„Jede Begegnung ist von Bedeutung“

 

Nach der Sommerpause startet das Schauspiel Hannover in die vierte Saison unter der Leitung von Sonja Anders. Die Intendantin und die Leitende Dramaturgin Nora Khuon geben Einblicke in das Programm.

 

Die neue Saison beginnt mit Shakespeares Hamlet, dessen Hauptfigur als Zauderer und Zögerer bekannt ist. Ist er ein Symptom unserer Zeit – mit seiner Furcht vor der eigenen Courage?

 

Sonja Anders: Ja, Hamlet steht nicht ohne Zufall am Beginn der nächsten Spielzeit. Unsere Gesellschaft sieht sich gewaltigen Herausforderungen gegenüber: Klimawandel, Pandemie und Krieg. Wir müssen dringend handeln – und zögern zugleich. Die Furcht vor den Konsequenzen des Tuns oder Nicht-Tuns führen zu unterschiedlichen Reaktionen. Ob wir unsere Ohnmacht überwinden oder gerade nicht, darum geht es in Hamlet. Neben Filmadaptionen, Uraufführungen und Stückentwicklungen stehen auch bekannte Stoffe wie Theodor Storms Der Schimmelreiter oder Henrik Ibsens Peer Gynt auf dem Programm.

 

Gibt es ein verbindendes Thema, das Ihnen besonders wichtig ist?

 

Sonja Anders: Es ist die Unterschiedlichkeit der Menschen, die mich fasziniert. Erst durch sie wird Gemeinschaft lebendig. Unsere Bühnen werden bevölkert zum Beispiel von einer Ärztin, die ihre eigene Moral befragt; einer Comicfigur, die moderne Paarbeziehungen reflektiert; einer Schauspielerin, die noch einmal die Bretter der Welt betritt; von Peer Gynt, dem ewigen Lügner – und eben Hamlet, der mit seinem Verhältnis zur Gewalt hadert. Im Zentrum der Spielzeit steht der Mensch in seiner Komplexität, Schönheit, in seiner Fähigkeit zu lernen, zu fühlen, zu handeln, zu lachen, zu kämpfen, zu lieben. Jede dieser Handlungen ist politisch. Jede Begegnung zwischen Menschen ist von Bedeutung für die Welt.

 

Die letzten zwei Jahre standen vor allem unter dem Einfluss von Corona. Und dann der Krieg in der Ukraine. Sehnt sich das Publikum jetzt nach mehr Ablenkung und Unterhaltung?

 

Nora Khuon: Ablenkung und Unterhaltung sind sicherlich verständliche Sehnsüchte. Und ich hoffe auch, dass wir unterhaltsam sind, nichts ist schlimmer als ein langweiliger Theaterabend. Unterhaltung kann aber sehr wohl klug sein, sie kann berühren, nachdenklich machen und auch komplexe Themen zugänglich aufgreifen.

 

Haben Sie deswegen mit Tartuffe und Der nackte Wahnsinn zwei bekannte Komödien im Programm?

 

Nora Khuon: Ich würde die beiden Stücke nicht in einen Topf werfen, inhaltlich verhandeln sie Gegensätzliches. Der nackte Wahnsinn ist durchdrungen von einer großen Gläubigkeit an das, was man tut, in diesem Fall Theater. Wir schauen einer Theatertruppe zu, wie sie um das Gelingen einer Aufführung ringt, dabei vieles schiefgeht, aber sie sind als Gruppe beieinander und in ihrem Kampf für eine Sache verbündet. Bei Tartuffe gibt es nichts Gemeinsames außer dem Durst nach Erlösung. Molière zeigt uns eine Gesellschaft, die durchdrungen ist von Narzissmus und Selbstbetrug. Der Humor entsteht im Bezug zur realen Schmerzgrenze: Wir dürfen über den eigenen Schmerz und unsere Unbeholfenheit lachen. Ich finde, das hat etwas Heilendes nach all den Monaten des Verzichts und der Einsamkeit der Pandemie.

 

Neben dem Berliner Theatertreffen waren Sie dieses Jahr bei allen wichtigen deutschsprachigen Festivals vertreten – kommt das auch in Hannover gut an?

 

Sonja Anders: Es sind vor allem neue Stücke und Uraufführungen, die in Hannover von unserem Publikum sehr gut angenommen wurden. Das ist ein wunderbarer Rückenwind für unsere Arbeit. Wir wählen die Stoffe nach inhaltlichen und künstlerischen Gesichtspunkten aus, ob es dann auf der Bühne glückt, lässt sich im Vorfeld nicht immer sagen. In der nächsten Spielzeit steht beispielsweise die Uraufführung von Wir sind nach dem Sturm auf dem Programm, das Stück hat Kevin Rittberger für uns geschrieben. Oder auch die deutschsprachige Erstaufführung Rivka, ein kleines Meisterwerk der großen niederländischen Autorin Judith Herzberg.

 

Sie kooperieren etwa auch mit dem NITE Groningen, dem Festival Theaterformen und gleich zweimal mit den Münchner Kammerspielen. Steckt dahinter die Idee von mehr Nachhaltigkeit im Theaterbetrieb?

 

Sonja Anders: Wenn verschiedene Institutionen ihre Erfahrungen und Kräfte bündeln, ist das immer ein Vorteil. Und wenn die Inszenierungen dann auch noch an mehreren Häusern zu sehen sind, muss insgesamt weniger gebaut und produziert werden – selbst wenn dafür mal ein Lkw nach Groningen fährt. Nachhaltigkeit beschäftigt uns aber auch sonst. Wir recyceln teilweise unsere Bühnenbilder oder Kostüme und haben auch im Bereich Energieeinsparung viel erreicht.

 

Wie geht es weiter mit den Universen und dem Programm für junges Publikum?

 

Nora Khuon: Die Universen haben sich unter der künstlerischen Leitung von Murat Dikenci zu einer solidarischen Bühne entwickelt, die sich den Stimmen widmet, die zu wenig oder gar nicht gehört werden. Sie eröffnen im Oktober mit einer Performance der Gedichte von Yahya Hassan. Mit Astrid Lindgrens Mio, mein Mio gibt es dann ein bildmächtiges und fantasievolles Familienstück im Schauspielhaus. Die Choreografin Antje Pfundtner eröffnet den Ballhof mit einem Stück über das Zuhause und seine Bedeutung. Wir wollen weiter auf allen Bühnen junge Lebenswelten zeigen und alle Generationen verbinden.

 

Es gibt auch eine Reihe neuer Gesichter im Ensemble und bei der Regie …

 

Nora Khuon: Ja, in unserer vierten Spielzeit gibt es Bewegungen im Ensemble. Einige unserer Spieler:innen sind inzwischen sehr gefragt bei Kino-, Fernseh- oder Streaming- Produktionen und wechseln nun zum Film, wir haben mehrere Schwangerschaften, was uns sehr freut, aber auch bedeutet, dass wir unser Ensemble verstärken müssen. Johanna Bantzer kehrt zurück nach Hannover. Auch mit Florence Adjidome, Nellie Fischer-Benson, Max Koch, Helene Krüger, Max Landgrebe, Birte Leest und Tom Scherer haben wir starke Persönlichkeiten gewonnen. Ich freue mich riesig auf sie!

 

Zum Schluss: Ihr persönlicher Tipp für die nächste Saison – was sollte das Publikum auf keinen Fall verpassen?

 

Sonja Anders: Das Hoffest am 3. September! In den letzten Jahren konnte es nicht stattfinden, jetzt feiern wir zusammen mit dem Künstlerhaus wieder ein Eröffnungsfest mit einem bunten Programm für die ganze Familie.

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