„Von Höhepunkt zu Höhepunkt“
Philippe Goos im Gespräch mit der Produktionsdramaturgin Nora Khuon über Molières Komödie Der eingebildete Kranke im Schauspielhaus.
Nora Khuon: Philippe, du spielst die Hauptrolle in Molières Der eingebildete Kranke. Die Proben haben begonnen. Worum geht es?
Philippe Goos: Im Zentrum steht ein Mann, der glaubt, krank zu sein, und sich aller möglicher Hilfsmittel bedient, um dieser Krankheit zu entkommen. Doch eigentlich existiert diese Krankheit nicht. Was real ist, ist seine große Angst vor der eigenen Endlichkeit. Seine Angst machen sich einige Menschen zunutze, um sich zu bereichern. In unserer Lesart des Stückes wollen wir von einer gesellschaftlichen oder auch zivilisatorischen Krankheit im Sinne eines weitverbreiteten Narzissmus erzählen. Der von mir gespielte, erwachsene Mann wird dafür zum Sinnbild. Er verhält sich in einer Art und Weise infantil, sowohl bewusst als auch unbewusst. Seine wirkliche Krankheit besteht darin, dass er nicht erwachsen werden und nicht einer Form von Vergänglichkeit anheimfallen will. Er möchte keine Verantwortung für sein Leben übernehmen, keine Entscheidungen und deren Konsequenzen tragen. Gleichzeitig will er auf nichts verzichten und empfindet sich als Zentrum der Welt und wird dadurch gewissermaßen unfähig, empathisch zu handeln. Darin formuliert sich für mich das gesellschaftliche Problem. Man handelt und existiert oftmals nach dem Prinzip „Porno“, das heißt von Höhepunkt zu Höhepunkt. Die Aufmerksamkeitsspanne, die dazwischenliegt, in der man auch mal Sachen erträgt, die nicht einer schnellen Befriedigung, dem Genuss oder dem Gewinn dienen, will oder kann man nicht mehr aushalten. Das sickert peu à peu in die Persönlichkeit und ist Zeichen einer, wie ich finde, zivilisatorischen Krankheit. Ich hoffe, wir können das in einer sehr unterhaltsamen Form zeigen. Das ist der ernste Hintergrund, in dieser Komödie, die es vordergründig natürlich sein soll.
Die Komödie gerät schnell in Verruf, bloße Unterhaltung zu sein. Du hast gerade geschildert, wie ihr versucht, komplexere gesellschaftliche Zusammenhänge und Probleme in der Komödie abzubilden. Ist die Komödie vielleicht sogar besser
dazu fähig, weil sie zugänglicher ist?
Ich finde es gut, wenn man im Drama auch die Komödie sucht und genauso in der Komödie das Drama oder den ernsthaften Betrag. Ohne ihn würde es sicherlich auch humorvoll werden, aber auf eine Art, die mich weniger interessiert. Ich glaube, der Humor ist eine der besten Möglichkeiten, um auf komplexere Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Die Kraft des Lachens ist eine, die die Dinge aus den Kategorien hebt. Sie stellt sich weder über noch unter die Zuschauenden und macht am ehesten eine Form von Un-Sinn deutlich. Das halte ich erst mal für eine sehr große und wichtige Kraft. Mit ihrer Hilfe kann ich anfangen, etwas Neues zu denken oder zu konstruieren, in Leichtigkeit und ohne großen moralischen Druck. Gleichzeitig kann ich natürlich auch einfach über einen Witz lachen. Da muss ich keine Kategorie aushebeln oder Un-Sinn finden, wobei ich schon glaube, dass jeder noch so schlechte Witz das auf eine Art tut. Das Interessante ist, dass Absurdität meistens einen hohen Betrag fordert und dieser dann den Kopf in sehr angenehmer Weise ins Denken bringt und sich feste Vorstellungen vielleicht lösen.
Um auf das Prinzip Porno zurückzukommen: Höhepunkte reihten sich während des Lockdowns spärlich aneinander, gesellschaftlich befinden wir uns eher jenseits dieses Prinzips. Die Angst, krank zu werden, war und ist zurzeit keiner Hysterie geschuldet, sondern eine sehr reale Gefahr. Man könnte es als zynisch deuten, in einer solchen Zeit den Eingebildeten Kranken zu spielen. Verändert die Pandemie deinen Blick auf das Stück und auf das Spielen an sich?
Was die Pandemie angeht – ich persönlich bin nicht auf der Suche nach einem Kommentar dazu. Jedoch blickt man durch den Lockdown anders auf sich selbst und wurde außerdem noch stärker in eine digitale Parallelwelt versetzt. Die Zivilisationskrankheit, die es in ihrer permanenten Selbstbespiegelung im Digitalen nicht schafft, sich aus ihrer Egozentrik zu befreien, hat sich durch die Pandemie noch mal verstärkt. Außerdem hat sie dazu geführt, sich stärker mit der eigenen Vergänglichkeit auseinanderzusetzen, woraus sich eine größere Angst entwickelt. Unsere kapitalistisch geprägte Welt reagiert auf diese Angst mit dem Bedürfnis nach Konsum und Vereinfachung; das wiederum verstärkt auch das Prinzip Porno, von Höhepunkt zu Höhepunkt.
Dein eingebildeter Kranker agiert mit großer Konsumfreudigkeit und viel Geld auf die Vergänglichkeit. Sind Klassismus und soziale Hierarchisierung durch das Gesundheitssystem ein Thema eures Abends?
Definitiv, uns geht es viel um die Themen Schönheitskult und Selbstoptimierung. Gleichzeitig spielt auch der Wohlfühlablass eine Rolle. Also dass man sagt, ich gönne mir etwas, kaufe mir das rare Teeprodukt, damit ich mich besser fühle, was natürlich nur daher kommt, weil ich oder die Figur sich das in dem Moment leisten kann. Auch das ist ein Teil der Zivilisationskrankheit: zu sagen, es reicht nicht, man kann noch besser, noch schöner, noch gesünder, noch effektiver sein. Es existiert eine irrsinnige Produktpalette, obwohl vieles eigentlich nicht nötig wäre, aber es bringt eben einen riesigen Markt mit sich. Und das Gesundheits- und Phamasystem mit einer in allen Bereichen vor allem gewinnorientierten Strategie mischt da sicherlich ordentlich mit.
Bei Molière gibt es ein unglaubliches Ärzte-Bashing: Es geht auch darum, der Medizin an und für sich abzusprechen, dass sie helfen kann. Das ist im 21. Jahrhundert eine sehr schwierige These. Was macht ihr damit?
Die Ärzte werden überhaupt nicht gebasht. Bei uns sind die Ärzte auch gar keine Ärzte, sondern Hochstapler, eigentlich sogar Performer. Und das finde ich als Übersetzung super. Moderne Medizin zu verteufeln ist ja Schwachsinn. Aber den Wunsch, ewig jung und schön und hocheffektiv zu sein und sich aller Möglichkeiten, die die Welt bereithält, bedienen zu können, empfinde ich als sehr heutig: Der Irrglaube, das Leben könnte ein ewiger Springbreak oder ein andauernder All-inclusive-Urlaub sein, verkauft sich eben gut.
... in dem es nur um dich als Figur geht. Nichts außer dem eigenen Genuss und der Wertschätzung oder Anerkennung der eigenen Person zählt.
Genau: Ich lebe jetzt und ich will jetzt mein Glück maximieren. Ich weiß aber gar nicht mehr, was genau dieses Glück eigentlich ist. Das ist eines der großen Probleme meiner Figur und ich glaube unserer Gesellschaft. Er sehnt sich nach einem irgendwo und irgendwann verlorenen Glückszustand. Abseits des Konsums kann er die Form von Glück für sich gar nicht mehr definieren. Was er eigentlich braucht, weiß er kaum noch und ist dadurch nie mit irgendwas glücklich, so lebt er auch oft nicht mehr im Moment, sondern ist immer etwas ent- oder verrückt.
Komödien zu proben ist bekanntermaßen anstrengend. Macht das Probieren trotzdem Spaß?
Komödie spielen ist schwer. Damit sie funktioniert und wirklich komisch ist, verlangt sie Präzision: Rhythmus, Mechanik, Tempo, alles muss genau gearbeitet sein und sich dann wieder freispielen. Das macht irrsinnig viel Spaß, wenn es sich einlöst. Wenn nicht, dann gibt es kaum etwas Frustrierenderes. Ein Witz, der eben noch funktionierte, der aber plötzlich aufgrund des Timings oder der Haltung nicht mehr zündet, ist furchtbar. Das tut mir immer richtig weh. Peinlichkeit und großes Glück liegen in solchen Momenten sehr nah beieinander, aber diese zwei Hebel sind eben Besonders an einer Komödie.
Zum Abschluss des Gesprächs haben wir uns ein paar Entweder-oder-Fragen für dich ausgedacht, die du jetzt fern deiner Figur beantworten kannst. Los geht’s:
Bist du eher der Typ Bauch- oder Kopfweh?
Kopfweh. Hab ich oft.
Molière oder Shakespeare?
Beide!
Aspirin oder Homöopathie?
Homöopathie.
Komödie oder Drama?
Lustiges Drama.
Texttreue oder Improvisation?
Diese Dichotomien sind schrecklich. Texttreue Impro. Oder andersherum.
Kloster oder Zwangsehe?
Nicht christliches Kloster.
Protagonist oder Ensemble?
Ensemble natürlich.
Eiskammer oder Sauna?
Ich ertrag beides nicht.
Das war's schon. Das waren sie alle.
Gut. Das ging aber schnell. Davor hatte ich am meisten Angst.
Ich danke dir für das Gespräch.