von Katja Sigutina

 

Die Freiheit, selbst entscheiden zu können, wo und wie ich lebe, zähle ich zu einem meiner größten Privilegien. Auch wenn nicht ich es war, die beschloss, in welchem Land ich aufwuchs − ich wurde hier mit hingebracht −, so habe ich nach dem Erlangen meiner Volljährigkeit immer selbst entschieden, wohin ich ging. 

So verschlug es mich ins Rheinland, später lebte ich eine Weile in Spanien, kostete vom sowohl leichten als auch schweren Leben in Tel Aviv und zog letztlich vor einer Weile in die Hauptstadt. Währenddessen durfte ich frei reisen, wohin ich wollte: in die verschiedensten Ecken des amerikanischen Kontinents, die Karibik, kreuz und quer durch Europa.

Der deutsche Pass – er ist das goldene Ticket unter den Staatsbürgerschaften. Zumindest wenn es um die Reise- und Bewegungsfreiheit geht. Er brachte mich, wohin ich wollte, ohne besondere Nachfragen oder lange Wartezeiten. 

 

Ich befand mich nie auf der Flucht. Trotz Flüchtlingstitel in den ersten Jahren in diesem Land kann ich nicht sagen, ich wäre vor etwas geflohen. Meine Eltern, möglich, da müssten sie an dieser Stelle schreiben und erzählen, wieso sie Anfang der Neunzigerjahre herkamen. Aber ich: Ausländerin – sicher. Flüchtling – nein. 

 

Eine der vielen Unwägbarkeiten von Menschen auf der Flucht ist doch, dass sie sich in den meisten Fällen nicht aussuchen können, wohin sie fliehen. Es geht in erster Linie um Sicherheit. Schnell raus aus der Gefahrensituation. Das eigene Leben retten und das der Lieben und Unselbstständigen, für die man Verantwortung trägt.

 

Ich sehe Bilder von Menschen, die sich an Flugzeugräder klammern, während die Maschine abhebt, in der Hoffnung auf mehr Sicherheit. 

Menschen, die sich an Flugzeugräder eines startenden Flugzeugs festhalten, tun dies nur, weil sie wissen, dass, wenn sie es nicht täten, die Gefahr vor Ort noch bedrohlicher wäre.

 

Ich sehe Bilder von Menschen, die in Schlauchboote steigen, um das Mittelmeer zu überqueren. Sie tun dies in der Hoffnung, diese gewagte und gefährliche Überfahrt zu überleben und am Ende in einer sichereren Umgebung zu landen, in dem Wissen, dass diese Überfahrt ihren Tod und den Tod aller Anwesenden bedeuten könnte. 

 

Ich sehe Bilder von Menschen, die sich in überfüllte Züge gen Westen drängen oder gedrängt werden, vom Säugling bis zum alten Greis. Sie tun dies, weil sie vor Raketen und Artilleriegeschossen fliehen in der Hoffnung, dass sie am Ende Zuflucht an einem sichereren Ort für sich und ihre Lieben finden. 

 

Menschen tun all diese Dinge aus Hoffnung und Liebe. Und aus dem Willen zu leben. Ihr Lebenswille lässt sie das Risiko des Unbekannten in Kauf nehmen, um Schutz zu finden und Sicherheit.

 

Kann man Flucht auch eine Reise nennen? Oder ist es ein unpassender, gar makaberer Euphemismus, gänzlich unangemessen für die Situation? 

Sicher ist es immer von den äußeren Umständen abhängig. Als wir als Flüchtende kamen, schoss niemand auf uns oder brannte unser Haus nieder. „Wenn es uns nicht gefällt, kehren wir wieder zurück“, dachten sich meine Eltern im Mai vor 28 Jahren. Teilen diesen Gedanken auch diejenigen, die im Schlauchboot über die Leichen ihrer hoffnungsvollen Vorgänger:innen am Meeresgrund fahren?

Vielleicht ist es wiederum genau dieser Gedanke, den alle Menschen teilen, wenn sie ihre Heimat, ihre Herkunft, ihren Hintergrund verlassen, auch wenn es die Umstände unmöglich machen, zurückzukehren und es keine reale Option darstellt, sondern eher ein inneres Sicherheitsnetz, das zur eigenen Beruhigung dient. 

 

Niemand will das Bekannte verlassen, um im Unbekannten Zuflucht und Sicherheit zu suchen.
Niemand will seinen Besitz freiwillig zurücklassen in der Ungewissheit, ob etwas davon erhalten bleibt.

Niemand will seine Freund:innen und Wegbegleiter:innen verabschieden, ohne zu wissen, ob man sich wiedersehen wird, ob man selbst und die anderen überleben.

 

 

Ich sehe Menschen

junge Frauen

Frauen wie mich 

mit Taschen 

und Kindern oder ohne

mit Katzen oder ohne 

mit Hunden oder ohne 

mit Gruppen oder ohne

am Berliner Hauptbahnhof

am Kölner Hauptbahnhof

am Hannoveraner Hauptbahnhof 

am Düsseldorfer Hauptbahnhof. 

Mit müden Gesichtern und dankbaren Augen für jede warme Stimme, die sich an sie richtet. Ich sehe Menschen in gelben und orangenen Warnwesten, die Taschen tragen, Tickets besorgen, Auskünfte geben, Tee ausschenken.

 

Ich sehe einen Dreijährigen, ich halte seine Hand, während ich die kleine Familie durch den großen Bahnhof manövriere. Er umfasst meine Hand ganz fest und lässt sie nicht los. Seine Mutter und ältere Schwester erzählen mir, wo sie herkommen und wie lange sie schon unterwegs seien. Das Mädchen sagt, ich würde nicht glauben, was sie erlebt hätten, was sie alles gesehen hätten. Sie ist fünf, maximal sechs Jahre alt. 

Was hat sie bereits erlebt, was für mich unglaublich sein soll?

 

Sie wollen weiterreisen, sie hätten Bekannte dort. Ich bringe sie zum Zug und verabschiede mich. Der Junge hält meine Hand immer noch fest und lässt sie erst los, nachdem seine Mutter ihn dazu aufgefordert hat. „Как будто ты своя/Als wärst du die Eigene“, scherzt sie. Wir lachen. 

Ich sehe Menschen, die das Bekannte verlassen, um im Unbekannten Schutz und Sicherheit für ihre Lieben zu finden, und dabei lachen. Keinen humorvollen Kommentar, kein freundliches Augenzwinkern auslassen.  

 

Wie wird es dieser Familie ergehen? Wie wird die Mutter sich entschließen? Wird sie bleiben, um sich und ihre Liebsten in Sicherheit zu wissen, wird sie es hier hassen oder glücklich sein über die Entscheidung, hergekommen zu sein? Werden sie weiterreisen? Werden sie zurückkehren, wenn die Gefahr abgeklungen und noch etwas übrig geblieben ist, wohin man zurückkehren kann?

 

Was wird der kleine Junge in 28 Jahren sagen? Wird er sagen, er wurde hier mit hingebracht, konnte abgesehen davon jedoch immer selbst frei entscheiden, wohin er geht, die Welt stand ihm offen? Er wäre mal ein Flüchtling gewesen, aber das waren andere Zeiten, das wäre nur der Anfangsstatus hier gewesen? 

Wird er sich bewusst an die Ereignisse erinnern können oder nur schemenhaft, ohne zu wissen, ob es seine eigenen Erinnerungen sind oder die Erzählungen seiner Mutter und Schwester, die er so oft hörte, bis sie zu seinen eigenen wurden?

 

*

 

Katja Sigutina, *1992 in der Ukraine. Zwei Jahre später emigrierte sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Nach Etappen in der Musik- und Theaterbranche arbeitet sie seit 2020 für das europäische Programm Dialogperspektiven in Berlin. Zuvor studierte sie Kommunikations-, Medien- und Kulturwissenschaften in Köln, Alicante und Düsseldorf. In ihrer Studienzeit engagierte sie sich ehrenamtlich im Verein „TaMaR Germany e. V.“, dessen Vorsitzende sie von 2018 bis 2021 war. In ihrer Arbeit beschäftigt sich Katja Sigutina vornehmlich mit den Themen postnationalsozialistische Gesellschaft, gegenwärtige jüdische Lebensrealitäten in Deutschland und plurale Gesellschaften. 

 

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