#Interview
Im Schauspielhaus bringt Hakan Savaş Mican mit Archiv der Sehnsüchte eine berührende und humorvolle Familiengeschichte auf die Bühne. Ein Gespräch mit dem Regisseur über mehrere Etappen deutsch-türkischer Arbeitsmigration.
Das Stück basiert auf dem Roman Die Ungehaltenen von Deniz Utlu. Was hat dich an der Geschichte interessiert?
Was mich an dem Text interessiert hat, ist in erster Linie ein Grundgefühl einer jungen Generation. Es ist das Gefühl, wütend zu sein, ohne beschreiben zu können, warum. Und eine starke Suche nach sich selbst und nach einer Verortung im Leben, emotional oder geografisch. „Ungehaltene“ können im positiven Sinne Menschen mit großer Lebenslust sein, die vorankommen wollen. Oder sie befinden sich im freien Fall und suchen nach etwas, woran sie sich festhalten können. Die Themen der Menschen mit Migrationshintergrund sind im Theater oft nicht vertreten. Deshalb freue ich mich umso mehr, diese Geschichte, die dann doch auch ein Stück deutscher Geschichte der letzten 70 Jahre erzählt, in Hannover auf die Bühne bringen zu können.
Verbindet diese Wut die Hauptfiguren Elyas und Aylin?
Ja, sie treffen sich in diesem Gefühl. Aylin ist ein bisschen weiter als Elyas in ihrer Auseinandersetzung mit ihrer Familie, mit ihrer Vergangenheit, mit dem Land. Elyas spürt auch viel, kann es aber noch nicht in Worte fassen. Die Annäherung der beiden geschieht durch das Teilen des Schmerzes. Weil sie sehr ähnliche Kindheiten erlebt haben: mit abwesenden Eltern, mit viel Einsamkeit, teilweise auch mit Ausgrenzung. Dieser Schmerz bringt sie zusammen. Im Stück setzt Elyas sich mit der Generation seiner Eltern auseinander. Was unterscheidet seine Erfahrungen von ihren? Sie haben unterschiedliche Etappen der Arbeitsmigration nach Deutschland erlebt. Ich kenne das von meiner Familie. Meine Eltern sind 1969 nach Deutschland gekommen als Arbeitsmigranten. Ich bin 1978 in Berlin geboren, habe meine Kindheit aber in der Türkei verbracht und kam erst mit 19 nach Deutschland zurück. Ich wurde nicht hier sozialisiert, trotzdem habe ich hier studiert und dann die Sprache gelernt. Das Leben der Generation meiner Eltern in Deutschland war anfangs sehr provisorisch. Kaum jemand dachte, dass sich diese Zeit über ein halbes Jahrhundert erstrecken würde, dass die Kinder hier auf die Welt kommen und groß werden würden. Nach dem Fall der Mauer mussten sich die bisher als Gäste fremddefinierten Menschen entscheiden: Bleiben wir? Gehen wir? Erst dann haben sie in Deutschland ein Zuhause gesehen und ihre Lebensweise verändert. Dieses Gefühl von Provisorium, dieses Dazwischen, hat die nächsten Generationen stark geprägt. Ich glaube, Migration macht einen erst mal krank, die Frage ist, wie man damit umgeht. Sie hinterlässt Spuren und Narben und das übertragen Eltern, ob sie wollen oder nicht, auf ihre Kinder und diese geben sie wieder weiter.
Elyas begegnet auch Hekim mit seinen Tauben, Cemo, der an die Revolution glaubt, oder Mustafa, einem Tankstellenwart. Was ist dir wichtig an diesem Figuren-Panorama?
Elyas' Begegnungen machen ein Fenster auf zu einer multiperspektivischen Erfahrung von verschiedenen Menschen. Es gibt Passagen, die die Perspektive der Mutter beleuchten. Was war Deutschland für sie, wo hat sie gelebt, im Kopf, mit dem Körper und wo ist sie heute? Was ist ihre Enttäuschung, was ihre Hoffnung für die Zukunft? In der Türkei trifft er zum Beispiel Mustafa, der abgeschoben worden ist, sich aber trotzdem nach Deutschland sehnt, nach einer Pommes Schranke im Freibad. Es ist in erster Linie eine Familiengeschichte, aber sie reicht noch weiter.
Was erzählt uns das Stück über das Heute?
Die Buchvorlage erschien 2014, im Jahr des Abschlussberichts über die NSU-Morde. Jetzt, zehn Jahre später, sind die politischen Entwicklungen in diesem Land mehr als besorgniserregend. Sie bringen mich an einen Punkt, an dem ich meine selbstverständliche Position zu Deutschland infrage stellen muss. In der Textentwicklung mit Deniz haben wir deshalb fast jede Figur noch mal abgeklopft: Wie steht sie zu Deutschland? Das ist die Grundfrage des Abends. Es wird auch Live-Musik geben. Was können die Lieder über den Text hinaus zeigen? Im Vergleich zu anderen Kunstformen erreicht die Musik einen viel direkter und körperlicher. Das geht sofort unter die Haut. Deswegen liebe ich es, mit Musik zu arbeiten. Das ist wie in der Küche: Musik ist beim Kochen mein Lieblingsgewürz. Verschiedene Etappen der Arbeitsmigration spiegeln sich in Ansätzen in unserem Musikkonzept. Dabei geht es nicht um einen folkloristischen Aspekt, stattdessen wollen wir mit den Liedern einen Raum der Empathie für das Publikum eröffnen.
Elyas und Aylin fahren ans Schwarze Meer. Was bedeutet ihre Reise?
Elyas möchte eigentlich nur die Grabstätte seines Vaters besuchen, doch Aylin verspricht sich von der Reise zur Schwarzmeerküste die Lösung ihrer Probleme und das Ende ihrer Selbstsuche. Ich kenne viele deutsch-türkische Kinder, die irgendwann in der Hilflosigkeit, einen Platz in diesem Land zu finden, die Lösung in dem Heimatland der Eltern oder Großeltern suchen. Ich glaube, in den meisten Fällen liegt hierin eine große Täuschung, denn dieses romantische Bild von der Heimat gibt es so nicht. Es gibt nur die innere Reise, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und Frieden zu schließen.
Eine Frage, die Elyas auch Aylin stellt: Was ist dein Kindheitsgeruch?
Ich habe meine Kindheit in der Türkei verbracht und kam immer in den Sommerferien nach Berlin. Meine Eltern waren den ganzen Tag in der Fabrik und ich konnte alleine durch die Stadt spazieren, essen und schwimmen gehen. Im Supermarkt habe ich mir oft „Pizza Speziale“ gekauft und weil die mit Schweinefleisch ist, habe ich die Verpackung am Boden des Mülleimers versteckt. „Pizza Speziale“-Geruch erinnert mich sehr an dieses Kindheitsgefühl: Einsamkeit, aber irgendwie auch Freiheit.
Interview: Taale Frese