von Andrew Hageman

 

Jeder Umbruch, jede Krise, alles Neue reflektiert sich auch immer in der Sprache. Der folgende Essay des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Andrew Hageman entstammt der aufregenden Publikation An Ecotopian Lexicon, das versucht, unserer globalen ökologischen Krise und ihren Herausforderungen mit anderen Begriffen zu begegnen.

Eine Reihe von Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen und Künstler*innen wurden gebeten, Begriffe vorzustellen, die so in der englischen Sprache noch nicht existieren. Ausgehend von der Vorstellung, dass es den hegemonialen, westlichen Kulturen an Begriffen und Konzepten fehlt, um die gegenwärtige Umweltkrise zu beschreiben oder adäquat auf sie zu reagieren, wird in An Ecotopian Lexicon reflektiert, wie mit den vorgeschlagenen Lehnwörtern ein neuer Denkhorizont erscheinen kann, um die Sprache, die wir zur Beschreibung des Lebens im Anthropozän verwenden, erweitert und globalisiert werden kann.

Hageman hat sich für das deutsche Wort Sehnsucht entschieden – und beschreibt damit mitunter das Verlangen nach einer besseren Welt, die wir nie bewohnt haben, von der wir aber aus tiefster Seele hoffen, dass sie irgendwo als Alternative existiert.

 

(Anmerkung der Redaktion)

 

Aussprache: zen-zookt ('seınˌzʊkt)

Wortart: Substantiv

Herkunft: Deutsch

Beispiel: Während einer Fahrt durch die Ruinen von Tschernobyl fühlte die Toningenieurin ein Aufblitzen von Sehnsucht als ein Verlangen nach dem Verlorenen, vermischt mit einem freudigen Trost über die Rückkehr von neuem, wenn auch fremdem Leben.

 

*

 

Haben Sie schon einmal die Erfahrung gemacht, plötzlich festzustellen, dass eine gewohnte, herkömmliche Weise, ein Problem zu lösen oder eine Aufgabe zu erfüllen, sich überholt hat und durch etwas erstaunlich Neues und Revolutionäres ersetzt wird? Diese Mischung aus Verlust und potenziellem Gewinn, die Sie dachten und fühlten, war eine Begegnung mit Sehnsucht.

 

Sehnsucht, einem Substantiv aus der deutschen Sprache, wohnt ein komplexes Ökosystem von Bedeutungen inne, welches sich durch Zeit und Raum entwickelt hat und sich bis heute weiterentwickelt. Für Friedrich Schiller, den Dichter, Arzt und Philosophen, der von Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum frühen neunzehnten Jahrhundert lebte und arbeitete, erfasste Sehnsucht eine menschliche Erfahrung, die für die deutsche Romantik und das Leben der Menschen in der damaligen westlichen Welt von zentraler Bedeutung war. Für Sigmund Freud, dem Vater der Psychoanalyse, trug Sehnsucht zur Erklärung von spezifischen Traumata und Neurosen des Menschen der Moderne bei, als in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts neue technowissenschaftliche Maschinen wie Eisenbahnen das Erleben der Menschen prägten. Für C.S. Lewis, einen der wenigen Schriftsteller, die den Begriff ins Englische überführten, vermittelte Sehnsucht das freudige Verlangen („joyful longing“) des christlichen Lebens in Vorfreude auf die Herrlichkeit des Himmels, die dem Leben auf Erden folgen würde. Kürzlich schloss sich der Romanautor Warren Ellis der Einführung von Sehnsucht in die englische Sprache an, und zwar in seinem seltsamen und wunderbaren Roman Normal (2016), in dem es um einen vorausschauenden Strategen geht, der von der nahenden Zukunft so überwältigt wird, dass er zusammen mit anderen ausgebrannten Futuristen zur Erholung in ein Retreat-Camp in der Wildnis geschickt wird. Diese kurze Aufzählung beleuchtet entscheidende Momente in der Geschichte der Sehnsucht, die wir in Betracht ziehen können, wollen wir die Bedeutung des Lehnwortes in dieser Zeit des zunehmenden ökologischen Bewusstseins für das Massensterben, für die toxische Verschmutzung, Wasserknappheit und die Epoche des Anthropozäns als solche umreißen – in Bezug auf Dinge, die wir bereits verloren haben und die unzähligen Dinge, die wir verlieren werden, wenn die von uns in Gang gesetzten klimatischen Veränderungen ihre Wirkung zeigen, neben allen technowissenschaftlichen Durchbrüchen und Fortschritten, die das Potenzial zur Minderung dieser Verluste in sich tragen.

 

 
Illustration: Laura Robert
 

 

Nach diesem Ausflug in die angelsächsische Geistesgeschichte der Sehnsucht wenden wir uns nun der Frage zu, was das Wort heute bedeutet. Obwohl das Wort Sehnsucht sich in stetiger Bewegung befindet, sich verändert und anpasst, wenn Menschen es innerhalb der sich verändernden Lebensbedingungen auf der Erde und in verschiedenen kulturellen Kontexten aussprechen, bleiben die beiden Grundbestandteile des Wortes sehnen („to long or to pine“) und sucht („a lingering illness“). Eine einleuchtende, wenn auch etwas vereinfachende Definition verbindet zwei Elemente. Das eine ist „sich verzehren“, wie in dem Sehnen nach etwas Verlorenem, nach etwas, das vielleicht einmal existiert hat und abhanden gekommen ist, oder nach einer vertanen Gelegenheit oder einem nie verwirklichten Potenzial. Das andere ist eine Erwartung, wie in einem tiefen, möglicherweise utopischen Wunsch nach einem besseren Zustand, der da kommen möge, wobei diese Zukunft irgendwo auf der Skala zwischen dem realistisch Realisierbaren und einem Stadium der Perfektion liegen kann, an welches sich nur asymptotisch angenähert wird. Dieses Zusammenspiel von Traurigkeit und Freude, von Intellekt und Gefühl scheint ein Paradoxon zu beschreiben: Der Sehnsucht begegnen heißt, zwischen Verzweiflung und Hoffnung, Verlust und Gewinn, Dystopie und Utopie zu oszillieren.

 

Anders ausgedrückt: Sehnsucht erfasst eine komplizierte, man könnte sagen dialektische Antwort auf das Leben in einer Welt, die am Abgrund steht, entweder um zu zerfallen, und/oder um sich dem Horizont eines radikalen Durchbruchs in eine neue und humane Zukunft zu nähern – eine Synchronizität von unerschrockener Akzeptanz und utopischer Hoffnung.

 

Es ist wie die vorübergehende Seherfahrung, die Menschen in der Dämmerung machen, wenn die Fotorezeptoren ihrer Netzhaut sich unsicher umschalten. Wir mögen das Gefühl haben, nicht das sehen zu können, was wir klar zu sehen erwarten. Dafür treten neue Farben und Konturen in unseren Blick. Diese paradoxe Daseinserfahrung ist wahrhaftig kein Ort, an dem es leicht zu verweilen ist, und so ist Sehnsucht notwendigerweise ein flüchtiges und kostbares Denk-Gefühl.

 

Durch die gewissenhafte Integration der Sehnsucht ins Denken, in die Kunst, in die Wissenschaft und in die allgemeine Diskussion über vergangene, gegenwärtige und zukünftige ökologische Krisen können Menschen ihre Aufnahmefähigkeit erweitern, um die lähmende Verzweiflung zu überwinden, die oft aus dem Bewusstsein dieser Krisen erwächst. Sich dem Massensterben, den sich verschlechternden Zuständen von Wasser, Luft und Boden auf der Erde und den gewaltigen Hyperobjekten[i] der globalen Erwärmung und des Anthropozäns mit Sehnsucht zu stellen, bedeutet, die Verwüstung anzuerkennen, ohne in Verzweiflung zu verfallen und sich nostalgisch nach einer Art idealisierter vergangener Welt ökologischer Harmonie und Balance zu sehnen, die in Wirklichkeit nie existierte.[ii] Wir können uns auch nicht den Phantasieprojektionen eines humanen Kapitalismus zuwenden, der die Dinge im Wesentlichen am Laufen hält, wie sie jetzt sind, aber mit Smartphones in Bambusgehäusen. Nein. Sehnsucht hilft uns, unbeirrt auf die Schrecken des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens auf der Erde zu blicken und die Hoffnung auf den Genuss von radikal anderen Zukünften aufrechtzuerhalten, die noch nicht entworfen werden können, auch wenn es sich anfühlt, als ob solche Zukünfte nach uns greifen, uns ihre Koordinaten übermitteln, damit wir sie in einer sonderbaren und rückwärtswirkenden Zeitschleife in die Wirklichkeit gebären können. Sehnsucht ist eine Freude in den Ruinen von heute, die uns zu den unbekannten Freuden jenseits der ökologischen Schrecken vorantreiben kann. Sehnsucht könnte unseren Willen stärken, düstere Zeiten zu durchstehen in Erwartung einer lichteren Zukunft.

 

Um die Sehnsucht in die aktuelle ökologische Debatte einzubinden, ist es hilfreich, die ästhetische Wirkmacht zu untersuchen, die sie in der Vergangenheit ausübte, indem sie die menschliche Einsicht zum Ausdruck brachte, nur ein Teil einer gewaltigen und komplexen Welt zu sein. Eine der einflussreichsten Verwendungen dieses Lehnwortes im Deutschen ist das Gedicht Sehnsucht von Friedrich Schiller aus dem Jahr 1801.[iii] Veröffentlicht zu einer Zeit, als Sehnsucht ein bedeutendes kulturelles Kapital im deutschen Sprachraum besaß, fand Schillers Text weite Verbreitung. Das Gedicht war so populär, dass es berühmte musikalische Schöpfungen von Franz Schubert und Siegfried Wagner inspirierte. So wie der Begriff Sehnsucht ein komplexer Knotenpunkt vielfältiger intellektueller und emotionaler Wertigkeiten ist, so war Schiller ein brillanter Universalgelehrter – Dichter, Arzt, Philosoph und Historiker. Es fällt schwer, nicht nostalgisch zu werden in Anbetracht eines sozialen Kontextes, in welchem wirkungsvolle Äußerungen zur menschlichen Koexistenz mit den nichtmenschlichen Elementen des Planeten sowohl von Wissenschaftlern als auch von Dichtern ausgingen.

 

Die Künste, Geistes- und Naturwissenschaften als gleichberechtigte, sich womöglich überschneidende – wenn auch in dynamischer Spannung zueinander stehende – Formen der Erkenntnistheorie anzuerkennen ist ein integraler Ansatz zur Problemlösung, den wir heute im Angesicht der Krise des Anthropozäns dringend brauchen.

 

Doch die Idee der Natur, die in der Romantik entstand und die Natur zu einer gefestigten Sache erstarren ließ, die zu einer Ware und/oder Äußerlichkeit wurde, verfolgt uns bis in die Gegenwart. Kurz gesagt, die Natur ermöglicht die Aufklärung des Menschen und ein aufgeklärtes Bewusstsein ist es, welches der Natur die Bedeutung gibt, die sie ohnedies nicht hätte.

 

Schillers Gedicht verkörpert auf wunderbare Weise die paradoxe Sehnsuchtserfahrung der Romantik, die nichtmenschliche Welt innig zu umarmen und gleichzeitig ein Bild des Menschen als Individuum aufrechtzuerhalten, abgetrennt und scheinbar autonom von den nichtmenschlichen Elementen der Erde. Die ersten zweieinhalb Strophen des vierstrophigen Gedichts präsentieren den Lesenden eine multisensorische Beschreibung des Wanderns im Freien. Die Lesenden sind aufgefordert, „kalte Nebel“ zu spüren, „schöne Hügel / ewig jung und ewig grün“ zu erblicken, „Harmonien“ und „Töne süßer Himmelsruh“ zu hören, in den Lüften „der Düfte Balsam“ zu riechen, und beim Einatmen der „Luft auf jenen Höhen“ eine Erfrischung des ganzen Körpers zu erfahren.

 

Mit der Aktivierung aller Sinne lädt Schiller die Lesenden ein, in diesen ehrfurchtgebietenden Ort wie in das poetische Äquivalent einer immersiven virtuellen Realität einzutauchen. Das Gedicht Sehnsucht ist der Versuch, diese flüchtige, aber eindringliche Erfahrung des Spaziergangs im Freien in Synchronizität mit der nichtmenschlichen Welt einzufangen. Aber wie eine technische Panne in der Maschinerie der virtuellen Realität löst sich die Immersion auf, als die Person in dem Gedicht auf einen reißenden Fluss stößt und dabei eine Kluft wahrnimmt – eine tiefe Trennung. Gute Nachrichten jedoch, da das Gedicht eine leuchtende Wendung nimmt: Da ist ein Boot, und der Protagonist beschließt, die Segel zu setzen, getrieben von Glauben und Wagemut. Das Gedicht endet mit einer Deklaration: „Nur ein Wunder kann dich tragen / In das schöne Wunderland“.

 

Schillers Sehnsucht bietet die hoffnungsvolle Vorstellung, den Willen aufzubringen, um die ausweglose Situation zu überwinden, die uns vom Wunderland der ganzen Welt trennt.

 

Der Haken daran ist jedoch, dass das Versenken in den Abgrund („Shooting the Gulf“) – um eine Formulierung zu bemühen, die Ralph Waldo Emerson in dem Essay Self-Reliance (1841) verwendete, in dem er argumentiert, dass Macht nicht im Stillstand, sondern im Übergang liegt – das Bild des menschlichen Willens, über die Natur zu herrschen, aufrecht erhält und verstärkt. Auch wenn die Intentionen in Werken wie Schillers Gedicht und Emersons Essay die Lesenden auffordern, sich nicht auf Ideen auszuruhen, die leicht starr werden können, scheinen dieselben Intentionen oft die Kontrolle und Manipulation nichtmenschlicher Elemente der Welt zu unserem Zweck und Nutzen zu beinhalten.

 

1930, in Folge der Schrecken des Ersten Weltkriegs, inmitten des rasanten Aufstiegs Hitlers und der Weltwirtschaftskrise, veröffentlichte Sigmund Freud eines seiner meistgepriesenen Werke, Das Unbehagen in der Kultur. Ziemlich früh taucht Sehnsucht auf in seiner buchfüllenden Analyse, warum das Unbehagen und die Entfremdung so tief empfunden wurden von den Menschen in den sich rasch modernisierenden Gegenden Europas, dem beeindruckenden Aufstieg technowissenschaftlicher Errungenschaften zum Trotz. Freud schreibt:

 

„In den letzten Generationen haben die Menschen außerordentliche Fortschritte in den Naturwissenschaften und in ihrer technischen Anwendung gemacht, ihre Herrschaft über die Natur in einer früher unvorstellbaren Weise befestigt. (…) Die Menschen sind stolz auf diese Errungenschaften und haben ein Recht dazu. Aber sie glauben bemerkt zu haben, daß diese neu gewonnene Verfügung über Raum und Zeit, diese Unterwerfung der Naturkräfte, die Erfüllung jahrtausendealter Sehnsucht, das Maß von Lustbefriedigung, das sie vom Leben erwarten, nicht erhöht, sie nach ihren Empfindungen nicht glücklicher gemacht hat.“[iv]

 

Sehnsucht ist der Schlüssel zu dieser Passage, denn Freud legt nahe, dass diese menschliche Beziehung zur nicht-menschlichen Welt ein Wunsch ist, der sehr wahrscheinlich prähistorischen Ursprungs ist. Folglich scheint es nicht überraschend, dass die Erfindungen der Dampfmaschine, der Eisenbahn und des Kinos diesen Wunsch voll und ganz erfüllen sollten.

 

Menschsein bedeutet, Sehnsucht zu begegnen; Menschsein bedeutet, sich nach Synchronizität mit den nicht-menschlichen Elementen der Erde zu sehnen und sich als ihnen unveräußert zu fühlen, und paradoxerweise die Kontrolle über dieselben Elemente der Erde zu erstreben, so dass wir uns als Herrscher dieser Erde fühlen.

 

Mit anderen Worten: Freud nutzte Sehnsucht, um die kognitive Dissonanz zu identifizieren, die er als weitverbreitete Folge der gelebten Erfahrung sah, Teil der Ökosysteme eines Planeten zu sein. Aber der menschliche Anteil an dieser Zusammensetzung und was es für Sehnsucht als Lehnwort bedeutet, ist kompliziert. Letztlich analysierte Freud das Leben in überwiegend westlich städtischen Umgebungen, das er in Dialog mit dem Leben in oft ländlichen oder landwirtschaftlich geprägten nicht-westlichen Umgebungen stellte. Er theoretisierte anhand von Sehnsucht in einer unscharfen Zone, in der sich kulturelle Spezifizität mit menschlicher Universalität vermischt. Das kommt uns gelegen, weil Sehnsucht auf die universelle Verfasstheit des Planeten, den wir teilen, reagiert, dabei jedoch von kulturellen Besonderheiten geprägt wird, die nicht die Unterschiede leugnet, wie Menschen die klimatischen Zukünfte erleben werden.

 

Interessanterweise behauptet Freud, dass sich die kognitive Dissonanz der Sehnsucht verstärkt habe auf Grund der Explosion der technowissenschaftlichen Entwicklungen im Westen und gleichzeitig auf Grund von globalen Expeditionen durch den Kontakt mit dem, was Freud im Jargon seiner Zeit als „primitive Völker und Stämme“ bezeichnet.[v] Auf seltsame Weise steht Freuds Sehnsucht mit den Eindrücken von H.G. Wells' Krieg der Welten (1897) in Resonanz, einem Werk der Science-Fiction, welches die Allegorie der umgekehrten Invasion – die Marsmenschen behandeln das britische Volk so, wie das britische Volk das tasmanische Volk behandelte – mit den Verheißungen der Umgestaltung des ganzen Planeten durch fortgeschrittene Technowissenschaft verbindet. In der Tat findet sich in der Science-Fiction-Literatur aus der Ära der kolonialen Expansion Europas ein Ausdruck der Hybris und Angst dieser Zeit. Sie bleibt ein Genre, das den Daseinszustand der Sehnsucht sowohl einfängt als auch neu imaginiert.

 

Jetzt, in den frühen Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts, leben die Menschen in der Düsternis der sich abzeichnenden globalen Erwärmung, heimgesucht von der Aussicht, dass das menschliche Leben auf Erden erlöschen könnte.

 

Strukturen und Praktiken der Globalisierung wie die laufende und potenzielle Nutzung von Algorithmen, Biogenetik und Geo-Engineering unterscheiden sich von denen, deren Zeuge Freud war, und doch sind sie nach wie vor von den Widersprüchen jener Epoche geprägt und von der Befürchtung begleitet, dass für solche Fortschritte wesentliche Aspekte dessen geopfert werden müssen, was für manchen das Menschsein gerade ausmacht. Sehnsucht kann im gegenwärtigen Augenblick eine bedeutende Rolle spielen, aber sie muss klug eingesetzt werden, um zu wirken. Wenn die sehnende Seite der Sehnsucht überbetont wird, könnte sie rückwärtsgewandte Ideen nähren, die Erde wieder groß zu machen, („make earth great again“) um einen Trumpismus zu modifizieren; wenn die Hoffnungen auf das Terraforming anderer Planeten oder das Reparieren der Erde mit Nanomaschinen überbetont werden, kann uns die Sehnsucht in verlockende Phantasien des Technoutopismus führen; aber indem wir beides ergreifen und festhalten, sowohl die schmerzliche Akzeptanz der Vergangenheit als auch die hoffnungsvollen Spekulationen über die Zukunft, kann eine dynamische Sehnsucht dazu beitragen, die zutiefst beunruhigende Erfahrung zu fassen, die Welt im und die Welt als Wandel zu erkennen. Sehnsucht zu fühlen und zu denken, bedeutet, jetzt zu begreifen und sogar willkommen zu heißen, wie fremd das Leben auf der Erde geworden ist, ohne jemals zu vergessen, wie untrennbar die menschliche Spezies durch Jahrtausende der natürlichen Auslese mit diesem Planeten verbunden ist.

 

Sehnsucht ist eine fürchterliche und eindrucksvolle Offenbarung, die ein einzelner offenbar nur kurzzeitig ertragen kann, um nicht zerrissen zu werden zwischen ihren starken Widersprüchen.

 

Es ist, als wären wir eine schlafwandlerische Spezies, die seit Jahrtausenden unbewusst umgebaut hat, nur um eines Morgens aufzuwachen und neue Räume und Gänge, Rohre und Leitungen und Heizungsschächte überall um uns herum zu entdecken. Wir sind zu Hause und sind es nicht. Wir empfinden Sehnsucht – ein Verlangen nach einer besseren Welt, die wir nie bewohnt haben, von der wir aber aus tiefer Seele glauben, dass sie als Alternative existiert. Sie muss! Bitte denken Sie also darüber nach, Sehnsucht zu einem Wort zu machen, das Sie aus dem Ärmel schütteln können, immer wenn Sie diese flüchtigen Augenblicke des Paradoxons, des Wendepunkts erhaschen – wenn Sie die vergänglichen Ruinen um uns herum erfassen, nicht um sie zu stützen, sondern um sich ein ganz neues Leben der Freuden und Schmerzen, der Künste und Wissenschaften, der Koexistenzen und Lieben genau hier auf Erden neu vorzustellen, so wie wir uns alle in die Zukunft hinein entwerfen, in die vorhersehbare und darüber hinaus.

 

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Andrew Hageman ist Professor für englische Literatur am Luther College in Iowa, USA. Er publiziert zu verschiedenen Themen, beispielsweise über David Lynch, chinesisches Kino und wie man Björks Album Biophilia unterrichten kann.

 

[i] Hyperobjekte sind Dinge, deren Ausmaße und Dimensionen unsere Vorstellungskraft übersteigen und die keine Form annehmen, auf die sich verlassen werden kann. Das Klima ist beispielsweise ein Hyperobjekt. (Anmerkung der Redaktion)

[ii] Timothy Morton, Hyperobjects: Philosophy and Ecology after the end oft he World (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2013)

[iii] Friedrich Schiller, Sehnsucht

[iv] Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur

[v] Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur

 

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