Hunger nach Leben

 

Bungalow nach dem Roman von Helene Hegemann hat im Ballhof Zwei Premiere. Regie führt Rebekka David. Wir sprachen mit ihr über unterschiedliche Lebenswelten und gegensätzliche Perspektiven.

 


Helene Hegemanns Roman erzählt von zwei Welten, die zwar räumlich nah beieinanderliegen, aber entfernter nicht sein könnten. Was unterscheidet sie?

 

Zuallererst einmal das Kapital. Und damit meine ich nicht nur Geld oder Wertanlagen, sondern alle Ebenen: Die eine Seite verfügt über ein sehr großes ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital, die andere Seite hat kein Geld, keine Möglichkeit, sich barrierefrei und spielerisch kulturelle Güter anzueignen, kein soziales Netz, das sie auffängt und ihnen im Notfall aushilft, und wird zusätzlich noch vom Rest der Gesellschaft als wertloser Abschaum stigmatisiert. Aus diesen fundamental entgegengesetzten Positionen entstehen also logischerweise auch fundamental entgegengesetzte Welten – in der einen Welt sind alle Türen offen, in der anderen lässt sich noch nicht einmal das Gartentor aufstoßen.

 

Aus welcher Perspektive näherst du dich der Geschichte?

 

Im Roman liegt der Fokus auf Charlies Perspektive, wir sehen die Welt und alle Figuren durch ihre Augen. Wir haben uns aber gefragt, welche Sicht eigentlich die ist, die wir als Kulturschaffende und als Menschen mit einem gewissen Einkommen auf das Milieu haben, in dem Charlie aufwächst, und gleichzeitig auch, aus welcher Perspektive der:die durchschnittliche Zuschauer:in darauf guckt. Natürlich haben nicht alle Zuschauenden beispielsweise den gleichen ökonomischen Hintergrund, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Mehrheit nicht von Hartz IV ihren Lebensunterhalt bestreiten muss, ist doch sehr hoch. Wie schauen wir also auf eine Figur, die eben gerade nicht das Geld hat, sich ein Ticket fürs Theater zu kaufen, die vielleicht auch nicht denkt, dass das ein Ort wäre, an dem sie willkommen ist oder überhaupt, dass eine Institution dieser Art für sie interessant sein könnte? Da unser Blick auf die Lebenswelt der Protagonistin in der Arbeit unumgänglich immer mit auf der Bühne steht, haben wir uns dafür entschieden, ihn nicht zu verstecken, sondern Teil des Spiels werden zu lassen. Daher gibt es bei uns zwei Perspektiven, die sich gegenseitig an schauen: einerseits aus den Augen eines Paares, das sich über Mortadella aus Sardinien und die Möglichkeit von Katharsis unterhält, und andererseits aus den Augen eines jungen Mädchens, das mit einer psychisch kranken, alkoholabhängigen Mutter aufwächst und sich überlegen muss, wo das Essen für den nächsten Tag herkommt.

 

Ist das auch ein Ringen um die Deutungshoheit über die Geschichte?

 

Ich glaube, es geht beim öffentlichen Erzählen auf einer Bühne vor einem Publikum mehr oder weniger immer um Deutungshoheit. Bei uns liegt sie nicht bei einer Figur, sondern bei mehreren, sodass die Widersprüche in ihren Perspektiven sichtbar werden. Charlie beginnt, ihre Nachbarn zu stalken, sie beobachtet sie, drängt sich ihnen auf. Was lässt sie so hartnäckig sein? Da gibt es unterschiedliche Motivationen, die zusammenwirken. Zum einen gibt es ihre Faszination und ihren Hunger nach einer anderen Welt und zum anderen geht es natürlich im obsessiven Prozess des Stalkens selbst darum, sich zu spüren, lebendig und im Moment, sich ganz auf eine Sache zu fokussieren und alle anderen in diesem Fall oft traumatischen Erlebnisse auszublenden. Sie beobachtet eine ihr unbekannte Welt, die sie nicht einfach entschlüsseln kann und die daher wunderbar als Projektionsfläche für all ihre Sehnsüchte taugt. Das Stalking verselbstständigt sich ab einem gewissen Punkt so sehr, dass ich weniger von hartnäckigem als von Suchtverhalten sprechen würde.

 

Was sucht andererseits das Paar in der Begegnung mit Charlie?

 

Ich glaube, auf beiden Seiten gibt es eine Lücke, die danach schreit, gefüllt zu werden. Einen Hunger nach Leben, danach, dass etwas passiert, das im Körper spürbar ist, eine Suche nach einer Begegnung mit einer Person, die sie nicht sofort verstehen und einordnen können, die anders als sie selbst ist und die sie als andere in ihrer Andersartigkeit akzeptieren müssen und dadurch herausgefordert werden und an eigene Grenzen stoßen. Eigentlich also vielleicht genau das, was wir bestenfalls finden, wenn wir ins Theater gehen. Charlies Mutter ist nicht nur erwerbslos und lebt in finanziell prekären Verhältnissen, sie ist zudem psychisch krank und alkoholabhängig. Diese Probleme bedingen sich natürlich gegenseitig, verstärken sich und sind in dem Stadium, in dem wir die Mutter kennenlernen, nicht mehr voneinander zu trennen. Dafür eine Übersetzung auf der Bühne zu finden ist eine Herausforderung. Für uns ist wichtig, dass dabei immer der Mensch im Fokus steht, der nicht dieses Problem ist, sondern sie hat, also viel mehr ist als die Summe dieser Probleme allein. Um die Krankheit besser zu verstehen, haben wir uns Unterstützung von einer Psychiaterin geholt, was für uns sehr hilfreich war.

 

Was bedeutet das Leben in Abhängigkeit von dieser Mutter für Charlie?

 

Das Verhältnis steht auf dem Kopf: Das Kind muss sich um die Mutter kümmern. Gleichzeitig verliert Charlie durch das Aufwachsen mit einem nicht zurechnungsfähigen Elternteil ihr Grundvertrauen in die Welt, in die Strukturen einer Gesellschaft, die vorgibt, für ihre Mitglieder Sorge zu tragen und dies doch auf schmerzliche Art an den notwendigsten Stellen vernachlässigt. Das scheint eine Situation zu sein, aus der Charlie dringend raussollte, gleichzeitig scheint ihre obsessive Liebe zu dem Paar auch kein idealer Ausweg zu sein.

 

Im Roman ist der Beginn einer Dreiecksbeziehung angedeutet, weißt du schon, wie die Geschichte für „unsere“ Charlie ausgeht?

 

Nein, das weiß ich noch nicht. Das Ende kommt zum Schluss.

 

Interview: Annika Henrich

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