Ein Magazin über die Lust und Gefahr des Wagnisses

von Nora Khuon und Mazlum Nergiz

 

Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann widmet das letzte Kapitel seiner berühmt gewordenen Studie Postdramatisches Theater einer "Ästhetik des Risikos": ein rücksichtsloses Theater fordert er darinein, das Extremsituationen von Gefühlen herstellt, „die immer auch die Möglichkeit des verletzenden Tabubruchs beinhalten.“ Was ist ein Tabubruch? Im Theater ist dieser immer dann gegeben, wenn die Distanz nicht mehr gegeben ist, die die Grenze „zwischen Saal und Bühne zu sichern schien.“ Ist diese Distanz nicht mehr stabil, zerrt die Wirklichkeit des Theaters uns schier vor ein Problem: dass wir als Zuschauer:innen uns nämlich vor dem, was da vor uns geschieht, verhalten müssen. Risiko als Zwang, Position zu beziehen. Risiko als Eingeständnis des Zusammenbruchs. Risiko als eine Mischung aus Nervenkitzel, Angst, Schauder und Hochgefühl, wie es der Autor Adrian Nathan West in seinem Beitrag Philosophie eines Besuchs für diese Ausgabe beschreibt.

 

Und was ist mit Extremsituationen – Situationen des Risikos – außerhalb des Theaters? Wie können wir den Tabubruch heute weiterdenken und produktiv machen? Wofür jetzt also eine „Ästhetik des Risikos“ nicht nur innerhalb der Wirklichkeit des Theaters, sondern in der Wirklichkeit des Alltags und der Gesellschaft? Welche scheinbar gesicherten Grenzziehungen und zerstörerischen Selbstverständlichkeiten lässt uns die Krise der Pandemie anzweifeln?

 

Was passiert, wenn wir etwas wagen, auf’s Spiel setzen – sei es eine persönliche Beziehung, ein Arbeitsverhältnis oder die Beziehung zur Natur oder zum Kapital? Welche inneren Abgründe und Monster wachen auf? Angst, Scham, Aggressionen, Selbstverletzung und auch Auslöschung. Sicherlich. Vielleicht aber auch: Wagnis,
Neuanfang und Hoffnung.

 

Vielleicht könnte der gegenwärtige Tabubruch einer sein, die Distanz zwischen Weitermachen und Nichtsmachen aufzuheben? Wandel utopisch zu denken: Utopie als Negation dessen, was ist und, viel wichtiger, als Wille, dass es anders sein kann. Wie viel Wagnis halte ich aus? Wie viel eine Gesellschaft?

 

In unserer zweiten Ausgabe haben wir Autor:innen gebeten, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Der Künstler Ken Chinea hat eine leuchtende Serie von Collagen angefertigt, die die Fragilität des wohl risikoreichsten Materials überhaupt ins Zentrum rücken: Glas. Entstanden ist ein Heft über Situationen der Instabilität und des Kontrollverlusts, von Rissen, die gefährlich werden können, die uns aber auch auf noch zu betretende Gelände führen, auf denen wir wagen dürfen, neu zu denken, neu zu handeln. Weltkarten voller Potentialität und konkreten Möglichkeiten des noch nicht Eingetretenen.

 

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