Sie wollen die Welt verändern und Grenzen sprengen. Gewinnen kann hier niemand. Im Schauspielhaus ist Dance Nation von Clare Barron als deutschsprachige Erstaufführung zu sehen. Regie führt Stephan Kimmig.
Sie sind dreizehn. Sie sind Tänzerinnen. Sie sind ambitioniert. Sie sind Freundinnen. Sie sind Konkurrentinnen. Sie entdecken ihren Körper und ihr Körper entdeckt sie. Sie sind voller Kraft. Sie wollen siegen. Zusammen sind sie eine kleine Armee. Zuzu, Ashlee, Amina, Conny, Sofia, Maeve und Luke. Sie wollen die Welt verändern und sie könnten es. Ob es gelingt – wir wissen es nicht.
Irgendwo in uns ist es noch, dieses dreizehnjährige Ich von damals, radikaler, empfindsamer, unschuldiger, wütender und impulsiver als das heutige. Clare Barron hat es ausgegraben und vervielfacht. Sieben davon versammelt sie in einer Welt der Konkurrenz, Leistung, erwachender Sexualität und der Freundschaft. Auf den ersten Blick könnte man Dance Nation als ein klassisches Coming-of-Age-Drama lesen. Doch das wäre zu kurz gedacht, denn eigentlich verfasst Clare Barron einen Angriff auf unser neoliberales System.
Eine Gruppe tanzender Kinder auf der Schwelle zum Erwachsenendasein. Sie wollen die National Championships gewinnen. Angetrieben werden sie von Tanzlehrer Pat (Sebastian Nakajew) und einer Mom (Alrun Hofert), die gleichsam alle Moms verkörpert. Ein kluger Kniff. Die einzige, aber komplexe, Funktion dieser Mom ist: die Verkörperung der mütterlichen Liebe, gekleidet in die Angst um das Versagen des Kindes. Scheitern ist die schlimmste Vorstellung in einer Welt, die sich dadurch definiert, die oder der Beste zu sein. Scheitern hieße hier dem Glück Adieu sagen. Für eine Mom kein akzeptabler Vorgang. Also heißt es leiden. Und so hat sich Tanzlehrer Pat für den nächsten Sieg Außergewöhnliches ausgedacht. Er sucht den Gegenpart zu dem, was die Mädchen in ihrer leistungsorientierten Welt kennen, und findet – Gandhi, gewaltlosen Widerstand, den Kampf gegen Unterdrückung und Leid. Sein Leben und Wirken sollen sie ertanzen. So zynisch es uns erscheinen mag, vollkommen unzynisch ist es von Pat erdacht. Sein Bewusstsein reicht nicht dahin, das eigene demütigende, schmerzhafte Verhalten zu realisieren. Daher verwundert es auch nicht, dass der Wunsch jeder Einzelnen, Gandhi zu sein und das Solo zu tanzen, nicht allein darauf zurückzuführen ist, systemkritisch zu wirken, sondern darin liegt, herausragend zu sein. Gleichzeitig ist ihnen die arglose und tiefe Sehnsucht: „Ich will die Welt ändern durch tanzen“, nicht abzusprechen. Der Mensch ist eben ein Zwiespalt.
Das alles könnte schrecklich plakativ, bekannt und langweilig sein, ist es aber nicht, denn anders als diese verkürzende Zusammenfassung, fängt Barron die Komplexität der Situation und der Figuren ein. Sie verzerrt und überspitzt, sie beseelt und vertieft. Wenn beispielsweise Pat ausruft: „Wir lassen diese Jury etwas fühlen in ihren kalten, toten, verdorbenen Herzen!“, ist das nicht sarkastisch, sondern ernst gemeint und ein glaubhaftes Bedürfnis, das sie alle bestimmt. Sie alle tragen eine Sehnsucht in sich. Sie wollen mit den Wölfen leben, wollen geliebt werden, Freunde haben, siegen, Grenzen sprengen, Perfektion erlangen, Männer fertigmachen, verschmelzen, eins sein mit sich und der Welt.
Das Befreiende an Dance Nation ist, dass Clare Barron zu keinem Zeitpunkt reale Dreizehnjährige entwirft. Im Vorwort zu ihrem Text schreibt sie: „Das Stück sollte jedoch (größtenteils) von erwachsenen Schauspielerinnen und Schauspielern gespielt werden, mit einer Altersspanne von zwölf bis fünfundsiebzig Jahren und älter.“ Am Schauspiel Hannover beginnt die Altersspanne erst bei Mitte zwanzig, zieht sich aber dann durch die Generationen, und wir sehen das Kind in der Erwachsenen, und die Erwachsene im Kind durchscheinen – eine Mahnung an das, was möglich gewesen wäre, ein Ausblick darauf, was sein könnte. Unbedarftheit und Wissen vereinen sich und stemmen sich gegen eine Welt, in der es immer eine Sehnsucht bleibt, wirkliche Gemeinschaft zu erfahren, in der das Bedürfnis, man selbst zu sein, nie gestillt werden wird. Es ist berührend, wie Barron ihre Startänzerin Amina (Katherina Sattler) sagen lässt:
„Manchmal denke ich, ich will verlieren. / Also weil ich wohl andere verletze / nur durch meine Existenz / Und ich denke: Okay, bittebitte, lass mich einfach verlieren …/ Aber dann komme ich auf die Bühne / und auf einmal will ich nur noch gewinnen. / Ich will so doll gewinnen, / dass ich echt dafür bete.“
Die Scham sitzt ihnen allen im Nacken. Egal, ob es die Scham ist, zu den Verliererinnen zu gehören, oder die Scham darüber, die anderen zu demütigen dadurch, dass man eine Gewinnerin ist. Gewinnen kann hier niemand.
Stephan Kimmig nähert sich diesem Text in der deutschsprachigen Erstaufführung an. Gemeinsam mit der Choreografin und dem Musiker Nils Strunck erwecken sie Barrons Text. Das Ensemble tanzt, liebt und leidet sich durch einen Abend und überwindet augenblickhaft das internalisierte System. Ob es von Dauer ist, kann man nicht wissen, aber der Moment, wankend am Rand des Erwachsenendaseins, das Selbst zu begreifen, sich zu vereinen, hinterlässt ein Gefühl der Transzendenz, irrlichternd, schwankend und schön.
Nora Khuon