Letzten Monat erschien die erste Ausgabe meiner Kolumne. Ich habe mich sehr über die vielen Rückmeldungen gefreut. Es gab unzählige Gespräche im Anschluss jeder Universen-Veranstaltung auf der Cumberland´schen Bühne, die ich besucht habe. Scheinbar habe ich einen Nerv getroffen, der einige entlastete und andere erzürnte. Was gut ist. So kann ein Austausch und im besten Fall ein gemeinsamer Lernprozess beginnen.

 

Im Jahre 2021 leben knapp 22 Millionen Menschen mit einem Migrationserbe in Deutschland, das sind 27 % der Gesamtbevölkerung. Gar nicht so wenig für eine Personengruppe, die stets als Minderheit, als Randgruppe und damit einhergehend nicht in erster Linie relevant für Grundsatzentscheidungen angesehen wird. Im Grunde müsste man meinen, dass die Offensichtlichkeit einer postmigrantischen Gesellschaft bereits zu großen juristischen, sozialen, kulturellen Umwälzungen geführt hätte. Leider steckt der Wandel noch in Kinderschuhen. Mehr noch, Deutschland ist noch nicht einmal so weit, das N-Wort abzulegen. Als der AfD-Politiker Nikolaus Kramer im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern mehrfach das N-Wort benutzte, weil er sich „nicht vorschreiben“ lassen wolle, „was hier Schimpfwort sei oder was nicht“, erhielt er eine Rüge. Er wehrte sich vor Gericht und bekam Recht. Es wäre zu schön, wenn das N-Wort, bzw. die Einstellung, „sich nichts vorschreiben zu lassen“ bloß ein Problem bei AfD-Politiker:innen wäre. Aber diese Haltung zieht sich durch bei Menschen, die auf der bevorteilten Seite von gesellschaftlichen Normen, Positionen und Ressourcen stehen und in ständiger Abwehrhaltung gegen gesellschaftliche Reformen sind; einschließlich vor, auf und hinter der Bühne:

 

Warum eine gendergerechte Sprache verwenden? Warum Heteronormativität hinterfragen und queere Perspektiven gleichberechtigt behandeln? Warum mehr als eine Erzählung aus Arbeiter:innenperspektive pro Spielzeit auf die Bühne bringen? Warum Frauen*, People of Color, Menschen mit Migrationserbe, Muslim:innen nach ihrem Anteil in der Bevölkerung Zugänge zum Kulturbetrieb schaffen und ihnen Ressourcen zur Verfügung stellen?

 

Wenn die Diskussion um das N-Wort selbst im Jahr 2021 immer wieder hochkocht, wenn koloniale Stoffe nicht kritisch betrachtet werden, wenn traumatische Gewalterfahrungen bestimmter Communities ohne den Einbezug der betroffenen Gruppen inszeniert werden, wenn die Frage wirklich diskutiert werden muss, ob Gretchen auch Schwarz oder of color sein darf und wenn Kulturschaffende mit Migrationserbe fordern, damit aufzuhören, wird die Kritik nicht selten als anmaßend wahrgenommen.

 

Die bis dato privilegierten Menschen wehren sich gegen Gendermainstreaming, Antirassismus und antimuslimischen Rassismus, wehren sich gegen die Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Identitäten und die sogenannte political correctness, die die sozialen Bewegungen mit sich bringen. Von dieser political correctness fühlen sie sich in ihrer Freiheit, über andere zu reden, ohne dass diese Anderen mit am Tisch sitzen, unterdrückt. Der häufig fallende Satz „Was darf man eigentlich noch sagen?“ subsummiert die kuschelige Ignoranz der Personen, die sich als den „Normalfall“ betrachten. Dieser Satz zeigt so immens deutlich, wie der Schmerz von Personen, die unter gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen leiden, zu einem Egotrip von nichtbetroffenen Personen umgewandelt wird. Anstatt sich mit patriarchalen Strukturen, der Heteronormativität und den Privilegien als weiße Person auseinanderzusetzen, wird mit Abwehrmechanismen reagiert. Die Zumutung ist plötzlich nicht mehr, dass ganze Gruppen von Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer (vermeintlichen) Herkunft oder (vermeintlichen) Religionszugehörigkeit Ausschlüsse erfahren, sondern, dass einem dieses oder jenes Wort nicht unwidersprochen bleibt.

 

Und dann bleibt der Wandel nicht nur auf sprachlicher Ebene: Diese Personengruppen klopfen an und wollen nicht nur symbolisch, sondern ihrem Anteil in der Bevölkerung nach, repräsentiert werden, fordern konkrete Maßnahmen für die Demokratisierung von Institutionen in der Realität einer postmigrantischen Gesellschaft. Und spätestens hier fällt das Kampfargument der bisher Privilegierten: „Ihr macht doch nur Identitätspolitik.“

 

Ja, und so war es immer. Als Arbeiter:innen für bessere Bedingungen gekämpft haben, war es Identitätspolitik. Als Frauen* für ihre gesellschaftliche Gleichberechtigung kämpften und wenn sie immer noch um die Selbstbestimmung über ihre Körper und gegen den Gender Pay Gap kämpfen, ist es Identitätspolitik. Queere Menschen betreiben Identitätspolitik, weil sie ihre Rechte unter der Gefahr gesellschaftlicher Stigmatisierungen erkämpft haben und weiterhin um Anerkennung und Sichtbarkeit kämpfen. Auf der Seite privilegierter Personengruppen wird gleichermaßen Identitätspolitik betrieben. Oder bestehen Aufsichtsräte von Unternehmen, Parteivorständen, Stiftungsräten, Minister:innenposten nur zufällig zu überwältigendem Anteil aus weißen Männern mit akademischen Abschlüssen?

 

Abwehrmechanismen sind durchaus nachvollziehbar. Alle wollen zwar Diversity, aber die wenigsten hören gern das Wort Quote. Alle wollen kritikfähig sein, aber kaum eine Person kann es gut vertragen, wenn die Kritik nicht allzu positiv ausfällt. Struktureller Wandel macht nicht immer Spaß. Aber vor allem macht es für die Betroffenen von Ausschlüssen keinen Spaß, wenn sie immer noch an gläserne Wände in der Gesellschaft stoßen. Natürlich ist in unserer Gesellschaft bereits einiges passiert und die Einrichtungen stehen nicht mehr ganz am Anfang. Gute und konstruktive Debatten sind vielerorts angestoßen. Kulturschaffende mit Migrationserbe sind bereits sichtbarer als vor zehn Jahren und schaffen Bündnisse und Communities, in denen sie gemeinsam und solidarisch ihre Stimmen erheben. Dennoch ist ihre entscheidungstragende Präsenz noch kein Selbstverständnis. Und … es muss sich beweisen, dass sie nicht als ein „Trend-Thema“ eingestellt werden, sondern als unhinterfragter Teil der postmigrantischen Gesellschaft, und sie Positionen bekleiden können, die lange Zeit fast ausschließlich weißen Männern vorbehalten waren. Institutionen existieren nicht außerhalb des gesellschaftlichen Wandels. Der Kulturbetrieb muss mit der Zeit gehen, wenn nicht sogar ihr als kreativer Denkraum vorauseilen. Das schulden wir dem hohen Gut einer pluralen Demokratie.

 

von Kadir Özdemir

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