Unscheinbare Heldinnen und Helden
… oder: Warum wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen.
Annette, ein Heldinnenepos nach dem Roman von Anne Weber ist im Schauspielhaus zu sehen. Dramaturg Hannes Oppermannn denkt kolumnistisch über unseren derzeitigen Alltag und Heldinnen der Gegenwart nach.
Es ist wie jedes Jahr. Es regnet, der Himmel ist grau, der Wind bläst kalt durch die leeren Baumkronen. Ostern ist noch weit weg, die aufmunternde Weihnachtsbeleuchtung schon längst abgebaut. Jedes Jahr sind der Januar und Februar für mich die anstrengendsten Monate und die Pandemie macht das nicht besser. Wie kommen Sie eigentlich durch diese Jahreszeit? Nach einem trägen Sonntag zwischen Bett und Couch gab meine beste Freundin mir den Rat, zur Aufheiterung an etwas Erbauliches zu denken. Erbauliches? Was soll mich aufbauen, außer ein direkter Sprung in einen ungezwungenen, geselligen Grillabend im Spätsommer? Sie schlug mir ein kleines Experiment vor, das mich sicher zum Lächeln bringen soll. Na gut, erwiderte ich, schieß los! Sie bat mich, die Augen zu schließen, tief ein- und auszuatmen und spontan vier Heldinnen oder Helden zu nennen, die ich bewundere. Da wir kurz zuvor über unser Abitur gesprochen haben, fallen mir vor allem Personen aus meiner Jugendzeit ein und ich muss lachen. Die Aufzählung lässt tief blicken. Stellen Sie sich bitte vor, wie ich schamvoll die Hände vors Gesicht halte, wenn ich die Namen nenne: B.A. Baracus, Britney Spears, Kurt Cobain und MacGyver.
Der erste Liebeskummer
Völlig bizarr diese Aufzählung, warum gerade diese vier? B.A. Baracus, eine Figur aus der US-Serie „The A-Team“, fand ich mit seinem trockenen Humor so angenehm kritisch gegenüber jeglicher Autorität. Britney Spears besang meinen ersten Liebeskummer, Kurt Cobain spiegelte meinen jugendlichen Weltschmerz. Sein früher Tod war für mich immer auch das Eingestehen eines Scheiterns an der Welt. Und warum MacGyver? Er konnte mit einem Kaugummi und einer Büroklammer die gefährlichsten Bomben entschärfen. Das hat mich damals tief beeindruckt.
Wenn ich daran denke, wer heute für mich Heldinnen und Helden sind, würde ich Menschen nennen, die man nicht aus dem Fernsehen oder der Popkultur kennt. Zum Beispiel all die, die in der Pandemie dafür sorgen, dass die Regale voll sind, dass Pakete ankommen, dass die Krankenversorgung läuft, und die in dieser besonderen Zeit nicht an einem Lächeln, einem freundlichen „Hallo“ oder „Danke“ sparen. Oder meine Eltern, die sich mit großem Zeiteinsatz um meine Großmutter kümmern, damit sie, solange es geht, daheim bleiben kann. Ich würde an Menschen wie Sie und ich denken.
Heldin per Zufall?
Und dann fällt mir eine Person ein, die fast zufällig zur Heldin wurde und deren Geschichte Sie im Februar auf der Bühne im Schauspielhaus erleben können. Mit Humor, Spannung, Hoffnung und Freude erzählt Autorin Anne Weber in „Annette, ein Heldinnenepos“ die Lebensgeschichte einer Frau, die durch kleine, feine und beharrliche Entscheidungen Heldenstatus erlangt, obwohl sie in keinem Geschichtsbuch auftaucht. Diese Frau heißt Anne Beaumanoir, genannt Annette, und ist ganz real. Sie lebt, mittlerweile 98 Jahre alt, in Frankreich. Regisseurin Lily Sykes inszeniert den Roman und die Schauspielerin Corinna Harfouch erzählt zusammen mit unserem Ensemble die Geschichte einer Frau, die in einfachen und sehr liebevollen Verhältnissen aufwächst. Mit fünf Jahren stirbt sie fast an einer Hirnhautentzündung und kämpft sich doch zurück ins Leben. Sie ist noch ein Teenager, als 1940 die deutsche Armee in Frankreich einmarschiert. Für sie ist sofort klar, sie will etwas tun. Aber was kann sie denn? Wer ist sie schon, dass sie gegen eine ausländische Armee kämpfen will? Und dann beginnt es ganz klein und unscheinbar. Als Botin überbringt sie Pakete von A nach B. Dann druckt sie Flugblätter und verteilt sie unerkannt in Menschenmengen. Dann schreibt sie Widerstandsparolen an Wände und schließlich, eigentlich fast zufällig, rettet sie drei Kinder vor den Händen der Gestapo. „Denn wie das meiste ist auch das Widerstehen anders, als man es sich denkt, nämlich kein einmaliger Entschluss, kein klarer, sondern ein unmerklich langsames Hineingeraten in etwas, wovon man keine Ahnung hat“, lässt Anne Weber ihre Hauptfigur sagen, und „das Erste, dems zu widerstehen gilt, das ist man selbst. Der eigenen Angst. Was, wenn ihr jemand auf die Spur kommt und sie erwischt mit Schriften oder Gütern, die verboten sind? Sie lernt, dass Angst was ist, was überwunden werden kann.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg, Annette ist mittlerweile Ärztin und zweifache Mutter, geht sie erneut in den Widerstand, um Algerien, damals französische Kolonie, zur Unabhängigkeit zu verhelfen. Doch diesmal hat sie weniger Glück, sie muss ihre Familie verlassen, um einer Haftstrafe zu entkommen. Später flieht sie aus Algerien, als ein Militärputsch die demokratisch gewählte Regierung stürzt, deren Mitglied sie war. Die Lebensgeschichte dieser Annette ist so unglaublich, dass es für drei weitere Leben reichen würde, und zugleich erfahren wir, sie ist eine ganz normale Person, die mit alltäglichen Widrigkeiten kämpft. Das finde ich so faszinierend an Romanen. Sie können Menschen über lange Zeiträume begleiten, denn ein Leben besteht selten, wie es das klassische Drama erzählt, aus dem einen großen Schicksalsschlag, der alles verändert, sondern oft aus den vielen kleinen, alltäglichen Entscheidungen, die jede von uns einzigartig machen. Deshalb lieben wir beispielsweise auch Serien so, denn jede neue Episode ist wie der Start in einen neuen Tag, an dem unbekannte Herausforderungen warten.
Scheitern und Wiederaufstehen
Für mich als Dramaturg ist es jedes Mal eine spannende Aufgabe, eine Lebensgeschichte auf die Bühne zu bringen. Die Erzählzeit einer Inszenierung fällt meist deutlich kürzer aus als die Lesezeit eines Romans. Es ist also eine Verdichtung, die man vornimmt, und zugleich können wir mit den zauberhaften Mitteln des Theaters einer Romanfigur Leben einhauchen. Lily Sykes erzählt Annettes Lebensgeschichte beispielsweise sehr musikalisch, als eine Art modernen Bänkelgesang, bei dem singend von Heldentaten berichtet wird. Zumanderen verortet sie die Erzählweise in den Urformen von Clownerie, die Lachen und Weinen, Scheitern und Wiederaufstehen miteinander verbinden. Wenn es so wäre, dass die Bedingungen allein die Zukunft vorgeben, wären wir jegliche Verantwortung, jedes Gefühl für Schuld, jedes Gewissen los. So einfach ist es aber nicht. Die Hauptsache kommt immer noch; sie bleibt zu tun.
Im Roman von Anne Weber gibt es dazu eine Referenz an die mythische Figur des Sisyphos, der jeden Tag vergeblich versucht, einen Stein den Berghang hinaufzurollen, und der Albert Camus auf seine Weise ein Denkmal gesetzt hat. Anne Weber wendet dieses Motiv ins Hoffnungsfrohe und schreibt: „In jenem flüchtigen Moment, in dem ein Mensch sich umwendet zu seinem Leben, betrachtet Sisyphos, zurück auf seinem Fels, die Abfolge der abgerissnen Handlungen, die sein Gedächtnisblick zusammenhält. Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen.“
Viele Menschen fühlen sich zwischen den Corona-Wellen wie Sisyphos und verlieren trotzdem nicht den Mut, denn irgendwann wird die Pandemie aufhören, hoffentlich schon dieses Jahr. Ich würde an dieser Stelle die These wagen, dass uns allen ein bisschen mehr Heldenmut zusteht. Beispielsweise der Mut, im unerwarteten Moment „Danke“ zu sagen, anzupacken, wenn eine helfende Hand notwendig ist, oder der Mut, zufrieden auf die eigenen Anstrengungen zurückzuschauen. Vielleicht finden Sie ein wenig Anregung im Schauspielhaus. Dort könnte „Annette, ein Heldinnenepos“ der Winterkälte Wärme einhauchen und die Zeit, bis die Bäume und Blumen wieder Blüten kriegen, spürbar verkürzen.