von Gene Ray
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Oder eine Liebesnotiz? Auf Deine Vorschläge und Fragen über „die Liebe als politische Kraft“ im Jahr von Corona, will ich zu allererst sagen, ja, selbstverständlich: Es geht immer um Liebe wann immer es um Politik geht. Aber lass uns nicht vergessen, dass dieses „um“ uns nicht vereint – ganz im Gegenteil. Alle sind wir darin, aber nicht alle gleich, ganz und gar nicht. Wir sind eindeutig nicht „alle gemeinsam darin“. Die Ungleichheiten, die Ungerechtigkeiten, die Kluft zwischen denjenigen, die Macht und Geld besitzen und jenen, denen beides fehlt, die lange Geschichte der Klassengesellschaft und ihrer Gewalt führen zu ganz unterschiedlichen Dimensionen des Ausgsetztseins gegenüber SARS-CoV-2; und öffnet oder schließt Türen zu unterschiedlichen Qualitäten der Intensivpflege, sollte diese erforderlich werden. Die Armen, die nie in den Genuss einer umfassenden Gesundheitsversorgung gekommen sind; die Obdachlosen und Verlassenen, die Geflüchteten, die Inhaftierten und Gefangenen, die Niedriglohn-Gastarbeiter, die jetzt unter persönlicher Gefahr arbeiten müssen, damit wir in Ausgangssperre leben können – jene, und wir, und die Klassen der Millionäre und Milliardäre sitzen in diesem Moment nicht im selben Boot. Das ist allzu bekannt, aber wir sollten es nicht vergessen, wenn wir von Liebe sprechen.
Wir sind ganz eindeutig in Netzen von Beziehungen verstrickt. Aber genau diese Beziehungen trennen uns, wenn es um Politik geht. Aus meiner Sicht geht es in der Politik letztlich darum, zu entscheiden – oder besser gesagt, zu sehen, sich klar zu werden – auf welcher Seite man steht. Denn es gibt immer Seiten. Für diejenigen, die auf beiden Seiten jeder politischen Linie stehen, ist die Liebe aktiv, sie zeigt Wirkung, verändert und verwandelt die Menschen, die sie berührt. Kommunisten und Gemeinbürger lieben ihre Genossen und das Gemeinsame, Kapitalisten lieben ihren Reichtum und ihre Profitraten, Faschisten lieben ihre Landsleute und ihre Ethnonation. Die Liebe wird von niemandem über die politischen Trennlinien hinweg erweitert. Liebe ist ein Element, eine Art von Beziehung, durch die wir uns politisch positionieren. Gleiches gilt für das Gegenteil von Liebe. Wenn wir Ungerechtigkeit und Unterdrückung verabscheuen, dann hassen wir auch den Unterdrücker und sind empört über seine Straffreiheit. Für einen kommunistischen Gemeinbürger wie mich ist dieses Vortäuschen einer Politik des Zusammenlebens ohne Linien oder Verpflichtungen zur „Abschaffung des gegenwärtigen Stands der Dinge“ eine bloße Täuschung – und zwar eine konstruierte.
In der postfaktischen Ära der Fake-News, der Reality-Show-Diktatoren und der heimlichen Manipulationen des Überwachungskapitalismus können wir nicht davon ausgehen, dass Wahrheiten verstanden oder geglaubt werden: die Tatsache, dass SARS-CoV-2 aus einem kapitalistischen Nahrungsmittelsystem hervorgegangen ist, welches das Leben auf so vielen Ebenen umstürzt, oder die Tatsache, dass es die forcierte und programmatische Zerstörung der öffentlichen Gesundheitssysteme über Jahrzehnte hinweg ist, die nun so viele anonyme Todesurteile verhängt. Der langanhaltende neoliberale Angriff auf das öffentliche Gemeinwesen; Fabrikfarmen und Abholzung; überfüllte Krankenhäuser und Massengräber; das Rettungspaket für fossiles Kapital, welches in Washingtons Konjunkturpaket von zwei Billionen Dollar aufgenommen wurde; und der CEO von Facebook, der auf der Bühne verkündete: „Die Zukunft wird privat sein“ – das gehört alles zusammen.
Was diese sozialen Wahrheiten und so viele weitere verbindet, ist die „Normalität“, zu der wir uns weigern sollten zurückzukehren, wenn alle Toten begraben worden sind. Der Angriff auf die Gemeingüter gipfelt heute in der Ausgangssperre, welche die öffentlichen Räume der Politik und des Widerstands verschwinden lässt. Aber das wird nicht lange anhalten, da das Wachstum der Wirtschaft höher bewertet wird als das Leben der Armen und Alten. Michael Hardt, der zweifellos einige sehr schöne Dinge über die Politik der Liebe gesagt hat, hat auch darauf hingewiesen, dass Kämpfe um die Rückgewinnung der Gemeingüter („the commons“) gleichzeitig gegen das Private, für das Gemeineigentum („public goods“) und gegen das Öffentliche, für die Gemeingüter geführt werden müssen. Ich verstehe das so:
Wenn wir uns endlich wieder treffen und umarmen können, müssen wir den öffentlichen Raum in einen gemeinsamen Raum verwandeln, indem wir die Rückkehr zur Normalität bekämpfen.
Im Notfall hören wir ständig Aufrufe zur Solidarität. Verzeih mir, aber das ist ein Missbrauch von Sprache, typisch für Liberale, die dich küssen, während sie dich über den Tisch ziehen. Solidarität ist eine Idee des Klassenkampfes: Solidarität ist das, was ausgebeutete und unterdrückte Genossen, die für ihre eigene Befreiung kämpfen, für ausgebeutete und unterdrückte Genossinnen an anderen Orten, die für ihre Befreiung kämpfen, übrig haben und tun. Kein Kampf, keine Solidarität. Was Liberale meinen, wenn sie von Solidarität sprechen, ist: Einfühlungsvermögen und Mitleid, aus sicherer Entfernung.
Aber ja, Solidarität, selbst in diesem strengen Sinne, kommt der Liebe gleich. Genauso wie die Gegenseitigkeit. („Gegenseitige Hilfe, keine Wohltätigkeit“, wie es auch heißt.) Für mich wird Liebe durch Gegenseitigkeit und Verwandtschaft über die Solidarität mit dem ausschließlich Menschlichen hinaus erweitert. Eine Liebe, die mehr-als-menschlich („more-than-human“) ist, wie David Abram es pointiert formuliert, sucht soziale Formen und Praktiken, die das planetarische Gemeinsame nicht zerstören. Sich für den Schutz und die Fürsorge für die Bedingungen des gemeinsamen planetarischen Lebens einzusetzen – das ist eine bedeutsame politische Haltung. Darüber hinaus leugnet oder vergisst Verwandtschaft nicht, dass wir alle essen müssen – „to make a living“, wie Donna Haraway es ausdrückt. Wie uns die indigenen Traditionen lehren, sollten das Essen und all die anderen Stoffwechselinteraktionen, die uns am Leben erhalten, der Schauplatz von Respekt, Dankbarkeit und tugendhaften Zyklen der Rückkehr sein. Der Ausschluss von Respekt und Gegenseitigkeit aus der industrialisierten, profitorientierten Nahrungsmittelproduktion ermöglicht die tödliche Unvernunft, die Covid-19 offenbart. Rob Wallace hat uns eine eindeutige Analyse dieses Hintergrunds geliefert.
Wir brauchen eine tiefgreifende, von den Wurzeln ausgehende Reorganisation der sozialen Reproduktion, einschließlich des Ernährungssystems, um bessere soziale Werte als die der Kapitalakkumulation zu verwirklichen.
Agrarökologie, Permakultur und regenerative Landwirtschaft stellen bereits ein praktisches Wissen dar, aus dem man schöpfen kann. Eine Reorganisation des sozialen Stoffwechsels in dieser Richtung wäre einer der wichtigsten Aspekte einer Politik der Liebe.
Von einer Genossin hörte ich, dass SARS-CoV-2 das Ende der Verwandtschaft bedeutet. Dem muss ich widersprechen. Ich bin der Meinung, dass Corona – geboren aus der obszönen Unterdrückung der Verwandtschaft und des Respekts in den Fabrikfarmen, aus monokulturellen Plantagen und Schlachthöfen des globalisierten kapitalistischen Nahrungsmittelsystems – die Werte der Gegenseitigkeit, der Verwandtschaft und des Gemeinsamen bestätigt. In diesem Sinne ziehen Gegenseitigkeit, Verwandtschaft und das Gemeinsame, nicht weniger als Klassensolidarität, die Abschaffung des Normalen nach sich. Dies bedeutet sicherlich nicht, dass wir in Bezug auf Viren naiv sein sollten oder dass wir SARS-CoV-2 begrüßen sollten. Anna Tsing hat in ihrer Diskussion über das, was sie als „latent commons“ („latente Allmende“) bezeichnet, überzeugend auf die Notwendigkeit von Realismus und Vorsorge bei unseren symbiotischen Vorhaben hingewiesen: „Latente Allmende sind nicht ausschließlich dem Menschen vorbehaltene Enklaven. Öffnet man die Allmenden anderen Wesen, verschiebt sich alles. Wenn wir Schädlinge und Krankheiten einbeziehen, können wir nicht mehr auf Harmonie hoffen. Der Löwe wird nicht beim Lamm liegen. Organismen fressen sich aber nicht nur einfach gegenseitig auf; sie bilden divergierende Ökologien. Latente Allmenden sind jene wechselseitigen Verflechtungen ohne Antaagonismen, die in diesem Spiel der Verwirrungen auftreten.“ (Tsing, Der Pilz am Ende der Welt)
Vorbehalt zur Kenntnis genommen, Gegenseitigkeit ist sowohl immer noch vernünftig als auch revolutionär. Omnia sunt communia: „Alles gehört allen“. Um das zu erreichen, müssen wir für die Liebe kämpfen.
Athen, 20. April 2020
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Gene Ray lebt in Athen. Er unterrichtet Kritische Theorie an der Hochschule für Kunst und Design in Genf. Seine Arbeiten, die sich an der Schnittstelle von politischer Theorie, Erinnerungspolitik und marxistischer Ästhetik bewegen, sind online zu finden. Er ist ein Bewunderer des Black-Panther-Slogans von Huey Newton: „Survival pending revolution“ („Überleben in Erwartung der Revolution“)
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-------------------- English version --------------------
by Gene Ray
Or a love note? Responding to your propositions and questions about „love as a political force“ in the Corona Year: I want first to say, yes, of course it is, it always is about love, whenever it’s about politics. But let’s not forget that this „about“ does not unite us – quite the contrary. We are all in this, but not in the same way, not at all. We are most emphatically not „all in this together.“ The inequalities, the injustices, the gaps in power and wealth, the long histories of class society and its violence make for quite different qualities of exposure to SARS-CoV-2, and open the door, or not, to different qualities of intensive care, should that be needed. The poor who have never enjoyed full health care, the homeless and abandoned, the refugees, the detained and imprisoned, the low-wage migrant workers who must labor in personal danger now so that we can live in lockdown – these, and us, and the millionaire and billionaire classes are not in the same boat in this moment. This is well known, but let’s not forget it, if we are going to speak of love.
We are, to be sure, entangled in webs of relatedness. But exactly those relations divide us whenever it’s about politics. As I see it, politics is finally about deciding – or better yet, seeing, coming to see – which side you are on. Because there are always sides. For those on both sides of every political line, love is active, producing effects, changing and transforming those it touches. Communists and commoners love their comrades and the common, capitalists love their wealth and rates of profit, fascists love their compatriots and their ethno-nation. Love is not extended by anyone across the political divides. Love is one element, one relation, by which we position ourselves politically. So is love’s opposite. If we hate injustice and oppression, then we also hate the oppressor and are outraged by his impunity. For a communist commoner like me, this pretense of a politics of togetherness without lines or commitments to „the abolition of the present state of things“ is mere delusion – and a constructed one.
In the post-truth era of fake-news, reality show dictators, and the stealth manipulations of surveillance capitalism, we can’t take it for granted that the facts will be understood or acknowledged: the fact that SARS-CoV-2 emerged from a capitalist food system that subverts life on many levels, or the fact that it is the deliberate and programmatic destruction of public health care systems over decades that now passes anonymous death sentences on so many. The long neoliberal attack on the public commonwealth; factory farms and deforestation; overwhelmed hospitals and mass graves; the bailout of fossil capital rolled into Washington’s two trillion dollar stimulus package; and the CEO of Facebook proclaiming onstage that „The future will be private“ – these are all of a piece. What links these social facts and so many others is the „normality“ we should refuse to go back to, when all of the dead have been buried. The attack on public goods culminates today in lockdown, which disappears the very spaces of public politics and contestation. But this will not last long, as the growth of the economy is valued higher than the lives of the poor and the old. Michael Hardt, who has undoubtedly said some very beautiful things about the politics of love, has also pointed out that struggles to reclaim the commons must be waged simultaneously against the private and for public goods and against the public and for the commons. I take that to mean:
when we can finally meet and hug each other again we will need to turn public space into common space by fighting off the return to normality.
In the medical emergency, we hear continuous calls for solidarity. Forgive me, but this is an abuse of language, typical of liberals who like to kiss when they fuck people over. Solidarity is a concept of class struggle: solidarity is what exploited and oppressed comrades struggling for their own liberation have – and do – for exploited and oppressed comrades in other places, struggling for their liberation. No struggle, no solidarity. What liberals mean when they say solidarity is: empathy and pity, from a safe distance.
But yes, solidarity even in this strict sense, is akin to love. So is mutuality. („Mutual aid, not charity,“ as the slogan goes.) For me, mutuality and kinship push love beyond the solidarity of the merely human. A love that is „more-than-human,“ as David Abram pointedly phrases it seeks social forms and practices that do not destroy the planetary common. To be committed to protecting and caring for the conditions of shared planetary life – that is a momentous political stance. Moreover, kinship does not deny or forget that we all have to eat – „to make a living,“ as Donna Haraway puts it. As indigenous traditions are teaching us, food and all the other metabolic interactions that keep us alive, should be the locus of respect, gratitude and virtuous circles of return. The exclusion of respect and mutuality in industrialized, profit-driven food production makes possible the deadly irrationalities that Covid-19 is revealing. Rob Wallace has given us the definitive analysis of this background.
We need a deep, to-the-roots reorganization of social reproduction, including the food system, to materialize better social values than those of capital accumulation.
Agroecology, permaculture and regenerative agriculture already constitute a practical knowledge commons to draw from. Reorganizing the social metabolics in this direction would be a key aspect of a politics of love.
I heard from a comrade that SARS-CoV-2 is the end of kinship. I’ll have to disagree with that. I hold that Corona, born of the obscene repression of kinship and respect in the factory farms, monocultural plantations and slaughterhouses of the globalized capitalist food system, confirms the values of mutuality, kinship and the common. In this sense, mutuality, kinship and the common, no less than class solidarity, entail the abolition of the normal. This certainly does not mean we should be naïve about viruses or that we should welcome SARS-CoV-2. Discussing what she calls „latent commons,“ Anna Tsing has cogently commented on the need for realism and precaution in our symbiotic projects: „Latent commons are not exclusive human enclaves. Opening the commons to other beings shifts everything. Once we include pests and diseases, we can’t hope for harmony; the lion will not lie down with the lamb. And organisms don’t just eat each other; they also make divergent ecologies. Latent commons are those mutualist and nonantagonistic entanglements found within the play of this confusion.“ (Tsing, Mushroom at the End of the World, p. 255)
Caveat registered, mutuality is still rational, as well as revolutionary. Omnia sunt communia: „everything for all the relations.“ To get there, we’ll have to fight for love.
Athens, 20 April 2020
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Gene Ray lives in Athens and teaches critical theory at Geneva School of Art and Design. His writings at the intersections of political theory, memory politics and Marxist aesthetics can be found online. He is an admirer of the Black Panther slogan, penned by Huey Newton: „Survival pending revolution.“