Kevin Rittberger im Gespräch mit Jan Groos

 

Rittberger: Jan, du bist Forscher, Filmemacher, Podcaster. Dein Podcast Future Histories ist in meinen Augen eine wahnsinnige Fundgrube, wie ein Garten, in dem verschiedene Pflanzen kultiviert werden, die teilweise im Dialog und teilweise nebeneinander stehen. Grob gesagt hast du die Planwirtschaft und den Sozialismus wieder aus der Versenkung geholt und denkst beides mit vielen Kompliz:innen und Partner:innen neu und auf der Höhe der Zeit. Was steht im Hauptfokus des Podcasts Future Histories?

 

Groos: Also der Subtitel lautet ja „Der Podcast zur Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft“, und im Grunde ist es das auch schon. Ich hatte unglaublich viele Fragen in Bezug darauf, wie denn Zukünfte aussehen könnten jenseits dessen, was einem so gemeinhin präsentiert wird. Und ich zehre von einem reichen Schatz meiner Gäste, mit denen ich mich alle zwei Wochen auf diese Themen einlassen und mit denen ich gemeinsam suchen darf. Ich versuche kontinuierlich, meine Bandbreite dessen, was denn möglich sein könnte, im Dialog mit anderen zu erweitern und mir auch eine Art Vorstellungsvermögen zu erarbeiten. Es ist natürlich nicht so, dass ich allein den Sozialismus oder die Planwirtschaft aus der Versenkung geholt hätte, wir machen das gemeinsam. Es gibt sozusagen einen bestehenden Diskurs zu Fragen zeitgenössischer Planwirtschaft, und das ist ein Strang, den ich mit Future Histories relativ beharrlich versuche zu bearbeiten.

 

Rittberger: In deiner letzten Podcast-Folge hast du ein Gespräch mit Lea Ypi, einer albanisch-britischen Politikwissenschaftlerin, geführt, die gerade ihr Buch Frei veröffentlicht hat. Anhand ihrer eigenen Familie, die sowohl die Erfahrung des real existierenden Kommunismus gemacht hat als auch nach 1990 die des Marktliberalismus, versucht sie sich an einer Analyse und stellt zunächst einmal ex negativo fest, was es alles nicht sein kann. Und jetzt fragst du in deinem Podcast: Wie geht es dann? Wie gehst du bei den unterschiedlichen Gesprächspartner:innen vor?

 

Groos: Schwierig. Ich würde sagen, mit einem aufrichtigen Interesse. Immer wenn ich selber etwas nicht verstehe, frage ich nach. Mir persönlich ist es auch wichtig, in die Konstruktion zu kommen. Auf der einen Seite muss es natürlich eine detaillierte, tiefgehende Auseinandersetzung, Analyse und Kritik des Bestehenden geben, aber auf der anderen Seite sollte man sich auch fragen, wie denn darauf aufbauend Formen der Konstruktion aussehen könnten, die über das hinausreichen, was wir jetzt haben. Viele Menschen, auch unabhängig vom Milieu, sind mit dem Status Quo nicht zufrieden. Insofern braucht es eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie es de facto anders aussehen könnte. Gerade auch durch eine Ablehnung der „radikalisierten Autonomie“.

Pat Devine hat schon 1988 ein Buch geschrieben, Democracy and Economic Planning, und unterscheidet darin zwischen primärer und sekundärer Unsicherheit: Die primäre Unsicherheit bezeichnet die Dynamik des Alltags und solche Veränderungen, die durch Wetter, durch Menschen etc. entstehen, also durch Dinge, die in Bewegung sind, und diese Unsicherheit ist auch wichtig und notwendig. Die sekundäre Unsicherheit wiederum entsteht dadurch, dass sich die Akteur:innen in einer kapitalistischen Marktwirtschaft nicht miteinander absprechen. Wenn man sich fragt, wie man es schafft, die Bedürfnisse aller bestmöglich zu befriedigen, ist es ja erstaunlich, dass die Antwort dann lautet: Besser nicht miteinander besprechen, sondern lieber gegeneinander in Konkurrenz treten, denn so kommt am Ende das Beste heraus. Aber dass dem eben nicht so ist, das kriegen wir ja vor Augen geführt. Es gilt, diese sekundäre Unsicherheit, die eben nicht notwendig wäre, anders zu lösen, und so kommt die Planwirtschaft beziehungsweise die demokratische Koordination der Wirtschaft ins Spiel.

 

Rittberger: Du hast 2020 im Jacobin einen Science-Fiction-Text veröffentlicht, aus dem ich kurz zitieren möchte. Er ist datiert vom 23. April 2054 und eine Rede von Samara Kantorowitsch zum dreißigjährigen Bestehen der New Socialist Economics am Frankfurter Institut für Sozialforschung und Ökonomie: Es sagt etwas über mein Alter aus, dass ich heute, nachdem ich in Pandora meine monatliche Bedürfnisliste abgeschickt hatte, ein wenig überrascht feststellen musste: Sie alle, liebe Studierende, können nicht mit Geld umgehen. Sie können nicht mit Geld umgehen – und das ist großartig. Tatsächlich sind Sie die erste Generation, die das Erwachsenenalter erreicht, ohne jemals mit Geld in Berührung gekommen zu sein. Es war – und ich halte es für ungemein wichtig, dies nicht zu vergessen – nicht immer so. Aus heutiger Sicht mag es kurios erscheinen, aber lange Zeit glaubte man, allein der Markt sei in der Lage, wirtschaftliche Koordination in der Größenordnung von damaligen Nationalökonomien zu gewährleisten. Um diesen Irrglauben zu korrigieren, sind die New Socialist Economics (NSE) vor dreißig Jahren angetreten, eine alte Frage neu zu beantworten: Wie organisieren wir unsere Wirtschaften so, dass die Bedürfnisse aller – Menschen, Tiere, Mischwesen, Maschinen und Umwelten – berücksichtigt und befriedigt werden?“ Du hast hier mit einem Narrativ gearbeitet, und ich freue mich immer, wenn Menschen etwas tun, das in die Zukunft weist. Es gibt in einer linken Tradition allerdings immer wieder eine Hemmung, Bilder zu malen. Adorno hat gesagt, die Utopie soll man nicht auspinseln. Du entwirfst in diesem Text eine Zukunft, in der wir uns bereits befinden, wie das bei Science-Fiction ja oft der Fall ist. Aber wie kommen wir denn dahin?

 

Groos: Also defintiv durch das gemeinsame Verhandeln. Es geht nicht ohne ein Erlernen im Hier und Jetzt. Wenngleich ich es wichtig finde, dass man sich erlaubt, spekulierend in die Zukunft zu springen, habe ich auch festgestellt, dass alle „Modelle“, die kein Bewusstsein haben, dass diese Dinge erlernt werden müssen, eigentlich zurückkippen in Strukturen, die absolut nicht wünschenswert sind, zum Beispiel über irgendwelche Incentivierungen, wo man meint, man müsste über ausgeklügelte Systeme die Individuen dressieren, damit sie richtig konsumieren. Ich finde das grundsätzlich einen falschen Weg und würde dafür votieren, bidirektional zu sein. Es muss auf der einen Seite darüber nachgedacht werden, wie Modelle aussehen könnten, auf der anderen Seite muss aber gleichzeitig im Hier und Jetzt in der Praxis diese Relationalität, diese Form der Bezugnahme, schon gelebt und erlernt werden. Das ist der Boden, auf dem das andere überhaupt erst entstehen kann. Wenn das andersherum gedacht wird, wird man immer in die Situation kommen, die Subjekte zu formieren, wo man dann wieder spezifische Formen der hierarchischen Bezugnahme zu den zu regierenden „Subjekten“ hat. Und um das aufzulösen, braucht es eine Form der präfigurativen Politiken, denn ohne die wird sich am Ende auch nicht das produzieren können, von dem man hofft, dass es in die Welt kommt. 

 

Rittberger: Präfigurativ heißt vorwegnehmend, schon mal überlegend, wie es sein könnte?

 

Groos: Nicht nur überlegen, sondern es in der Praxis bereits tun. Es geht darum, diese Praxen schon jetzt in der Welt zu haben und dadurch auch bestimmte Formen der Bezugnahme zu erlernen. 

 

Rittberger: Du hast in deinem Podcast auch immer wieder mit Commons-Theoretiker:innen gesprochen. Commons ist ein Wort, das in den letzten fünf bis zehn Jahren populär geworden ist, man kann es mit dem Wort „Allgemeingüter“ übersetzen. Es gibt viele Theorien dazu, das ist ein sehr plurales Feld. Wie würdest du denn in deinem Entwurf des distribuierten Sozialismus das Hin und Her von Dezentralität − also dass quasi die einzelnen Kollektive oder Kooperativen autonom agieren und sich nicht durch einen Plan von oben hierarchisch zwangskollektivieren lassen − die Vermittlungsebene beschreiben? Du nennst es Sozialismus, andere arbeiten mit dem Begriff des Commonismus. Was unterscheidet Commonismus von deinem Entwurf des distribuierten Sozialismus?

 

Groos: Diese Fomulierung der distribuierten Planung weist vor allem darauf hin, dass es sowohl Formen der Dezentralität als auch der Zentralität geben muss, dass beides seine Berechtigung hat. Der inhärent immer notwendige Faktor auf allen Ebenen ist eine Form von Demokratisierung. Es gilt sich auch bewusstzuwerden, dass, wenngleich in historischen Experimenten zentralisierte hierarchische Planwirtschaften zu beobachten waren, es nicht heißt, dass alles Zentralistische immer hierarchisch ist. Zum Beispiel sind ja auch dezentrale Elemente in Form von Fürstentümern diktatorisch. Es ist ein Fehler zu sagen, zentralistisch ist immer undemokratisch und dezentral immer demokratisch. Beides kann sowohl demokratisch als auch undemokratisch organisiert sein. Sich das vor Augen zu führen ist wichtig, um bestimmten Beißreflexen auszuweichen, die gerade auch bei den Linken schnell einsetzen, wenn es um die Frage geht, ob es zentrale Elemente gibt oder eben nicht. Wenn es jedoch zentrale Elemente gibt, dann müssen sie immer demokratisch organisiert sein. 

Jetzt zur Gegenüberstellung von Commonismus und Sozialismus: Zum einen bin ich nicht festgelegt auf den Begriff Sozialismus, ich bin relativ offen für verschiedene Bezeichnungen. Ich hatte Stefan Meretz und Simon Sutterlütti zu Gast, die ein Buch geschrieben haben, Kapitalismus aufheben, wo sie versuchen, den Commonismus zu umschreiben. Das wäre der Versuch einer gesellschaftlichen Verallgemeinerung des Prinzips des Commoning, also dass das nicht nur in lokalen kleinen Experimenten gedacht und gelebt wird, sondern sich auch der Frage zugewendet wird, wie das zu einem verallgemeinerbaren Prinzip werden kann.

Und jetzt ganz banal der Unterschied zwischen Commonismus und Sozialismus: Commonismus ist aus einem anarchistischen Strang heraus entstanden und versucht, das Commoning mit anarchistischen Denktraditionen zu verbinden, hat insofern auch ganz klar keine klassischen staatlichen Elemente innerhalb dieses Modells. Sozialismus hat hingegen eine starke Tradition, in der sich sehr wohl der Staat einschreibt. Wichtig zu betonen ist auch, dass kein Modell an einer Auseinandersetzung mit Commoning als Praxis vorbeikommen sollte.

Wenn wir uns den historischen Dialog vor Augen führen, heißt es ja auch wieder, dass wir nichts hätten, mit dem wir arbeiten könnten, sondern nur Eigentumslogik, Ausbeutung, Extraktivismus usw. Aber zum Glück haben wir nicht nur das, sondern es gibt sehr wohl Praktiken, Orte, Gemeinschaften, schon im Hier und Jetzt. Und aus denen heraus können wir Dinge entwickeln und uns fragen, ob sie in einer Art und Weise skalierbar sind, damit sie nicht nur in lokalen Einzelprojekten verharren. Dafür gibt es natürlich kein Pauschalrezept, aber es gibt beispielsweise Versuche, dieses Commoning zu verbinden mit digitalen Infrastrukturen, Mediation, Koordination etc. Dort wird dann versucht, „Produzent:innen“, also Leute, die Bedürfnisse befriedigen können und wollen, mit Menschen zu verbinden, die offene Bedürfnisse haben. Wie das im Einzelnen, zum Beispiel auch mit Hilfe technologischer Plattformen, miteinander verbunden wird, muss man sich dann anschauen, da gibt es auch wieder unterschiedliche Zugänge. Aber grundsätzlich könnte es heutzutage möglich sein, eine Plattform zu erschaffen, in der diese Bedürfnisartikulation zusammengeführt wird mit Menschen, die in der Lage sind, diese Bedürfnisse zu befriedigen.

 

Rittberger: In dieser Suche nach der new socialist economy werden vielfach Modelle oder Mechanismen verwendet, die auch Leute, die nicht mit linken Traditionen bekannt sind oder vielleicht Berührungsängste haben, sofort anwenden können. Ich würde sagen, dass die Debatte um diese zukünftigen Erzählungen, die sich distribuiert sozialistisch nennen, auch argumentiert, dass es bei Amazon beispielsweise schon eine Form von Planwirtschaft gibt und nur noch ein „Vorzeichenwechsel“ erfolgen, also sozusagen vergesellschaftet werden müsste. Das ist ja kein kleiner Schritt. Wir leben in einer Demokratie, und trotzdem ist es nicht die beste aller Welten.

Du hast einen Text geschrieben, der dreißig Jahre später spielt. Was würde in den nächsten dreißig Jahren passieren? Würde es einen Generalstreik geben? Würde anders gewählt werden? Würde eine Bewegung wie der Klimastreik sich nochmal potenzieren, auch transnational, und sich mit gewerkschaftlichen Bewegungen zusammentun? Hast du da manchmal ein Gespür, wenn du mit so vielen Menschen redest? Dein Podcast ist ja auch gegen den Pessimismus gerichtet, indem du motivierst und sagst: Doch, es gibt reihenweise Ansätze. Aber wie kriegen die jetzt eine Kraft? Hast du da eine Idee?

 

Groos: Das Positive vorausgeschickt, würde ich sagen, sie haben schon eine Kraft. Leider ist es nicht so leicht, dass man einfach die gegebenen technologischen Infrastrukturen nehmen und umwidmen kann, denn in diesen sind ja schon spezifische Hierarchien eingeschrieben. Aber es gibt andere Herangehensweisen, auch schon als gelebte Praxis. Kürzlich hatte ich James Muldoon zu Gast, der in seinem Buch Platform Socialism dezidiert auf die Fragen der technologischen Infrastrukturen eingeht und sagt, dass wir jetzt anfangen müssen, beispielsweise Waldflächen zu vergemeinschaften. Und es gibt bereits viel, auf dem wir aufbauen und mit dem wir arbeiten können, das erleben wir auch mit „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, wo plötzlich Fenster geöffnet werden und dann sogar in der Tagesschau von Enteignung die Rede ist!

Solange diese Eigentumsfrage nicht angegangen wird, ist die Debatte im Grunde Scharade, eine Farce, denn die präkonfiguriert einfach fundamental die Strukturen, mit denen wir arbeiten. Insofern würde ich sagen, Vergemeinschaftung wäre eine Ebene, auf der es anzusetzen gilt, Commoning ist auf jeden Fall eine weitere. Im Grunde ist Future Histories der Versuch, diese Riege an verschiedensten Elementen, die bereits da sind, auch sichtbar zu machen. Aber einen Masterplan kann ich leider in der Form nicht liefern. Ein Fixpunkt in meiner Welt ist auf jeden Fall, dass es für alle Menschen weltweit eine Grundversorgung geben muss, und zwar nicht in Form eines Grundeinkommens, sondern dass es selbstverständlich ist, dass alle Menschen eine Grundversorgung in Form von Nahrung, Unterkunft, Krankenversorgung, öffentliche Verkehrsmittel usw. haben. Wenn das geklärt ist, kann man auf Basis dessen experimentieren. Da besteht viel Raum, aber in meiner Welt ist eine Grundversorgung für alle wie der Hort neuer Freiheiten, die dann den Boden schaffen für alles darüber hinaus. 

 

Rittberger: Die letzte Frage an dich: Was nimmst du aus dem heutigen Abend mit? Welche der Konzepte und Gedanken zum Begriff der Autonomie erscheinen dir brauchbar und welche nicht?

 

Groos: Ich würde gerne auf einen Begriff zurückkommen, den wir im Vorgespräch entdeckt haben, nämlich den der relationalen Autonomie, mit dem man vielleicht besser arbeiten kann, weil weder das eine noch das andere stimmt. Wir sind nicht vollkommen autonom, wir sind aber auch nicht nicht individuell und beides hat sein Gutes. Es ist ja auch wunderbar, dass wir individuell sind und bis zu einem gewissen Grad zumindest die Realfiktion der Autonomie leben, denn das erzeugt ja auch die notwendige Fülle, aus der wir schöpfen müssen. Gleichzeitig braucht es nicht nur die Relationalität, sondern die Relationalität, die Verbundenheit, ist immer auch schon Tatsache. Und das lässt sich mit dem Begriff der relationalen Autonomie ganz gut einfangen.

 

Rittberger: Herzlichen Dank für dieses Gespräch. 

 

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Jan Groos ist Forscher, bildender Künstler, Filmemacher und Podcaster. Er betreibt den Podcast Future Histories als Teil seiner erweiterten Forschungspraxis und ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Soziologische Theorie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel tätig. Im Jahr 2020 besuchte er das Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft als Forschungsstipendiat, seit 2021 ist er affiliierter Forscher am Data Politics Lab (Humboldt-Universität, Berlin). Im Jahr 2020 gründete Jan Groos Metalepsis, ein kleines Unternehmen, spezialisiert auf anspruchsvolle Wissensproduktion in den Formaten Podcast, Video und mehr.

 

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