Kunst darf zynisch sein. Der Staat nicht.

 

von Tobias Herzberg

 

In meinem Stück Feygele gibt es, relativ am Anfang, eine Szene, in der die Hauptfigur einen Club besucht. Eigentlich gibt es nur diese eine Figur, denn es ist ein Monolog. Es geht also die eine Figur im Stück in diesen Club. Der Protagonist. Ich. Ich? Mein Alter Ego, mein anderes Ich, mein böser Zwilling vielleicht, oder meine Sprechpuppe? Meine Nemesis, mein Spiegelbild, meine Kunstpersona – also jedenfalls eine Kunstfigur, die nicht unbedingt mich meint, wenn sie „Ich“ sagt. Dieser Typ eben, den ich Feygele genannt habe, weil ich von diesem Wort verzaubert war, als ich es zum ersten Mal gehört hatte. Feygele ist jiddisch und heißt: kleiner Vogel. Vögelchen also. Feygele heißt auch: junge Frau. Oder eben: schwuler Mann. Aber nicht böse oder abwertend, es ist kein Schimpfwort. Sondern eher ein freundlicher, ein fröhlicher, ein leichter Ausdruck. Eine Fremdbezeichnung, die es mir ausnahmsweise mal nicht schwergemacht hat, sie mir anzueignen. Wer ein Feygele ist, ist vielleicht etwas flatterhaft, flüchtig und flamboyant, aber auf jeden Fall fabelhaft.

 

Dieses Vögelchen also, dieser Feygele, geht in einen Club. Einen queeren Club. Queer ist englisch, mit Wurzeln im Althochdeutschen, und bedeutet schräg, verdreht, verkehrt, verquer. Und heute eben auch: nicht-heterosexuell. LesBiSchwul! Poly-, pan- und pornosexuell. Inter, trans* und gender-nonconforming. Für alle, die zur weltumspannenden Familie der Perversen und Gefährdeten gehören – also sich mit einem oder mehreren Buchstaben aus der langen und immer länger werdenden Kette LGBTTQQIAAP identifizieren, für all die, die der Heteronormativität gerade noch so entkommen sind oder ihr jeden Tag aufs Neue den Mittelfinger zeigen, ist queer so etwas wie ein Sammelbegriff. Ein Umbrella-Term. Und mehr noch: Queer ist eine Haltung. Eine Denk- und Handlungsweise. Und das ist viel wichtiger als jede scheinbar festgefügte Identität. Ich finde, dass es nicht interessant ist, ob ein Mensch trans* oder cissexuell, lesbisch oder hetero ist. Es geht nicht darum, auf eine bestimmte Art zu sein, sondern um die Art, wie man argumentiert, streitet und denkt. Queer zu denken bedeutet, Differenzen wertzuschätzen, ohne Ungleichheiten zu ignorieren – oder gar zu verteidigen, dass Menschen aufgrund ihres So-Seins ungerecht behandelt werden.

 

Auch der Begriff queer hat, wie Feygele, den Weg einer Aneignung hinter sich. In einem Akt kollektiver Selbstbestimmung wurde aus dem Schmähbegriff eine stolze Selbstbezeichnung. Und schließlich: der Name mehrerer akademischer Disziplinen – Queer Studies, Queer Theory, Queer Anthropology –, die sich der Erforschung und Erschließung nicht-normativer Subkulturen widmen.

 

Apropos Subkultur: Am Anfang meines Stücks geht Feygele also in einen queeren Club. Aber drinnen ist es nicht so, wie er es erwartet hat. Im Stück heißt es:

 

Drinnen ist es leider sehr alternativ. Das ist ein Dilemma, wenn auf einer Gayparty ganz alternative Schwule und lauter Lesben rumhängen und eigentlich alles so ist, wie man es gerne hätte und wie es das eigene Ideal verlangt. Die ganzen beautiful queers, das Ideal der Selbstentfaltung, die Feier der Diversität, der Selbstbestimmung und auch der Selbstermächtigung. Also das, wofür wir kämpfen – aber leider nervt‘s.

Leider finde ich das total unsexy. Leider habe ich ganz andere Bedürfnisse. Mein Körper verlangt nach einem stereotypen Alphamale, einem Naziskinheadtürken mit großem Schwanz und dicken Eiern, und der muss noch nicht mal unbedingt vers sein, noch nicht mal offen schwul, im Gegenteil: am liebsten machoheteromäßig und verheiratet, und seine völlig unterdrückte Sexualität entlädt sich in einem brutalen Akt der Vergewaltigung meines süßen kleinen weißen jüdischen Arsches.[1]

 

Warum erzähle ich das? Weil es mir ein Anliegen ist, möglichst anschaulich zu machen, dass Kontext alles ist, oder dass zumindest verschiedene Kontexte alles verändern können.

 

Seit drei Jahren lebe ich in Wien. Hier in der österreichischen Hauptstadt tobt seit Jahren ein Namens- und Bilderstreit. Mitten im Stadtzentrum ist einem Vordenker des modernen Antisemitismus und Wegbereiter der NS-Ideologie, Karl Lueger, ein Denkmal gewidmet. Auf dem nach ihm benannten Platz am Stubenring thront seit 1926 sein überlebensgroßes steinernes Ebenbild. Lueger war von 1897 bis 1910 Wiens Bürgermeister. Er bediente und beförderte den gesellschaftlich verwurzelten Hass auf Juden und Jüdinnen. Adolf Hitler berief sich auf ihn in Mein Kampf.

 

Viele zivilgesellschaftliche Akteur:innen engagieren sich seit Jahren für eine Umbenennung des Platzes und einen Abbau des Denkmals. Nachdem die Statue wiederholt beschmiert worden war – seit 2020 prangt gut sichtbar der Begriff „Schande“ auf ihrem Sockel –, hat sich eine künstlerisch-aktivistische Initiative gegründet, um die Entfernung der Graffitis zu verhindern und so eine Rückkehr zum Status quo ante zu verunmöglichen. Diese Schandwache schützte tage- und nächtelang den „Schande“-Schriftzug vor der Reinigungskolonne. Mit Erfolg: Der Auftrag zur Entfernung des Schriftzugs wurde zurückgezogen.

 

Angesichts der gesteigerten Aufmerksamkeit rund um Platz und Denkmal entschloss sich die Wiener Stadtregierung dazu, einen künstlerischen Umgestaltungsprozess einzuleiten. Erklärtes Ziel dieses Prozesses, der 2023 abgeschlossen sein soll, ist jedoch nicht die Umbenennung, sondern eine „künstlerische Rekontextualisierung“ des Platzes. 

 

Kontext ist alles.

 

Diese Art von Indienststellung der Kunst vernichtet ihre Freiheit. Wesenskern von Kunst ist ihre Autonomie. Selbstbestimmtheit ermöglicht Ungehorsam. Künstlerische Autonomie ist dann nicht mehr gegeben, wenn Kunst einem staatlichen Auftrag folgt. Es kann nicht an der Kunst sein, jene Aufgaben zu erfüllen, die dem Staat zu unangenehm, zu lästig oder zu heikel sind.

 

Es handelt sich um einen Akt künstlerischer Selbstbestimmung, eine Kunstfigur Dinge sagen zu lassen, die in anderen Kontexten – also wenn ich obiges Stückzitat ohne Vorrede, Einordnung und Anführungsstriche von mir gegeben hätte – mindestens hochgezogene Augenbrauen hervorrufen würden. Im künstlerischen „Als ob“ kann meine Autonomie weiter gehen als auf der Straße oder am Rednerpult. Die Autonomie einer von mir erfundenen Figur kann sogar so weit gehen, die Autonomie anderer, ebenfalls fiktiver Figuren einzuschränken. Sie kann so weit gehen, die Grenzen des guten Geschmacks und des zivilisierten Miteinanders zu überschreiten. Sie kann einseitig sein, und ja, auch ungerecht gegenüber Einzelnen oder Gruppen, überheblich und anklagend, auch und gerade gegen mich selbst.

 

Die Autonomie der Kunst darf all das, was der Staat nicht darf.

 

Und das betone ich nicht, um die Reproduktion von Dummheit, Diskriminierung und Gewalt auf deutschsprachigen Bühnen zu legitimieren. Ich sage all das nicht, um dem Theater einen Persilschein auszustellen, beispielsweise das N-Wort immer weiter herauszuposaunen mit der Begründung, dass es nun mal im jeweiligen Stücktext stehe. Das ist eine andere Diskussion, und sie auszubreiten würde hier den Rahmen sprengen. Sondern ich betone das, weil der Kontext der Kunst ein anderes Sprechen ermöglicht als andere Sphären der Öffentlichkeit. Weil Jonathan Meese unrecht hat. Kunst ist nicht Staat, und Staat ist erst recht nicht Kunst. Kunst darf gemein sein. Der Staat nicht. Der Staat soll neutral sein. Die Kunst nicht.

 

Einen Platz nach einem Antisemiten zu benennen, ist nicht neutral, sondern gemein. Es dabei zu belassen, obwohl mannigfaltige Kräfte der Zivilgesellschaft, darunter mehrere Shoah-Überlebende, sich seit Jahren für eine Umbenennung engagieren, ist zynisch. Kunst darf zynisch sein. Der Staat nicht. Der Kunst den Auftrag zu erteilen, für eine Rekontextualisierung zu sorgen, bedeutet die Umkehrung der Sphären.

 

Die Aufgabe des Staates soll sein, für sichere Straßen zu sorgen. Die Straßen sind nicht sicher, wenn sie nach Antisemiten benannt sind. Die Autonomie der Kunst kann darin bestehen, Denkmäler zu bauen, zu kippen oder zu beschmieren. Die Kunst riskiert all ihre Autonomie, wenn sie Luegers Schandmal auftragsgemäß „rekontextualisiert“ oder sich vor den Karren einer didaktischen Neugestaltung des Platzes spannen lässt.

 

Wir brauchen keine staatliche Beauftragung künstlerischer Interventionen, denn Künstler*innen intervenieren ohnehin von ganz allein – seit Jahren schon und ohne staatliche Mission. Wir brauchen eine Umbenennung des Karl-Lueger-Platzes. Wir brauchen keine künstlerische Umgestaltung des Ehrenmals für einen Menschenfeind, sondern seinen Sturz.

 

*

 

Tobias Herzberg *1986 in Hamburg, ist freier Dramaturg und lehrt am Institut für Sprachkunst der Universität für angewandte Kunst in Wien. 2016–19 Dramaturg und Leiter des Studio Я am Maxim Gorki Theater Berlin, 2019–21 Dramaturg am Wiener Burgtheater. Mit seinem Solostück Feygele war er 2021/22 in der Reihe UNIVERSEN zu Gast am Schauspiel Hannover. Ab der Spielzeit 2023/24 leitet er gemeinsam mit Marie Bues, Martina Grohmann und Mazlum Nergiz das Schauspielhaus Wien.

 

In einer ersten Version entstand der Text für die Veranstaltung Intersektionaler Gedenkclub, kuratiert von Nina Prader, mit Unterstützung der CPPD – Coalition for Pluralistic Public Discourse im Juni 2022 im Wien Museum MUSA.

 

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[1] Aus: Tobias Herzberg: Feygele.

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