von Nina Tessa Zahner

 

Die gegenwärtigen politischen, sozio-ökonomischen und ökologischen Herausforderungen rücken Fragen nach zeitgemäßen Praktiken der Welterkenntnis, Weltaneignung und Weltgestaltung zunehmend in den Fokus. Der Blick richtet sich vermehrt auf Entwürfe, die für sich proklamieren, Prozesse der Wissensgenerierung und Weltgestaltung zu erarbeiten, die den aktuellen Anforderungen deutlich mehr gewachsen sein sollen als etablierte, dem Denken der Moderne verhaftete Konzepte. Im Feld der Gegenwartskunst erlangen hier vor allem antimoderne Positionen an Bedeutung. So werden der Techniksoziologe Bruno Latour ebenso wie die feministische US-Philosophin und Biologin Donna Haraway, die in ihren Schriften Konzeptionen eines idealen Zusammenlebens als eines gemeinsamen Wirkens von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren und Akteurinnen entwickeln und für hierarchiefreie Refugien der Koexistenz streiten, vom Kunstmagazin Monopol als einflussreichste theoretische Positionen in der Kunstwelt der Gegenwart benannt.

 

Beide Positionen sind im weitesten Sinne der Denkrichtung der Politischen Ökologie zuzuordnen, die das sozialwissenschaftliche Denken mit Hilfe eines grundsätzlich neuen Verständnisses von Mensch und Natur zu revolutionieren sucht und sich im gegenwärtigen Stadium der „Wendezeit“, des Anthropozäns bzw. der Spätmoderne als neue Leitwissenschaft einer mutmaßlichen „Götterdämmerung“ der technisch-ökonomischen Rationalität profiliert. Die Denkrichtung wirft der unsere Zivilisation prägenden Allianz von technisch-ökonomischer Rationalität und technisch-ökonomischem Rationalitätsvollzug vor, die Natur über die Maßen zernutzt zu haben, und sucht demgegenüber ein an der naturwissenschaftlichen Disziplin der Ökologie orientiertes Denken zu etablieren, das die Aufrechterhaltung des globalen ökologischen Gleichgewichts als zentral für die Überlebensfähigkeit der menschlichen Spezies und ihrer Daseinsformen auf diesem Planeten wahrnimmt. Gegen den Liberalismus, den sie als von einem naiven Fortschrittsglauben beseelt denkt, sieht sie ein menschenwürdiges (Über-)Leben allein „durch eine stärkere Einbindung des menschlichen Handels und Wandels in den Wechselrhythmus der Natur gesichert“[1].

 

Als sozialwissenschaftlicher Forschungsrichtung ist der Politischen Ökologie daran gelegen, die Ursachenketten der terrestrischen Verwüstung in den gesellschaftlichen Raum hinein zu verfolgen und so zu klären, aus welcher Geisteshaltung sich die sozioökonomischen und soziopolitischen Verhaltensweisen erklären lassen, die zur gegenwärtigen Krise unserer Zivilisation geführt haben. Aufbauend auf diesen Diagnosen sucht sie dann neue kollektive Lebensformen zu installieren, die ein menschenwürdiges Überleben ermöglichen. Klare Zielstellung ist es also, eine neu gefasste Ethik des Lebens und des Überlebens zu formulieren. Bruno Latour sucht etwa zu untersuchen, wie im Rahmen von Versammlungen eine gemeinsame Welt „langsam komponiert“ wird und der Bezug auf gemeinsame Problemlagen und Objekte so verschiedene menschliche und nicht-menschliche Akteure verbindet und zusammenbringt, die dann „nach und nach das Problem zusammenstellen und aufklären“[2]. Hierbei wird der sinnlichen Qualitäten der Dinge und deren Bedeutung für das Soziale eine zentrale Bedeutung zugesprochen. Im Mittelpunkt von Latours Netzwerkdenken steht hierbei die Untersuchung des Affiziert-Werdens durch Objekte, Körper, Atmosphären, Sprechen etc. Latour geht es letztlich darum, über die Praxis der ästhetischen Beschreibung des Sozialen das utopische Potenzial des Ästhetischen für die Transformation der bestehenden Verhältnisse zu nutzen. Er zielt in seiner Forschungs- und Theoretisierungspraxis explizit darauf ab, eine Welt zu erschaffen, in der alle Phänomene der Wirklichkeit in symmetrischer Weise repräsentiert sind, eine Welt, in der Pluralität zugelassen, Segregation und Sektoralität als Kennzeichen der Moderne aber überwunden wären.

 

Nach Latours Überzeugung ist nur eine gemeinsame plurale Welt dazu angetan, durch die „Kreuzung von Grenzen“ die klassischen Probleme der Moderne wie die Unfähigkeit der Integration der Natur in die Politik oder vormoderner Kulturen in die Geopolitik etc. zu überwinden. Es handelt sich also um ein durch und durch ethisches Unterfangen, das mit den Mitteln der Ästhetik erreicht werden soll: “it is just a question of which common world is best and how it can be shared as one which occupies the stage when the subtle discourse of practice is foregrounded”[3]. Auf der Ebene des erkennenden, handelnden Subjektes umfasst dies eine Haltung, „die gleichermaßen offen gegenüber Wahrheit und Falschheit, Natur und Kultur, Wissenschaftlichem, Politischem und Ökonomischem etc. ist“[4]. Einer ganzheitlichen ästhetischen Erfahrung wird hierbei das Potenzial attestiert, die Pathologien der Moderne und des vernünftigen relationalen Denkens zu überwinden.

 

Unter dem Banner der „politischen Ökologie“ befördert Latour so eine umfassende Aufwertung des Heterogenen im Politischen: „a heterogeneous assembly of concerned publics, the unfiltered multitudes who come into being as the debate unfolds“[5]. Dezentrale Öffentlichkeiten sollen in experimentellen Prozessen kollektiver Neuversammlung eine gesellschaftliche Neuordnung induzieren und Wege der Komposition eines nicht-mehr-modernen Kollektivs gefunden werden, die ein Mehr an Demokratie und Freiheit durch die Integration von Quasi-Objekten realisieren und die Fokussierung der modernen Öffentlichkeitskonzepte auf rationale Argumentation verabschieden. Latour geht es um nicht weniger als eine „kopernikanische Gegenrevolution“[6], die eine Theorie politischer Öffentlichkeit entwickeln will, die diese über und im performativen Sprechen herzustellen sucht. Die Assoziationen der Existierenden bestimmen hierbei in unaufhörlichen Verhandlungen selbst, was als moralisch gelten soll und was nicht, Werte und Moral werden in der eingehenden kollektiven Untersuchung der Streitsachen dann erst aufgespürt.

 

Der Traum von einer Regierung, die von jeder Mehrdeutigkeit gereinigt auftritt und Gewissheit vermittelt, muss dann aufgegeben werden: „Die Welt ist letztlich nicht mehr als der Prozess der kollektiven Komposition, frei von jedem a priori feststehenden Optimum und jeder veränderlichen und universellen Entsprechung.“[7] Vielmehr ist die schrittweise Komposition des Kollektivs die Bestimmung dessen, was gilt. Öffentlichkeiten bilden sich bei Latour durch das Zusammenspiel von Streitsachen, um die sich Kontroversen bilden, in denen alle denkbaren Entitäten verknüpft und im Prozess „einer kreisförmigen Bewegung des Verbindens und der Umhüllung“[8] bearbeitet werden. Im Rahmen dieser Komposition des Kollektivs kommt dem alltagsweltlichen Sprechen als Gegenmodell zum „geraden Sprechen“ der rationalen Argumentation eines Jürgen Habermas eine zentrale Bedeutung zu. Es soll eine immanente Verbesserung der Lebensbedingungen aus der Alltagswelt heraus unternommen und so auch das Irrationale im Politischen aufgewertet werden, um dadurch das „Phantom der Öffentlichkeit“ als alltagsweltliche Lebensform zu installieren. Gegen die Überbetonung von Sinn und Sinnverstehen im Denken der Aufklärung soll so ein Modell entworfen werden, das stärker auf Performanz abstellt, auf die praktische Fabrikation und Transformation von Wirklichkeit. An die Stelle einer intentionalen Rationalität rückt hierbei die Fähigkeit, sich affizieren zu lassen: „Latour fragt also danach, wie Identitäten erst im Aufeinandertreffen zu Identitäten werden und wie sich diese Identitäten ganz praktisch gegenseitig ermöglichen und gleichzeitig auch einschränken.“[9] Wesentlich für das Gelingen dieser Prozesse der kollektiven Angleichung sind die freie Artikulation und die Anerkennung des Anderen. Ziel ist es, eine „neue Kosmologie zu entwerfen, die ganz im Sinne einer nicht-modernen Weltsicht nicht mehr die Autonomie und die Freiheit des ánthrōpos ins Zentrum stellt, sondern den Menschen als ‚Akteur der Geschichte‘ zugunsten seiner ökologischen Vereinnahmung verabschiedet.“[10] Vorstellungen eines intentionalen Subjektes haben hier keinen Platz. Latour entwirft Öffentlichkeit als ein poetisch-ethisches Unterfangen, das nur so wertvoll ist wie die Effekte, die es erzeugt. Latour betreibt hierzu eine massive Privilegierung der Transformation vor der Information, des Sprachakts vor der Bedeutung, der Praxis vor der Intentionalität, der Form vor dem Inhalt. Es geht ihm um die „Erschütterung“, das „Mitreisen“ und die aus der Immanenz entstehende Transzendenz.

 

Als problematisch erweist sich dieses Denken vor allem dadurch, dass es letztlich unkonkret hinsichtlich der Frage bleibt, wie das Modell des Multiversums verschiedener Positionen und menschlicher wie nicht-menschlicher Akteure für die Gestaltung der Welt fruchtbar gemacht werden kann. Denn diese Vorstellung der Ko-Formation von Wirklichkeit sieht von jenseits der Situation bestehenden Bedeutungen ab und verzichtet so darauf, die beteiligten Akteure hinsichtlich der in sie eingeschriebenen machttheoretischen Implikationen sichtbar zu machen. Es neigt so dazu, soziale Differenzen und Konflikte theoretisch zu homogenisieren und dadurch zu stabilisieren. Die Fokussierung auf die ästhetisch-poetischen Momente der Versammlungsaktivitäten von Existierenden blendet eben jene Unterschiede aus, die als Bestimmungsgröße des Heterogenen demokratisierende Impulse setzen sollen, und kommt der Wirkung von Macht so nicht auf die Spur. Der Versuch Latours, das humanistische Projekt durch ein posthumanistisches zu ersetzen und eine asymmetrische Ontologie durch eine symmetrische, überschätzt systematisch die harmonisierende Wirkung des Ästhetisch-Poetischen im krummen Sprechen. Wenn Latour das moderne Denken dafür kritisiert, die Welt als allzu symbolisch strukturiert wahrzunehmen, muss man ihm wohl eine „Übertreibung des Stellenwerts der Performanz“ zuschreiben und eine systematische Überschätzung des Ästhetisch-Poetischen als dem zentralen Harmonisierungsmechanismus der multiplen Existenzweisen hochkomplexer Gegenwartsgesellschaften. Latour überschätzt systematisch die harmonisierende Wirkmacht des Ästhetischen innerhalb der Referenz- bzw. Handlungsketten der Bildung der öffentlichen Meinung.

 

Was passiert, wenn Pluralität zum Wert an sich wird und der Liberalismus als Idee der freien Artikulation und der Anerkennung des Anderen eine maximale Artikulation erfährt, kann gegenwärtig eindrücklich an der documenta 15 beobachtet werden, die in ihrer auf ein kollektives Werden ausgerichteten Konzeption nicht mehr in der Lage ist, Antisemitismus zu verhindern, und deren menschliche Akteure zugleich nicht bereit sind, für diese Entgleisungen Verantwortung zu übernehmen. Stattdessen versucht man über die Bezugnahme auf das Ästhetische die Frage der Verantwortung zu delegitimieren. Niemand will letztlich mehr verantwortlich sein für die Performanzen des Kollektivs. Man verweist stattdessen auf heterogene Kontexte. Damit aber demaskiert sich ein solchermaßen ausgebildetes post-anthropozentrisches Denken mit seiner Zentralstellung des Ästhetischen eindrücklich als verantwortungslose Utopie und ist wohl letztlich kaum geeignet, in den vielschichtigen Konflikten der globalisierten Gegenwart Orientierung zu bieten. Vielmehr betreibt die Utopie eines sich ständig erweiternden Parlaments der Dinge[11] eine systematische Überforderung des Ästhetischen, bei Latour lediglich als „Intensität des Vibrierens“[12] von Fiktion und Welt gedacht. Die Kunst als im Laufe der Moderne ausgebildete eigenlogische Sphäre, die als Gegenentwurf zum Weltbild der naturalistischen Aufklärung ein säkularisiertes, mystisch-naturreligiöses, auf Ganzheit ausgerichtetes Weltbild profilierte und in diesem Sinne als Reflexionsinstanz der Moderne[13] Fragen der Wahrnehmungserfahrung nach selbstgegebenen Regeln der Wirklichkeitswahrnehmung bearbeitete, wird im Rahmen eines solchen Denkens zur Erfüllungsgehilfin politischer Utopien. 

 

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Nina Tessa Zahner *1972, ist Professorin für Soziologie an der Kunstakademie Düsseldorf. Sie promovierte zur Transformation des Kunstfeldes in den 1960er Jahren bei Richard München an der Universität Bamberg. Von 2006 bis 2017 forschte sie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig u. a. als Juniorprofessorin zur Soziologie des kulturellen Feldes. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kunstsoziologie, relationale Soziologie, Soziologie der Sinne und des Wahrnehmens sowie historisch-komparative Soziologie.

 

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[1] Peter Cornelius Mayer-Tasch, „Was ist und wozu betreibt man Politische Ökologie?“, ders. (Hrsg.), Politische Ökologie. Eine Einführung, Opladen 1999, S. 9-33.

[2] Graham Harman, „‚Hobbes hatte unrecht!‘. Latours politische Philosophie zwischen Wahrheit und Macht“, Der große Leviathan und die Akteur-Netzwerk-Welten, Baden-Baden 2019, S. 201-207, hier: S. 204.

[3] Bruno Latour, „The Promises of Constructivism“, Don Ihde, Evan Selinger (Hg.), Chasing technoscience. Matrix for materiality, Bloomington, IN 2003, S. 27-46, hier: S. 42.

[4] Andreas Christian Braun, Latours Existenzweisen und Luhmanns Funktionssysteme. Ein soziologischer Theorienvergleich, Wiesbaden 12017, S. 79.

[5] Antoine Hennion, „A Plea for Responsible Art: Politics, the Market, Creation.“, Victoria D. Alexander, Samuli Hägg u. a. (Hg.), Art and the Challenge of Markets Volume 1. National Cultural Politics and the Challenges of Marketization and Globalization, Cham 2018, S. 145-169, hier: S. 162.

[6] Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 2008, S. 103-106; Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Berlin 2010, S. 23.

[7] Arjen Kleinherenbrink, Sjoerd van Tuinen, „Der repolitisierte Staat“, Hagen Schölzel (Hrsg.), Der große Leviathan und die Akteur-Netzwerk-Welten. Staatlichkeit und politische Kollektivität im Denken Bruno Latours, Baden-Baden 2019, S. 29-54, hier: S. 43.

[8] Hagen Schölzel, „Von der Illusion des Leviathan zum Phantom der Öffentlichkeit. Latours Arbeit an einem neuen Politikmodell“, ders. (Hrsg.), Der große Leviathan und die Akteur-Netzwerk-Welten. Staatlichkeit und politische Kollektivität im Denken Bruno Latours, Baden-Baden 2019, S. 175-199, hier: S. 191.

[9] Julian Müller, „Jenseits von Kontemplation und Aktion“, in: Sociologia Internationalis 57 (2019), S. 39-62, hier: S. 55.

[10] Leander Scholz, „Bruno Latour und die politische Ökologie“, Hagen Schölzel (Hrsg.), Der große Leviathan und die Akteur-Netzwerk-Welten. Staatlichkeit und politische Kollektivität im Denken Bruno Latours, Baden-Baden 2019, S. 141-154, hier: S. 152.

[11] Bruno Latour, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt am Main 2010.

[12] Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2018, S. 353.

[13] Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2007, Niklas Luhmann, „Weltkunst“, Soziologie der Kunst: Produzenten, Vermittler und Rezipienten, Opladen 1997, S. 55-102.

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