Intendantin Sonja Anders über die Möglichkeiten digitalen Theaters

 

Digitales Theater ist genau genommen kein Theater. Es ist ein seltsamer Hybrid, eine Kreuzung aus Film und Theater, an dessen Erforschung und Entwicklung an allen Theatern Europas gerade fieberhaft gearbeitet wird. Mit offenem Ende. Dabei ist ein Paradox offensichtlich: Die Digitalisierung entfernt die zwei Haupt-Protagonist:innen des Theaters – also Bühne und Zuschauer – weit voneinander, um auf der anderen Seite eine neue Verbindung herzustellen. Die Körper begegnen einander nicht mehr im analogen Raum, doch die digitale Wegstrecke verbindet die Bühne direkt mit dem Wohnzimmer. Die analoge Wegstrecke wird verkürzt, Zugänglichkeit erleichtert und Reichweite erzeugt. Und dabei gelingt manchmal etwas Neues, Unerwartetes, Drittes, sowohl zwischen den beiden Protagonist:innen als auch in den Theaterbetrieben selbst.

 

Natürlich funktionieren Resonanz und Performativität durch die Umwandlung des analogen Theaters in digitale Signale nicht in gewohnter Weise. Und der Verlust bei der Übertragung einer Kultur der Körper ins Digitale schmerzt Theaterschaffende und Zuschauende gleichermaßen. Denn beide sind den lebendigen Theaterorganismus gewohnt und leiden unter dem Mangel sinnlich wahrnehmbarer Erfahrung vor Ort, unter Distanz und Vereinzelung.

 

Es sind die Menschen auf beiden Seiten der Leitung durch die Nichtbegegnung der Körper stärker auf sich selbst zurückgeworfen. Vor dem Bildschirm, in der eigenen gegenwärtigen Welt, erhalten sie aus der Distanz Einblicke in Theaterwelten. Mal erscheinen diese monadisch, mal treten sie in Kontakt zum Schauenden, mal dockt dieser mehr an, mal weniger, lässt sich ablenken, spult vor und zurück. Cleverness und technisches Know-How, neue Formate und originelle Erfindungen finden Hochachtung, manchmal Bewunderung. Oft aber bleibt der Blick an den Gesichtern der Schauspielenden, die noch nie von so nah zu sehen waren, hängen, und die Sehnsucht nach körperlicher Anwesenheit und Kontakt nimmt zu. Auf der anderen Seite der Leitung ergeht es den Spielenden nicht anders. Auch sie vermissen die Gegenwart des Publikums, auch sie sind ohne direkte Reaktion auf sich zurückgeworfen und sehnen sich nach dem Lachen, Stocken des Atems, nach Aufmerksamkeit und sogar nach Ablehnung, in der sie sich spiegeln und spüren können.

 

Trotz all der Reibungsverluste haben beide Seiten dieses alten, bewährten Spiels THEATER nicht kapituliert mit der Krise, sondern sind aufgebrochen in neue Sphären. Das Publikum hat Computer und Beamer angeschafft, hat gelernt zu streamen, chatten und zoomen und dies global und lokal zugleich. Im Theaterbetrieb dagegen hat ein echtes Spektakel stattgefunden: Die, denen plötzlich das Publikum fehlte, haben den Schock kurz verdaut und losgelegt. Dem Ruf nach Digitalisierung von Seiten der Medien, Politik, Kolleg:innen wurde gefolgt, die Scham über Aufzeichnungen mit kryptischer Schnitttechnik, akustischem Totalausfall, lahmer Dramaturgie beiseitegelegt, es wurde investiert, geschult und produziert. Weit mehr als hundert Filme, Podcasts, Streams sind am Schauspiel Hannover im letzten Jahr entstanden – unter Mitwirkung aller Beschäftigten.

 

Es erweisen sich die Theater in Deutschland gerade einmal mehr als hocheffiziente und flexible Apparate. Innerhalb kürzester Zeit legen sie einen exorbitanten Sprint hin, erkunden neue Formen, richten Filmstudios ein und investieren in Sachkenntnis, Personal und Material. All dies trotz Lockdown, trotz Krise und Home-Office-Ansage. Und zusätzlich! – denn analog wurde beinahe wie vorher produziert in diesem Jahr des Virus. Man könnte vermuten, dass dieser Elan dem gewohnten Hamsterrad-Modus entspringt, einem systemgeschuldeten Rechtfertigungs- oder Wettbewerbszwang. Es könnte aber auch sein, dass Neugier, Interesse und Verantwortungsgefühl der Beschäftigten der Motor für diese Bewegung sind – denn so habe ich es erfahren.

 

Es ist die beeindruckende Erfahrungsarchitektur unserer Theater mit ihrer exemplarischen Bandbreite an Berufen und Spezialisierungen, die in meinen Augen ermöglicht haben, die Herausforderung der Digitalisierung anzunehmen. Nur dank des reichen Reservoirs ganz unterschiedlicher Expert:innen konnte dieser Produktivitätsschub gelingen. Ich habe kleine Wunder erlebt im vergangenen Jahr: Kolleg:innen, die sich Nächte um die Ohren schlugen, Banden bildeten, um gemeinsam im digitalen Raum zu tüfteln, die überraschende Handschriften zeigten. Die ihre professionellen Fähigkeiten nutzten und überschritten: Sei es der Leiter der Tonabteilung, der im neu entstandenen Film-Studio auch in Zukunft gerne Talk-Runden und Performances live schneidet. Sei es der Mitarbeiter der Kommunikation, dessen Filme in ihrer künstlerischen Ausgestaltung verblüffen. Der Schauspieler, dessen Film zum Londoner Kurzfilmfestival eingeladen wird. Oder der Regieassistent, der ohne Auftrag, aber voller Freude, kleine digitale Kunstwerke erzeugt … Diese Arbeiten sind in großen Zügen in Freiwilligkeit und Gemeinsamkeit entstanden, trotz des Stresses, der ohne Zweifel groß war in diesem Jahr.

 

Wie aber könnte er zukünftig aussehen, der Hybrid, an dem wir gerade arbeiten? Der noch unscharf und ausufernd erscheint. Was ist seine Quintessenz, was seine Besonderheit? Ist die spezielle Aura des Theatererlebnisses und seine politische Dimension in ihm spürbar? Können Spirit und Energie einer Performance bis ins Wohnzimmer des Publikums dringen? Wenn der Mensch und seine Leidenschaften, seine gedankliche und emotionale Komplexität, sein Wille zur Tätigkeit und zur Gemeinschaft Motor und Schlüssel sind für das Theater – auf und hinter der Bühne –, hängt dann die Relevanz der neuen Kunstform nicht von der Sichtbarkeit dieses energetischen Unikums ab? Der Mensch im Zentrum, die Fehlerhaftigkeit und Freiheit des Ereignisses, Teilhabe unterschiedlicher Akteure und das Spiel als Prinzip müssen dafür neu gedacht, gebündelt und digital vermittelt werden.

 

Denn es kann ja nicht darum gehen, eine Kunstform zu kreieren, die in Konkurrenz zum Film oder Fernsehen tritt. Sperriger, fehlerhafter, intimer, interaktiver muss sie sein. Unbedingt eng verbunden mit dem analogen Theaterapparat, aber in der Form doch eigen. Das digitale Theater muss, wie das analoge, von der Spontanität, Tatkraft und Vielfalt der Theatermacher:innen profitieren und sie künstlerisch umsetzen. Die Idee des integrativen Stadttheaters, die Gesellschaft jenseits von Marktinteressen zu gestalten, Fragen zu stellen, ohne eine Antwort zu antizipieren, Standpunkte zu untersuchen und Unmöglichkeiten zu erfinden, zu spielen! – diese Idee kann ein Funke für die digitale Bühne sein. Und dieser Funke wiederum kann weitere schlagen, denn die Transformation zweier Künste macht ja nur Sinn, wenn etwas Drittes dabei herauskommt, und auch das analoge Theater wiederum daraus lernt. Diesen Prozess haben wir ohne Zweifel gerade erst gestartet …

 

(dieser Artikel erschien zuerst im Jahrbuch Theater Heute)

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