von Annika Henrich

 

Eine Stange Staudensellerie

Ein Apfel

Ein Stück Ingwer

Saft einer halben Zitrone

200 Milliliter Wasser

Apfel und Staudensellerie gut waschen und in grobe Stücke schneiden. Ingwer schälen und in kleine Stücke schneiden. 

Wer seinem Körper etwas Gutes tut, tut sich selbst etwas Gutes, oder; man soll nicht unterschätzen, welche Rolle die Darmflora für die Seele spielt, dachte sie zufrieden, als sie das kleine Messer suchte und fand. 

Zitrone auspressen. 

Sie fühlte sich als Alchimistin, als der Saft über die Kanten der Presse lief, die ihre magischen Selbstheilungskräfte endlich entdeckte. 

Was dir nicht gut tut, davon trenne dich ganz, und sie fischte einen Apfelkern aus dem Becher. Da war also jemand seines Weges gegangen, eine Begegnung war an ihr Ende gekommen, man bewegte sich ohneeinander fort. Lang vorbei die Zeit, in der sie ein solches Ereignis niedergeschmettert hätte. In der sie ihr Glück von anderen abhängig gemacht hatte. Sie würde sich nicht suhlen und sehnen, nicht in Eskapaden der Selbstkasteiung ihr eigenes Unglück suchen. Glück war eine Entscheidung. 

Sie war sich endlich selbst genug und fand alles, was sie brauchte, in sich. 

Der Pürierstab surrte laut, und sie dachte dabei an die Mäuse. Es gibt einen Parasiten, der Mäuse befällt und der in der Lage ist, die Verhaltensbiologie der Maus so zu verändern, dass die Maus sich mit voller Absicht von einer Katze fressen lässt. Weil dieser Parasit sich im Verdauungstrakt von Katzen besonders gut fortpflanzen kann. Die Maus denkt, sie wüsste, was sie tut, oder fühlt sich von dunkler Begierde getrieben, die sie als Teil ihrer selbst wähnt. Dabei wohnen fremde Zellen in ihr, die ganz andere Ziele verfolgen als den Erhalt ihrer Entität.

Der Mensch wird von einem Mikrobiom von 10 hoch 14 Bakterien bevölkert, und es ist wichtig, darauf achtzugeben, wer diese Mikroben sind, was sie wollen und dass sie nicht anfangen, sich an dunkle Orte zu sehnen.

Eine Prise Kurkuma und nochmal rühren.

Sie kannte den Stand ihres Schrittzählers, ihren Blutzuckerspiegel und die Anzahl ihrer verbleibenden Eizellen. Schicksal ist planbar.

Sie trank in großen Schlucken, fühlte Energie in sich strömen und sah auf die Uhr des Handydisplays. Zeit für die tägliche gute Tat.

One in seven children does not have enough food to lead a healthy and active life

It takes 80 cents to feed one hungry child for one full day

All it takes is 80 cents and a tap on your smartphone

Whenever you want − wherever you are

Das hatte die In-App-Werbung gesagt, und weil sie 80 Cent und ein Smartphone besaß, tippte sie jetzt jeden Tag auf ihr Smartphone, um one hungry child mit einer Mahlzeit zu versorgen. Wer anderen hilft, steigert das Selbstwertgefühl und lebt glücklicher. Als Kind hatte sie mal ein Tamagotchi gehabt, dem war es nicht so gut ergangen. Aber der Vergleich kam ihr doch etwas unpassend vor, jedenfalls kümmerte sie sich jetzt stetig und gewissenhaft. 

Welche falschen Entscheidungen one hungry child getroffen hatte, wusste sie nicht. Der Gedanke beunruhigte sie kurz, aber weil er sie beunruhigte, stellte sie sich den Gedanken wie eine Welle auf einem Ozean vor und ließ ihn ziehen.

Bei einem Kuss werden 80 Millionen Bakterien ausgetauscht, tauchte ein neuer Gedanke aus dem Ozean und schwappte in ihren Körper, in eine fahrige Bewegung hinein, mit der sie ihr Smartphone von der Tischkante fegte. Es schlug auf den Fliesen auf und zerschellte in tausend Teile.

Ungünstig, dachte sie erst, weil sie heute ganz sicher keinen Ersatz mehr bekommen würde. Und dann dachte sie an one hungry child, das jetzt ohne Mahlzeit bleiben würde, einfach weil sie für einen kleinen Moment nicht aufgepasst hatte − und da verformte sich der Elektroschrott auf dem Fußboden schon in ein ausgezehrtes, hungerndes Kleinkind, das regungslos am Boden lag und sterben würde, ihretwegen, wegen ihres blöden und fatalen Fehlers. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte, weil sie es nicht erreichen konnte. Und sie sah sich in der Küche um und in der Wohnung und stellte mit Erschrecken fest, dass alles um sie herum, all die Dinge, bereits beschlossen hatten, tot zu sein. Alles verging. Und würde folgerichtig am Ende niemals gewesen sein. Alle, die sie kannten, würden sterben. Die Archäologen der Zukunft würden Gesteinsschichten analysieren, und nach der Kreidezeit und nach der Bronzezeit würde man Spuren von Plastik finden, und man würde sich anhand des Fundes einer Puderzuckermühle fragen, wer wir gewesen waren. Aber auch die Archäologen würden sterben, und die Aliens, die die Spuren des einstigen Lebens auf Erden ausfindig machten, würden sterben und am Ende niemanden gehabt haben, dem sie von uns hätten erzählen können. Und dann atmet das Universum noch einmal ein und wieder aus, verschlingt alles, stirbt am Ende selbst, und nichts wird sich erinnern, das je etwas war.

Und da lief sie. Lief ohne zu zögern zur Tür hinaus, raus auf die Straße, denn da draußen musste es doch sein, das Leben. Sie wollte raus, raus aus der Stadt, in die Wildnis, in den Wald, sich durch die Laubschichten in die Erde wühlen, sich im Morast wälzen und rufen: „Antworte, Welt!“, wollte dort liegen bleiben, bis der Regen sie aufweichen und mit dem Erdboden vermischen würde. 

Aber schon an der nächsten Straßenecke verlangsamte sie ihren Schritt, denn sie wusste nicht genau, wohin sie lief. Sie kannte gar keinen Wald, nur dieses eingezäunte Wäldchen, das von Hundetoiletten und Joggerpfaden durchzogen war. Gerade war sie kurz davor, über die Tragik des Menschen nachzusinnen, der alles tötet, was er unter seine Kontrolle bringt, aber da blieb sie mit einem Griff in die Jackentasche stehen. 

Mist, Schlüssel vergessen.

Es wurde auch schon kühl.

Zu Hause stand sie vor verschlossener Tür, sie würde einen Schlüsseldienst rufen müssen, mit jemandes Telefon. Sie sah zur Tür der Nachbarwohnung und wusste nicht, wer dort vor Kurzem eingezogen war. 

Die mikrobiellen sind gegenüber den menschlichen Zellen in uns in der Überzahl. Wir selbst sind immer schon überstimmt. 

Sie klingelte.

Und da stand sie vor der Tür ihrer Nachbarn und hoffte, sie mögen freundlich sein.

 

*

 

Annika Henrich *1990 in Gießen, ist Dramaturgin und Autorin. Ihr Stück Halt mich auf, 2019 mit dem Publikumspreis des Hans-Gratzer-Stipendiums ausgezeichnet, wurde im März 2022 in Nürnberg uraufgeführt. Zuletzt erschien Jupiter brüllt − Der lange Weg zum Glücksplanet im Verlag Felix Bloch Erben.

 

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