Kevin Rittberger im Gespräch mit Şeyda Kurt
Rittberger: Şeyda, ich freue mich unglaublich, dass du da bist. Du bist Moderatorin und Autorin, und wir werden heute über radikale Zärtlichkeit und Autonomie sprechen. Gleich zu Beginn die Frage: Was ist Autonomie für dich?
Kurt: Autonomie wird meistens definiert durch Handlungsfreiheit. Das finde ich persönlich ein bisschen schwierig. Denn das zieht die Frage nach sich, was Freiheit eigentlich ist. Ich habe festgestellt, dass Autonomie für mich eher so etwas wie „Handlungsfähigkeit“ oder „Handlungsmacht“ bedeutet. Damit meine ich, dass ich zum Beispiel in Beziehungen weiß, dass Dinge verhandelbar sind und ich diese Verhandlungen einfordern kann. Dass das eben nicht bedeutet, dass ich mich als völlig autonom betrachte und daher die Beziehung so formen kann, wie ich möchte, sondern dass ich in einer Position bin, in eine Verhandlung zu treten und für meine Interessen und Bedürfnisse ernst genommen zu werden. Im Austausch diese Erfahrung zu machen und mich selbst als einen handlungsfähigen und handlungsmächtigen Menschen zu erleben, ist für mich Autonomie.
Rittberger: Schön, dass du gleich diesen Sprung machst und dich von der individualistischen Autonomie entfernst, die hauptsächlich an den weißen cis-Mann geknüpft war und sehr viele blinde Flecken hatte. Für dieses In-die-Beziehung-Treten, von dem du sprichst, hatten wir den Begriff der relationalen Autonomie eingeführt. Vielleicht fangen wir mal mit einer offenen Beziehung an. Wie wird in einer offenen Beziehung in Beziehung getreten?
Kurt: Ich kann nur aus eigenen Erfahrungen berichten, ohne universelle Vorstellungen von offenen Beziehungen zu knüpfen. Bei mir war es ein sehr langer Prozess, voller Aushandlungen und Kämpfe. Dazu gehört es auch zu lernen, dass die Verteidigung meiner Autonomie nicht bedeutet, einfach meine eigenen Interessen und Bedürfnisse durchzuboxen. Das war auch für mich schwierig, weil ich in einem sehr strengen und autoritären Elternhaus aufgewachsen bin. In Beziehungen hatte ich dann schnell das Gefühl, Erfahrungen zu machen, die mich an diese Situation erinnerten. Ich musste mich also davon befreien, mich in meinen Beziehungen immer in Relation zu den Erfahrungen mit meinen Eltern zu sehen. Ich musste mich aus dieser ständigen, vielleicht auch traumatischen, Wiederholung rauskämpfen und erkennen, das ist eine neue Situation, die wieder Verhandlungen und Aushandlungen erfordert, aber diesmal vielleicht, weil ich das will und mich dazu entschieden habe. Das war für mich der Prozess.
Rittberger: Dein Buch Radikale Zärtlichkeit ist jetzt über ein Jahr alt. Was hat sich an Störungen, Stichwort toxische Männlichkeit, toxische weiße Fragilität, breitgemacht? Dazu kommt, dass seit einigen Monaten Krieg ist. Einige haben sich gefreut, „zurück zur Realität“ zu rudern und wieder Männlichkeit und Wehrhaftigkeit einfordern zu können. Dazu kommt die Klimakrise. Was ist seit Erscheinung des Buches passiert und wie geht es der radikalen Zärtlichkeit gerade?
Kurt: Die radikale Zärtlichkeit hat sich angesichts der Entwicklungen, die für mich persönlich sehr beängstigend sind, radikalisiert. Als ich das Buch geschrieben habe, war gerade Pandemie, und da wurde regelmäßig für das Pflegepersonal von den Balkonen geklatscht. Es gab sogar sehr breite öffentliche Debatten darüber, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass selbst in einer Situation wie der globalen Pandemie sich das Zusammenleben und die gesellschaftlichen Strukturen letztendlich nach wirtschaftlichen Interessen richten müssen. Nach der Pandemie gab es dann allerdings nicht nur ein Zurück zur Normalität, sondern ein Zurück zu einer noch gewaltvolleren Realität, und zwar ohne dass es jemanden groß interessiert, dass sich die Situation für Pflegepersonal in Deutschland noch krasser zugespitzt hat. Dazu kommt der Krieg in der Ukraine, der instrumentalisiert wird, um so etwas wie Wettrüsten wieder zu normalisieren, sogar in grün-linksliberalen Milieus. Das sind zurzeit Entwicklungen, die mir sehr viel Angst machen und mich fragen lassen, wo in diesen krassen Gewaltverhältnissen überhaupt noch Raum für Zärtlichkeit bleibt.
Rittberger: Ich hatte beim Lesen immer wieder das Gefühl, dass der Titel Radikale Zärtlichkeit natürlich Programm ist, es aber auch relativierende Aussagen von dir gibt und du zudem viel über deine eigenen Erfahrungen reflektierst. Ich habe mich gefragt, ob Radikale Zärtlichkeit ein Baustein ist in deiner Utopie oder in deiner Ethik der Liebe und Gerechtigkeit? Oder siehst du es eher als ein Carestück, das hochskaliert werden kann auf gesellschaftlichen Maßstab?
Kurt: Vielleicht beides. Ganz am Ende des Buches gibt es eine Art Manifest, in dem ich schreibe, dass radikale Zärtlichkeit für mich ein Handwerk ist, aber vielleicht auch eine Vision. Man könnte das auch mit meiner Auffassung von Kommunismus vergleichen: Kommunismus im Sinne eines andauernden Prozesses von Bewegung, Aushandlung und Kämpfen mit der Vision einer klassenlosen Gesellschaft, die sich aber auch bereits in der Gegenwart, im Jetzt realisiert und auch kein abgeschlossenes Ziel ist. Dass man sich in einer Gleichzeitigkeit auch aus einer Linearität befreit, ist für mich radikale Zärtlichkeit. Der Begriff der Zärtlichkeit hat für mich auch eine Doppeldeutigkeit und Widersprüchlichkeit. Ich assoziiere mit Zärtlichkeit zum Beispiel etwas sehr Zerbrechliches, also Fragilität, auch Verletzbarkeit. Gleichzeitig transportiert der Begriff für mich eine sehr starke Beständigkeit, ein zärtliches Handeln. Ich denke dabei auch an Körper, die sich aufeinander zubewegen. Und ich glaube, dass das alles zusammen jedwede Form menschlicher Beziehung irgendwo ausmacht.
Rittberger: Es gibt, wie du schon gesagt hast, frühere Revolutionstheorien, die auf einer Linearität der Zeit aufbauen. Heutige Revolutionstheorien setzen häufig eher auf eine Gleichzeitigkeit, also dass kommunistische, kollektivistische beziehungsreiche Formen jetzt schon bestehen sollten und nicht erst nach dem Zusammenbruch beginnen. Würdest du auch sagen, dass du einen Revolutionsbegriff einer Gleichzeitigkeit hast?
Kurt: Ja, auf jeden Fall, wobei ich auch einigen traditionell sozialistisch-wissenschaftlichen Sichtweisen auf die Entwicklung der Welt nicht ganz abgeneigt bin. Zum Beispiel, dass Geschichte dialektisch betrachtet wird, im Sinne von Klassenkämpfen oder Widersprüchen, die zwangsweise gewisse Entwicklungen historisch hervorbringen. Aber ich glaube, dass man sich sehr gut um eine gewisse Gleichzeitigkeit ergänzen kann, wie sie zum Beispiel auch immer wieder koloniale Denker:innen eingefordert haben. Es gibt auch diese Vorstellung, dass im Zuge des Kolonialismus nicht nur Länder, Menschen und Körper kolonialisiert wurden, sondern auch Zeit. Das meint, dass dieses lineare Zeitverständnis ein sehr westliches Konzept ist, das kolonisierten Gesellschaften etwa in Asien und Afrika aufgezwungen wurde. Es ist funktionabel und führt dazu, Körper und Menschen besser zu disziplinieren, sie einer Ordnung von Lohn und Zeit unterzuordnen und zu unterwerfen. Deswegen glaube ich, dass es sehr bereichernd sein kann, diese Aspekte um die Gleichzeitigkeit zu ergänzen. Im Türkischen gibt es einen Spruch, dass die Revolution im eigenen Haus, im eigenen Garten beginnt. Ich, die sehr früh in einem migrantisch-linken Kreis aktiv war, habe immer gemerkt, mit welchen patriarchalen sexistischen Widerständen ich zu Hause zu kämpfen habe. Und wenn wir darauf nicht direkt eingehen, wird es gar nicht zu einer großen Revolution kommen. Die Befreiung muss auch in der Gegenwart passieren. Mir geht es auf jeden Fall darum, die Systeme selbst anzugreifen, aber man sollte auch gleichzeitig immer das Patriarchat im eigenen Kopf hinterfragen.
Rittberger: Geschichte ist nicht nur die Geschichte von Klassenkämpfen, sondern auch die Geschichte von Zärtlichkeit. Man muss sich nicht für das eine oder das andere entscheiden, sondern Zärtlichkeit muss geübt und praktiziert werden und sich ausweiten. Trotzdem gibt es Kämpfe, die von einem Antagonismus leben. In dem Glossar deines Buches findet sich auch ein „X“, das auf einen kurdischen Slogan verweist. Darf ich dich danach fragen?
Kurt: Xwebûn – Xwe Parastin. Das ist eine Formel, die mir meine Freundin Elif Küçük erklärt hat und als „Selbstsein bzw. Selbstwerden und Selbstverteidigung“ übersetzt werden kann, was einer der wichtigen ideologischen Ankerpunkte der kurdischen Befreiungsbewegung ist. Es geht dabei um das Selbstwerden im Kontext von andauernder kolonialer Besetzung der kurdischen Gebiete von staatlicher Gewalt, aber natürlich auch um eine Verteidigung der eigenen kurdischen Identität, die eher eine historisch gewachsene Widerstandskategorie bezeichnet. Ich glaube, so muss dieses Selbstwerden auch gedacht werden. Also Selbstwerden in Form eines Widerstandes gegen die Unterdrückung, und das ist eigentlich auch fast gleichbedeutend mit Selbstverteidigung.
Rittberger: Nach dem Historiker Nikolaus Brauns handelt es sich um keine rein kurdische Selbstverwaltung, sondern um ein multiethnisches vielsprachiges Gebilde, das seit vielen Jahren unter Dauerbeschuss steht − durch völkerrechtswidrige Kriege durch die Türkei, durch das Assad-Regime, aber auch durch den IS. Gibt es da überhaupt noch Zärtlichkeit?
Kurt: Tatsächlich habe ich darüber vor kurzem mit Frauen aus Rojava gesprochen. Rojava ist eine autonome Selbstverwaltung in Nord-Ost-Syrien, die sich im Zuge des syrischen Bürgerkrieges geformt hat, wo vor allem kurdische Menschen leben, die sowieso schon seit Jahrzehnten unter der Assad-Regierung gelitten haben. Sie haben beschlossen, nicht Teil des syrischen Bürgerkriegs zu werden und sich nicht zwischen dem Assad-Regime oder den Islamist:innen entscheiden zu müssen. So haben sich die Völker der Region zusammengeschlossen und sind einen Gesellschaftsvertrag eingegangen, eine Art Verfassung, der auf Werten von Ökologie, Frauenbefreiung und radikaler Demokratie beruht. Diese Menschen haben auch gemeinsam den IS besiegt und stehen seitdem unter Dauerbeschuss. Neulich habe ich mit Frauen aus Rojava darüber gesprochen, was es bedeutet, in dieser Geografie der Gewalt etwas Neues zu erschaffen − vielleicht auch Politiken der Zärtlichkeit anstelle der Gewalt. Ich fand es sehr inspirierend. Diese Frauen sagten, dass eine Politik der Zärtlichkeit erschaffen wird, indem man anfängt, Menschen systematisch miteinander zu versöhnen. In Rojava funktioniert das zum Beispiel über unterschiedliche Versöhnungskomitees und auch eine andere Form von Rechtsprechung. Neben klassischen Gerichten gibt es auch so etwas wie Mediation oder offene Volksgerichte, wo dann besonders schlimme Verbrechen verhandelt werden. Dazu kommen Menschen, die sich mit Ansätzen von transformativer Gerechtigkeit beschäftigt haben, wo es darum geht, letztendlich eine Gesellschaft zu erschaffen, in der Gefängnisse oder Polizei überflüssig werden und die nicht auf der Erziehungsmethode von Bestrafung fußt, sondern von Aushandlung und Versöhnung. In Rojava wird das vor allem durch die Frauenrevolution forciert. Hier schließt sich vielleicht der Kreis, weil du mich ja anfänglich nach der offenen Beziehung fragtest. Ich glaube, eine Sache, die mir später offene Beziehungen erschwerte, war, dass ich aus meiner Familie eine Erziehung der Bestrafung mitgenommen habe. Wenn man in offenen Beziehungen lebt und mit Menschen, die manchmal Dinge tun, die man selbst nicht so toll findet, weil man vielleicht eifersüchtig ist, muss man lernen, auf diese gewisse Art von Verletzung, die bisweilen auch einfach dazugehört, nicht direkt mit Bestrafung zu reagieren.
Rittberger: Das Verlernen dieses Besitzen-Wollens und der Ausschließlichkeit einer Partnerschaft braucht wohl eine Weile, aber dafür gibt es vermutlich kein einheitliches Zeitmaß, oder?
Kurt: Ich glaube, das ist hochgradig individuell. Und ich glaube auch nicht, dass es die eine Eifersucht gibt, sondern unterschiedliche Formen davon. Es gibt zum Beispiel eine Art von Betrugserfahrung, wie sie auch meine Mutter erlebt hat, eine Form von Eifersucht, die existenziell ist, weil von dieser einen Beziehung, in die man sein Leben lang alles gesteckt hat, alles abhängt − ökonomisch wie auch emotional. Die Eifersucht, hinter der die Angst steht, sozial und ökonomisch ausgelöscht zu werden, ist für mich eine andere Eifersucht als diejenige, die mir manchmal als Form von männlicher Herrschaft begegnet. Letztere gründet sich auf einer sehr patriarchalen Denkweise, auch in einer kolonialen Tradition, und auf Ansichten wie: „Der Körper gehört mir, er existiert, damit ich auf ihn zugreifen und ihn konsumieren kann.“ Das sollte man unterschiedlich betrachten. Zusätzlich sind Menschen auch sehr unterschiedlich darin, wie viel sie ertragen können, weil verschiedene Erfahrungen, Verletzungen und Traumata zusammenkommen. Ich kann nur für mich sagen, dass das Gefühl der Eifersucht keine Absolutheit hat und keine Beziehung definieren sollte. Außerdem spielt auch in monogamen Beziehungen Eifersucht oft eine große Rolle. Ich glaube also nicht, dass nicht-monogame Beziehungen an Eifersucht scheitern, sondern daran, woran auch monogame Beziehungen scheitern: an fehlender Kommunikation, an fehlender Offenheit, an fehlendem Vertrauen und an fehlender Wertschätzung.
Rittberger: Ich möchte eine kurze Stelle vorlesen aus Politische Körper von Jule Govrin: „Menschen werden in asymmetrische Abhängigkeitsverhältnisse gedrängt und ungleich gemacht. Ihre grundlegende Abhängigkeit voneinander als verkörperte Wesen wird so verdrängt und verschleiert. Allerdings birgt der Umstand, dass Körper unabdingbar voneinander abhängig sind, Aussicht auf egalitäre Politik.“ Die Vorstellung einer offenen Beziehung hat sich geändert. Du meinst etwas ganz anderes als beispielsweise die Kommune-Sexualität von 68. Deine Vorstellung ist dezidiert darauf angewiesen, dass diese Asymmetrien und Machtungleichheiten, von denen hier die Rede ist, abgebaut werden.
Kurt: Ja, genau. Und das erfordert eben manchmal Kalkül und ein System – was wiederum unter „linken Romantiker:innen“, wie ich sie nenne, sehr verpönt ist. Es braucht eine Art pädagogisches System, ein System von Dekonstruktion, von praktisch geübter Solidarität. Ich glaube, die Lösung einer zweckgeleiteten, warenförmigen, rationalisierten Gefühlskultur des Spätkapitalismus kann nicht sein, dass man sich nur noch instinktiv verhält und die Liebe als eine Naturgewalt gesehen wird, die einfach über uns kommt. Denn dieser vermeintliche Gegenentwurf reproduziert eigentlich nur die kapitalistische Gefühlskultur schlechthin, weil Menschen keine körperliche Integrität zugestanden wird, sondern sie sexuell und romantisch ausgebeutet und Gewaltverhältnisse verherrlicht werden. Daher kann das Gegenkonzept zu dieser monogamen konservativen bürgerlichen Zweierbeziehung nicht heißen: Alles ist erlaubt und nichts muss mehr ausgehandelt werden.
Seit ich das Buch veröffentlicht habe, sind zwei Themen hervorgetreten, an denen ich mich immer noch sehr abarbeite. Das ist zum einen das Themenfeld der Arbeit und zum anderen das der Zeit. Im Buch geht es viel um „Liebe ist Arbeit“ und darum, was das eigentlich bedeutet, wenn Arbeit in kapitalistischen, ausbeuterischen Verhältnissen entfremdet ist und was Entfremdung selbst bedeutet. Womit wir dann auch wieder bei der Autonomie wären: Entfremdung als die Erfahrung, als Mensch nicht mehr handlungsfähig zu sein und von einer übergeordneten Instanz geleitet zu werden. Und dann beschäftigt mich eben noch das Thema der Zeit, weil Zeit einfach eine so wertvolle Ressource ist, aber es braucht nun einmal alles Zeit, und wir brauchen auch die Zeit, uns selbst widersprechen zu können, nicht immer linear zu laufen, sondern auch mal zirkulär, falsch abzubiegen und wieder zurückzukommen etc. Aber ich weiß auch, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Arbeits- und andere materielle Verhältnisse so geformt sind, dass wir möglichst wenig Zeit haben. Ich wünschte, ich hätte eine einfache Antwort darauf, außer wieder Begriffe zu nennen wie Gleichzeitigkeit und Zärtlichkeit und Fürsorge, aber so einfach ist das vermutlich nicht, und das ist ja auch kontextabhängig.
Rittberger: Du schließt dein Buch unter anderem auch mit einer Textstelle über eine Fabrik, die übernommen oder sofort dem Erdboden gleichgemacht werden muss. Machst du dir zusehends Gedanken über andere Eigentumsverhältnisse, also andere Kollektivitäten?
Kurt: Ja, unbedingt. In den letzten eineinhalb Jahren habe ich mich nochmal radikalisiert. Ich habe mir immer gewünscht, dass dieses Buch Menschen zärtlicher macht und sie gleichzeitig radikalisiert, und bei mir ist auf jeden Fall Letzteres passiert. Ich bin in einem linken migrantischen Kontext aufgewachsen und in Organisationen, in denen ich aktiv war, relativ marxistisch sozialisiert worden. Und ich glaube, dass ich mich in den letzten Monaten dem wieder angenähert habe − allerdings aus einer ganz anderen Perspektive. Ich habe versucht, diese marxistischen Betrachtungen der Welt mit den emanzipatorischen Gedanken und den Politiken der Zärtlichkeit zu verweben. Vorhin habe ich im Zusammenhang mit Rojava bereits „transformative Gerechtigkeit“ erwähnt, was auch ein Konzept ist, das sehr stark in abolitionistischen Bewegungen Platz findet. Abolitionistische Bewegungen sind Bewegungen, die aus der Befreiung der Versklavung kommen und in denen versklavte Menschen sagten, so etwas wie Versklavung ist nicht reformierbar, sondern muss abgeschafft werden. Diese Bewegungen machen sich heute zum Beispiel sehr stark für die Abschaffung von Polizei, Militär, Nationalstaaten, Kapitalismus etc., weil sie finden, dass all das in der Realität nicht reformierbar ist. Wir sehen zwar, dass der Kapitalismus sehr flexibel ist und dass es ihm bestens gelingt, zum Teil sehr radikale feministische Forderungen aufzunehmen, sich ein grünes Gewand anzulegen und sich ökologisch zu geben etc., aber wir sehen in der Realität auch, dass ein grüner Kapitalismus nicht weniger an der Umweltkrise beteiligt ist als ein weniger grüner Kapitalismus. Und daher würde ich auch sagen, dass es gewisse Dinge gibt, die wir nicht weiter reformieren sollten, sondern lieber im Hier und Jetzt anfangen sollten, an anderen Gesellschaften, Beziehungsweisen, Hilfsnetzwerken, Strukturen etc. zu arbeiten. Gleichzeitig wissen wir, dass dennoch dieses große Ganze geändert werden muss. Wir können die Revolution nicht im Kleinen abschließen, müssen aber trotzdem jetzt schon damit anfangen, denn viel Zeit haben wir einfach nicht mehr.
Rittberger: Ich habe in Berlin auch ein Gespräch geführt mit Ferat Koçak, der Opfer von Naziangriffen auf sein Elternhaus war, die jahrelang nicht aufgeklärt wurden. Er hat erzählt, dass viele seiner Cousins und Cousinen in der Berliner Polizei angefangen haben und dass sich ihre Weltanschauung in kürzester Zeit nach rechts gewandelt hat. Es ging eben auch um die „Defund the Police“-Bewegung, die nach dem Fall George Floyd aus den USA herübergeschwappt ist. Die Frage ist, wenn es nicht die Polizei ist, wer macht es dann? In Nordsyrien scheinen es ja kommunitaristische Strukturen zu leisten. In Deutschland habe ich in Gesprächen die Erfahrung gemacht, dass diese Strukturen erst gebaut werden müssen, weil es schwierig ist, etwas einfach nur abzuschaffen und nichts an die zu Stelle setzen. Siehst du das auch so?
Kurt: Auf jeden Fall. Ein Leitspruch der Zapatistas, also der indigenen Befreiungsbewegung in Mexiko sagt, dass einem Nein zum Status Quo ganz viele Jas folgen müssen, also die Frage, was eigentlich stattdessen gewollt und gebraucht wird. Diese Arbeit muss im besten Falle gleichzeitig gemacht werden. Und nochmal zu Rojava: Klar gibt es da immer noch polizeiähnliche Strukturen, und ich glaube, man muss auch immer wieder betonen, dass Rojava nicht die wahrgewordene Utopie ist, es gibt durchaus noch Gewalt, auch strukturelle, weil das eben eine Revolution ist, die im Werden ist und die mit sehr vielen Widerständen, mit viel Gewalt von außen und von innen zu tun hat. Also deswegen auch das im Werden zu begreifen, das im gemeinsamen Handeln und im Zugewandtsein dem Menschen gegenüber begründet sein muss.
Rittberger: Ich würde gerne noch auf das Stichwort „Ethik der Liebe“ zu sprechen kommen. Wenn dieser belegte Liebesbegriff durch einen Zärtlichkeitsbegriff ersetzt werden soll, welche anderen Begriffe oder Attribute sind da noch wichtig und notwendig?
Kurt: Viel Geduld. Viel Überzeugung. Der Begriff des Konsens ist elementar. Ich bin mittlerweile zwar ein bisschen skeptisch, wenn über Konsens gesprochen wird, weil der Begriff oftmals, auch in Bezug auf offene Beziehungen, als eine Formel gebraucht wird, die eine vollkommene Legitimation für alles bieten soll. Er wird dann missbraucht, um Dinge nicht mehr auszuhandeln und nicht mehr wirklich in einen Dialog miteinander zu gehen. Ich glaube, einen absoluten Konsens in einer Gesellschaft, in der es asymmetrische Abhängigkeitsverhältnisse und Ungerechtigkeiten gibt, wird es nie geben. Das zu berücksichtigen ist, glaube ich, auch der erste Schritt. Dazu kommt die Politisierung der eigenen Beziehung, des eigenen Fühlens und Denkens. Und wenn das als andauernder Prozess gemacht wird, dann brauchen wir vielleicht diese Formeln von Konsens und Fürsorge nicht, weil aus der Notwendigkeit der Analyse heraus eventuell schon gewisse Handlungsformen folgen.
Gestern bei einer Lesung haben mich Leute gefragt, was ich mir wünschen würde, mit was die Menschen aus der Lektüre meines Buches rausgehen und wie ich mir einen radikal zärtlichen Menschen vorstelle. Das kann ich gar nicht so sagen, aber ich glaube, wenn Menschen anfangen, so etwas wie Liebe, Beziehungen, Gesellschaften als Ganzes zu begreifen und eben nicht als Schicksal oder Naturgewalt, sondern einsehen, dass das menschengemacht ist und es daher immer eine Aushandlung braucht und auch die Entscheidung dazu, diese Arbeit machen und stetig reflektieren zu wollen, dann habe ich schon super viel geschafft − mehr als ich mir je hätte vorstellen können.
Rittberger: In deinem Buch wird die Vier-Tage-Woche oder auch das Vier-Stunden-Konzept erwähnt, das du aber mit einem Fragezeichen versiehst. Warum? Ist dir das zu ordentlich oder zu wenig radikal?
Kurt: Ja, vielleicht. Ich würde mich dem nicht verschließen, aber worum es mir in diesem Kapitel geht, ist, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Produktions- und Arbeitsbedingungen an sich gleich bleiben würden und sich diese Linearität der Zeit im Kopf wie auch der ständige Leistungsdruck nicht ändern werden. Die Gesellschaft wäre trotzdem so strukturiert, dass die Menschen, die aus der Zeit fallen, verlieren. Diese Reform würde das Leben für viele Menschen sicher lebenswerter machen, aber es ist dennoch eine postkapitalistische Gesellschaft notwendig, um zu ermöglichen, dass Menschen sorglos und ohne Angst aus der Zeit herausfallen können. Denn in dem Modell von vier Stunden das und vier Stunden das wird es immer wieder darum gehen, Arbeitskraft zu regenerieren. Ich glaube also nicht, dass das der große Wurf wäre. Womit wir wieder ein bisschen bei so abolitionistischen Bewegungen sind. Es gibt einen sehr großartigen Satz von der Abolitionistin Ruth Gilmore: „Wir müssten eigentlich nur eine Sache ändern und das ist alles.“ Und das ist sehr schwierig, denn wenn ich auf radikale Zärtlichkeit angesprochen werde, merke ich, wie ich immer zehn weitere Fässer aufmache, weil am Ende einfach alles irgendwie zusammengehört und nichts autonom und isoliert für sich betrachtet werden kann, sondern in der Relation zu vielem anderen steht.
Rittberger: Möchtest du noch ein Schlusswort sagen, in einer Nussschale heruntergebrochen: Was ist wichtig an der Autonomie? Was ist sie und was nicht?
Kurt: Kein Mensch besteht für sich allein, sondern alles besteht in Beziehungen zu anderen Menschen. Autonomie kann gar nicht anders gedacht werden als eine Form von Aushandlung, als eine Form von Widerständigkeit, auch gegen die Gewalt. Um eine Gesellschaft zu erreichen, in der so viele Menschen wie möglich handlungsfähig sind, brauchen wir große gesellschaftliche Transformationen. Vielleicht wird die Autonomie nie erreicht, da in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen für mich so etwas wie vollkommene Freiheit oder Autonomie nicht möglich ist, aber ein ständiger Prozess der Befreiung. Und ich glaube, dass an diesem Prozess sehr viele Menschen gemeinsam teilnehmen sollten und auch schon teilhaben.
Rittberger: Ich danke dir für dieses Gespräch.
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Şeyda Kurt *1992 in Köln. Heute lebt sie in Berlin und ist als Journalist:in, Autor:in und Moderator:in tätig. Sie schreibt unter anderem für taz. die tageszeitung und ZEIT ONLINE. Sie arbeitet zudem als Redakteur:in für den Spotify Original Podcast 190220 – Ein Jahr nach Hanau und als Host für den Spotify Original Podcast Man lernt nie aus. In der Kolumne Utopia bespricht sie für das Theater-Onlinemagazin nachtkritik.de kulturelle Repräsentationen von Liebe und Zärtlichkeit auf Theaterbühnen. Auf Twitter schreibt sie unter @kurtsarbeit über politische und soziologische Belange. Letztes Jahr erschien ihr Bestseller Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist.
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