen schalen Sarkasmus herauspresst. Trashig wäre hier gar nichts mehr. Wer wollte auch das toxische Geröll aller Länder zusammenklauben, unter dessen Last noch der letzte Altherrenwitz zusammenbricht? Sodass kein:e autonome Künstler:in den Betrachter:innen und Zuschauer:innen und Partizipierenden mit dem nächsten Well-Made-Apokalypse-Porno auf die Pelle rücken wird. Autonome Kunst kann heute heißen, die Realität schonungslos zu betrachten (und betrachten ist auch immer mit-erzeugen) und gleichzeitig mit den Fühlern arglos in die Zukunft zu tasten, weil sich diese in jenem Augenblick, der nicht verloren gegeben wird, erst materialisiert. Autonom ist niemand mehr im stillen Kämmerlein. Indem dies als propagandafreie Übereinkunft zwischen freien und gleichen Künstler:innen, deren Existenz gesichert ist, besteht, kann eine neue Formenvielfalt entstehen.

 

Ich habe weiter oben geschrieben, die Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen und nicht „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant). Warum Hände und Berührung mindestens so wichtig sind wie der Kopf, werden wir hoffentlich in der Praxis noch beweisen können. Vielleicht weil ich Autonomie und Kopflastigkeit nicht verheiratet sehen möchte, ich halte das für einen Irrtum der westlichen Moderne. So will ich also versuchen, jede autonome Flause vom Kopf auf die Füße zu stellen. Im Handumdrehen wird das nicht gelingen. Das werden wir alles in Ruhe besprechen. In mindestens drei Folgen. Und mit den wunderbaren Gesprächsgästen Lucia Muriel, Jan Groos, Eva von Redecker und Şeyda Kurt. 

 

Berlin, März 2022

 

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Kevin Rittberger *1977 in Stuttgart, ist Autor und Theaterregisseur. Er ist Gewinner des Kurt Hübner Regiepreises, des Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatikerpreises. Am Schauspiel Hannover entwickelte und inszenierte er das Stück The Männy. Eine Menschtierverknotung und initiierte und leitete die Veranstaltungsreihe Autonomie. Er lebt in Berlin. Die Uraufführung seines Stücks Wir sind nach dem Sturm, inszeniert von Marie Bues, feiert am 19. November 2022 Premiere im Ballhof Eins.

 

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