Kevin Rittberger im Gespräch mit Nikolaus Brauns

 

Rittberger Herr Brauns, was verbinden Sie mit dem Begriff der Autonomie, wofür steht er, was sind Seiten, die Sie eher stören?

 

Brauns Autonomie wird oft im Sinne von völliger Selbstbestimmung und Unabhängigkeit verstanden. Doch gerade für Einzelne ist es eigentlich nicht möglich, wirklich autonom zu leben, da der Mensch nun mal ein gesellschaftliches Wesen ist. Er ist von der Gesellschaft geprägt und von ihr abhängig, um zu überleben. Ich übersetzte Autonomie als Selbstgesetzgebung, also als die Möglichkeit und das Recht von Gemeinschaften, sich selbst Regeln und Gesetze zu geben, nach denen sie leben wollen.

 

Rittberger Die Selbstgesetzgebung oder Selbstübereinkunft, wie ich Autonomie gerne übersetze, ist frei von Herrschaft und auch ich denke, dass sie per Definition nicht an das Individuum geknüpft werden kann, sondern die Gruppe oder Gemeinschaft braucht, die sich selbst regiert. Demokratie trägt ja eigentlich genau dieses Versprechen in sich. Braucht es Autonomiebestrebungen innerhalb der Demokratie?

 

Brauns Demokratie ist ja erst mal nicht Herrschaftslosigkeit, sondern selbst im Idealfall einer radikalen Demokratie die Herrschaft der Mehrheit über eine Minderheit. Gerade darum braucht es innerhalb der Demokratie auch Autonomiebestrebungen zum Schutze von besonders unterdrückten Gemeinschaften und generell von Gemeinschaften mit besonderen Bedürfnissen, die nicht gegen die Interessen der Mehrheit gerichtet sind, aber von dieser nicht vertreten werden. Auch eine radikale Demokratie könnte dadurch erweitert werden, dass sich solche Gruppen auch autonom zusammenschließen, Angelegenheiten, die nur sie betreffen selbst regeln und ihre Forderungen und Bedürfnisse auch kollektiv in den demokratischen Entscheidungsprozess einbringen.

 

Rittberger Können wir uns das an einem Beispiel anschauen? Wie wirkt sich Autonomie konkret auf Menschen aus?

 

Brauns Ich kann hier aus eigener Erfahrung über Rojava sprechen. Die Revolution hat unglaublich viele Menschen, die vorher überhaupt nicht am gesellschaftlichen Leben teilgenommen haben und nicht teilnehmen konnten, plötzlich zu gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren gemacht. Ich denke dabei an Männer im Rentenalter, die sich freiwillig zu den Asayis - einer den Räten unterstellten Polizeimiliz - gemeldet haben, um für die Sicherheit ihrer Stadtviertel angesichts der dschihadistischen Angriffe zu sorgen. Mit fällt eine religiös geprägte arabische Frau in Qamishli ein, die mir erzählte, dass sie in ihrem früheren Leben - sie meinte vor der Revolution - den ganzen Tag zu Hause war, Hausarbeit machte und sich langweilte. Jetzt habe sich plötzlich gar keine Zeit mehr für den Haushalt und komme auch nicht mehr zum Fernsehen, weil sie jeden Tag in Komiteesitzungen, zu Hausbesuchen in der Nachbarschaft und anderen gesellschaftlichen Aktivitäten müsse, erzählte sie mir lachend. Für diese Frau, die ihr ganzes Leben in konservative Familienstrukturen eingebunden war, war die Revolution auch ein ganz persönliches Erwachen, eine Befreiung aus den patriarchalen Fesseln. Oder ich denke hier an Kinder einer kurdischen Familie in Derik, bei der ich einmal übernachtet habe. Die erzählten dann, früher hätten ihre Lehrer sie ja geschlagen, doch jetzt dürften sie das nicht mehr, weil sie ja Genossen seien. Schon da zeigten sich die neuen sozialen Beziehungen nach der Revolution.

Mir fallen die jungen Frauen ein, die ich in einer Stellung der Frauenverteidigungseinheiten YPJ gesprochen habe. Für diese Frauen, viele gerade erst 18 oder 20 Jahre alt, war klar, dass sie auch nach dem militärischen Sieg über die Dschihadisten nicht wieder in ihr altes Leben zurückkehren wollten. Von einem Ehemann abhängig, zu Hause eingesperrt und für Haushalt und Kinder zuständig zu sein, das konnten sich diese Frauen nicht mehr vorstellen. Sie wollten sich weiterbilden und gesellschaftlich tätig bleiben, nicht unbedingt in den bewaffneten Kräften natürlich.

Doch es gibt natürlich auch in Rojava Menschen, die gar keine Lust haben, sich gesellschaftlich zu engagieren und in die Selbstverwaltung einzubringen und die einfach ein ruhiges und gutes Leben führen wollen. Nicht jeder dort ist ein Revolutionär oder eine Revolutionärin.

 

Rittberger Können Sie uns etwas über die Entstehung der autonomen Selbstverwaltung in Nordsyrien berichten?

 

Brauns Die Rojava-Revolution, aus der die nun bereits zehn Jahre bestehende demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien hervorging, vollzog sich vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges in Syrien. Die Kurden, die vor allem im Grenzgebiet zur Türkei und zum Irak leben, hatten sich 2011 nicht auf die Seite der arabisch-chauvinistischen Assad-Regierung gestellt, die ihnen jahrzehntelang elementare Rechte verweigert, Tausende ihrer Aktivisten verschleppt, gefoltert und ermordet und ihre an Getreide und Öl reichen Regionen einer inneren kolonialen Ausbeutung unterworfen hatte. Noch unterstützten die Kurden die Oppositionsgruppen, die ebenfalls durch arabische Nationalisten und in starkem Maße durch die islamistische Muslimbruderschaft dominiert war, da diese - auch unter dem Einfluss der Türkei, von wo aus sie vielfach operierten - den Kurden ebenfalls die Anerkennung und das Selbstbestimmungsrecht verweigerte. Unter Führung der Partei der demokratischen Union (PYD), einer an den Ideen von Abdullah Öcalan orientierten Kraft, wurden noch im Untergrund Komitees zur Versorgung und Verteidigung der Bevölkerung aufgebaut. Als dann der Krieg auf Rojava überzugreifen drohte, nutzte die PYD im Sommer 2012 die Schwäche des Baath-Regimes, das den Großteil seiner Kräfte in andere Landesteile abgezogen hatte, und mobilisierte die Bevölkerung zur Machtübernahme und Bildung einer Selbstverwaltung in Form eines Rätesystems.

 

Rittberger Wie funktioniert dieses Rätesystem? Und wie ist das Selbstverständnis?

 

Brauns Die kleinste Einheit der Selbstverwaltung ist die Kommune, die die Bewohner eines Viertels, einer Straße oder eines Dorfes zusammenfasst und sich um die täglichen Angelegenheiten kümmert. Von der Müllentsorgung über die Gesundheitsversorgung – gerade in Corona-Zeiten wichtig – bis zum Schlichten von Streitigkeiten oder der Unterstützung von Frauen, die in ihren Familien Gewalt ausgesetzt sind. Es gibt dann Rätestrukturen auf Stadtteil- und Stadtebene, auf Kantonalebene und so weiter. Für alle Rätegremien, außer natürlich den reinen Frauenräten, gilt eine Geschlechterquotierung von - ich glaube derzeit - 40 Prozent. Zudem gibt es jeweils zwei Vorsitzende - einen Mann und eine Frau. Neben den direkt gewählten Rätedelegierten entsenden auch Gruppen - Frauen- und Jugendvereinigungen, Gewerkschaften, ethnische und religiöse Gemeinschaften etc. - Vertretungen in die Räte.

Ihrem Selbstverständnis nach ist die nordostsyrische Selbstverwaltung nichtstaatlich. Doch vielleicht sollten wir eher von nicht-nationalstaatlich sprechen. Denn wenn es Verwaltungsstrukturen, Räte, eine Armee und nicht zuletzt Gefängnisse gibt, dann haben wir es nach meinem Verständnis durchaus mit einem Staat zu tun. Nur eben im Falle der Selbstverwaltung mit einem Räte- oder Kommunestaat, der tatsächlich die Mehrheit der Bevölkerung nicht nur repräsentiert, sondern soweit wie möglich auch zur aktiven Mitwirkung einbezieht. 

Die Autonomieverwaltung ist bestrebt, den Privatkapitalismus durch den Aufbau von Kooperativen - Landwirtschaftsgenossenschaften, Produktionsgenossenschaften, Einkaufsgenossenschaften und auch reine Frauenkooperativen, die Frauen ein eigenständiges von Ehemännern oder Vätern unabhängiges Erwerbseinkommen ermöglichen sollen - zurückzudrängen. Der Gesellschaftsvertrag - eine Art Verfassung - sichert zwar den Schutz des Privateigentums zu, verbietet allerdings private Aneignung von Bodenschätzen. Am ehesten ließen sich die zum Teil widersprüchlichen ökonomischen Vorstellungen in diesem Gesellschaftsvertrag als antineoliberal bezeichnen und vergleichsweise egalitär.

 

Rittberger Vor rund Hundert Jahren wurden die Münchner Räterepublik und Antonio Gramscis Turiner Rätebewegung von reaktionären und faschistischen Kräften schnell zerstört. Derzeit gibt es einige Solidaritätsadressen in Richtung Rojava, auch von den Klimagerechtigkeitsaktivist*innen von „Ende Gelände“. Welchen permanenten Bedrohungen ist das Rätemodell diesmal ausgesetzt?

 

Brauns Bedroht ist die Selbstverwaltung seit ihrer Entstehung, denn dieses einzigartige Experiment an radikaler Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit und multiethnischem Zusammenleben steht konträr zu allen Staaten der Region. Nordsyrien ist so einem mehrfachen Embargo durch die Türkei, die syrische Regierung und die kurdische Regionalregierung im Nordirak ausgesetzt und leidet auch an den vom Westen gegen ganz Syrien verhängten Sanktionen. Die größte Gefahr stellt aber die Türkei da, die mehrere Gebiete in Nordsyrien besetzt und mit ihren dschihadistischen Söldnern und deren Familien besiedelt hat, während die örtliche Bevölkerung - Kurden, Araber, Assyrer - vertrieben wurde. So hält die Türkei seit vier Jahren den Kanton Afrin besetzt und hat dort ein islamistisches und terroristisches Schreckensregime mit Morden, Verschleppungen, Vergewaltigungen, Folter und Plünderungen errichtet. Die Türkei führt zudem einen permanenten Krieg niederer Intensität gegen die Gebiete der Autonomieverwaltung. Dazu gehört der willkürliche Artilleriebeschuss von Dörfern, gezielte Morde mit Drohnen, das Kappen der Wasserversorgung und auch die Unterstützung von Schläferzellen des IS, der weiterhin im Untergrund aktiv ist, Anschläge verübt sowie Gefängnisausbrüche organisiert. Dieser Krieg niederer Intensität lässt die Region langsam ausbluten, immer mehr Menschen werden in die Flucht getrieben. Darin liegt eine große Gefahr für Rojava. Sowohl Russland als auch die USA, die in Nordsyrien mit Truppen präsent sind, benutzten dabei die Türkei als Knüppel, um die Autonomieverwaltung zu disziplinieren. Das autoritäre Assad-Regime ist in den ersten Jahren des Bürgerkrieges in weiten Teilen des Landes regelrecht kollabiert und konnte sich erst mit militärischer Hilfe von Russland und Iran wieder stabilisieren. Und Moskau will die Unterwerfung der Autonomieverwaltung unter Damaskus.

 

Rittberger Historiker wie Herfried Münkler betonen, Ultranationalismus und Faschismus seien „das letzte Stadium des proletarischen Internationalismus“, der sich bei Putin und auch Milosevic vollzogen habe. Das Beispiel Öcalan zeigt eine andere Entwicklung, oder?

 

Brauns Diese Einschätzung von Münkler halte ich für Quatsch. Milosevic und auch Putin sind nicht das letzte Stadium des proletarischen Internationalismus, sondern Produkte des Zerfalls des Staatssozialismus und der kapitalistischen Restauration. Öcalan dagegen ist der Vordenker einer nationalen Befreiungsbewegung, der sich in einer veränderten Weltlage nach dem Ende der Sowjetunion, vor dem Hintergrund vieler zu korrupten Staatsparteien degenerierten ehemaligen Befreiungsbewegungen in anderen Ländern sowie der besonderen Situation des von gleich vier Staaten kolonial unterworfenen Kurdistan Überlegungen zu einer anderen Form der Realisation des Selbstbestimmungsrechts als durch Gründung eines neuen Nationalstaates gemacht hat. Öcalan nahm nicht nur Abstand vom Ziel eines unabhängigen Kurdistan, sondern unterzog generell die Idee eines Nationalstaates einer radikalen Kritik. Er erklärte einmal, ihn interessierten nicht Grenzen, sondern Freiheiten. Öcalan entwickelte gegen den Nationalstaatsgedanken das Konzept der Demokratischen Nation, die sich aus der Vielzahl der in einem Gebiet lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zusammensetzt. Jede dieser Gemeinschaften muss dabei das Recht haben, sich um ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen demokratisch zu organisieren und ihre Forderungen einzubringen. Dazu gehört auch das Recht jeder Gemeinschaft auf ihre Selbstverteidigung. Und das Konzept der Demokratischen Autonomie meint, dass sich die jeweiligen Gemeinschaften demokratisch organisieren und untereinander vernetzten sollen, ohne dabei die bestehenden Nationalstaatsgrenzen zu verändern.

Es ist so auch falsch, von einer kurdischen Selbstverwaltung in Rojava zu sprechen. Denn in Nord- und Ostsyrien leben außer Kurden auch Araber und christliche Suroye und Armenier sowie Turkmenen und weitere Gruppen. Von Anfang an wurde versucht, diese Gruppen in die Selbstverwaltung einzubinden – etwa in dem die Ratspräsidentenschaften nicht nur geschlechterparitätisch, sondern auch gemäß der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung einer Region gebildet werden. Um dem besonderen Sicherheitsbedürfnis der christlichen Bevölkerungsgruppen Rechnung zu tragen, konnten die Assyrerinnen und Assyrer eigene Milizen aufstellen, die für den Schutz der christlichen Stadtviertel zuständig sind.

 

Rittberger Was ist Ihres Erachtens wichtig zu betonen, wenn sich Autonomiebestrebungen an manchen Orten auch reaktionär und exklusiv formieren?

 

Brauns Sicherlich gibt es auch im Rahmen von an sich legitimen Autonomiebestrebungen, die sich als Widerstand gegen Kolonialismus oder Neoliberalismus formieren, reaktionäre Elemente, die sich etwa aus feudalen und patriarchalen gesellschaftlichen Strukturen der dortigen Gesellschaften speisen. Dort wo Religion mit Autonomiebestrebungen verschmilzt, kann dies zwar eine Autonomiebewegung insgesamt stärken, aber auch ihre reaktionären Seiten - etwa in Form eines konservativen Frauen- und Familienbildes - werden damit befördert. In Rojava und bei der kurdischen Freiheitsbewegung können wir sehen, wie hier versucht wird, einerseits eben auch konservative religiöse Bevölkerungskreise in die Autonomiebestrebungen einzubinden und andererseits mit dem Aufbau der Frauenbewegung, von Frauenräten und Frauenmilizen gegen damit verbundene reaktionäre Entwicklungen gegenzusteuern. 

Schließlich erleben wir auch immer wieder Autonomiebestrebungen privilegierter und reicher Regionen, die ihren Reichtum etwa an Bodenschätzen nicht mit ärmeren Landesteilen teilen wollen. Das ist natürlich nichts Fortschrittliches. Und die völkischen Siedler in Deutschland sind – selbst wenn sie unter sich teilweise sogar basisdemokratisch organisiert sind – ein durch und durch reaktionäres Projekt, das auf rassistischer Ausgrenzung aller als blutsfremd empfundenen Menschen beruht. Da lobe ich mir doch lieber das Angebot der baskischen Unabhängigkeitsbewegung, dass jeder mitmachen kann, egal wo er herkommt und welche Wurzeln er hat, solange er sich als Baske fühlt und die baskische Sprache erlernt.

 

Rittberger Könnten Sie einmal eine größere Föderation solcher selbstverwalteten Regionen einmal für die Zukunft skizzieren?

 

Brauns Gerade heute, beim jetzigen Stand der Produktivkraftentwicklung und der damit verbundenen Möglichkeiten der Kommunikation und Vernetzung, erscheint es mir viel einfacher möglich, eine große Föderation selbstverwalteter Regionen zu schaffen, in der nur wenige Aufgaben wie Außenpolitik, Währungspolitik oder die Bereitstellung zentraler Infrastruktur wie Eisenbahnen an eine Zentralregierung oder besser gesagt eine oberste Koordination delegiert werden. Zudem müsste es auf zentraler Ebene einen finanziellen Ausgleichsfonds geben, um Mittel zwischen reichen und armen Regionen umzuverteilen. Die demokratische Selbstverwaltung darf nicht vor den Fabrikgebäuden und den Unternehmenszentralen enden, die Demokratie muss sich auch auf den zentralen Bereich der Ökonomie erstrecken.

Auch hier in Europa kann ich mir eine demokratische Föderation gut vorstellen − als Gegenmodell zur EU, die zwar ebenfalls als föderaler Verbund erscheint, in der aber immer mehr Kompetenzen an eine ferne Brüsseler Bürokratie abgegeben werden, während zugleich die Macht multinationaler Konzerne immer weiter gestärkt wird. Dabei sollte es aber nicht darum gehen, ein Zurück zum Nationalstaat oder ein von traditionalistischen Regionalparteien erzähltes Europa der Regionen entlang von ethnischen oder sprachlichen Grenzen zu propagieren. Ich stelle mir vielmehr einen Zusammenschluss von Räterepubliken vor, die ihrerseits Verbünde von Kommunen sind. Denn entscheidend ist für mich bei einem solchen föderalen Zusammenschluss der demokratische Inhalt seiner jeweiligen Glieder. Und das muss auf unterster Ebene beginnen. Dort, wo Menschen leben, arbeiten und lernen, müssen sie sich in Räten zusammenschließen, um ihre direkten Angelegenheiten basisdemokratisch selbst zu regeln. Von dort aus sollten dann Delegierte in höhere Räte etwa auf Stadtebene und so weiter gewählt werden. Aber da würde ich im Einzelnen gar kein festes Schema vorgeben. Denn verschiedene Regionen haben ihre eigenen demokratischen Traditionen, aus denen sie schöpfen können.

Wenn ein Staat als Räte- oder Kommunenstaat tatsächlich von unten nach oben aufgebaut ist und einen größeren Teil der Bevölkerung in die aktive Verwaltung, Gestaltung und nicht zuletzt Verteidigung einbezieht, dann ist er mit Sicherheit stärker und stabiler als autoritäre Regime, die nur auf Gewalt und Angst und einer abgehobenen Staatsbürokratie basieren.

  

Rittberger: Die Klimakrise hat die Notwendigkeit, auf globaler Ebene zu handeln, evident gemacht. Wie kann autonomes Handeln nicht-exklusiver Gemeinschaften mit dem globalen Handlungsbedarf synchronisiert werden?

 

Brauns: Klar ist, dass wir die Klimakrise − wenn überhaupt − nur auf globaler Ebene durch einen grundsätzlichen Systemwandel in den Griff bekommen können. Doch gerade selbstorganisierte Gemeinschaften können die dafür notwendigen Anforderungen vor Ort besser umsetzen durch eine andere Art der Produktion und der Landwirtschaft, die nicht an Profiten, sondern an den Bedürfnissen der Menschen vor Ort orientiert ist. Autonomie sollte ja − soweit das überhaupt in unserer globalen Welt möglich ist − auch eine gewisse Form der Ernährungsautonomie beinhalten. Das bedeutet einen verstärkten Rückgriff auf heimische Produkte aus örtlichem Anbau, anstatt Nahrungsmittel über Tausende von Kilometern zu importieren. Grundsätzlich meine ich, die Frage der Ökologie sollte für autonom organisierte Gemeinschaften und Selbstverwaltungsregionen ebenso wichtig sein wie die Frage der demokratischen Selbstorganisation.

 

Rittberger: Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

 

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Nikolaus Brauns *1971 in München, ist Journalist und Historiker. Er promoviert über die Rote Hilfe Deutschlands und veröffentlichte Artikel und Bücher zur Arbeiterbewegung in Deutschland, zur Geschichte und Politik der Türkei, der Kurden und des Nahen Ostens. Er schreibt für die Junge Welt und für die Tageszeitung Yeni Özgür Politika. Er ist Vorsitzender des Hans-Litten-Archivs und als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag tätig.

 

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