Die Abstände wachsen
Im Ballhof Zwei steht die Premiere Ein Mann seiner Klasse nach dem Roman von Christian Baron auf dem Programm. Dramaturgin Annika Henrich über die Familienbiografie von Christian Baron und das Aufwachsen in Armut sowie die Schranken auf dem Weg hinaus.
Es fällt schwer, Verständnis aufzubringen für einen Mann, der trinkt und prügelt und das Geld der Familie in der Kneipe lässt. Christian und sein Bruder Benny ziehen die Bettdecken über die Köpfe und halten die Luft an, wenn drüben der Vater die Mutter gegen die Wand schleudert. Die Gewalt ist zur Normalität geworden, genauso wie die Armut, in der sie leben. Genauso wie der Reflex, nichts nach außen dringen zu lassen, bloß nicht aufzufallen.
Zwischen den Wutausbrüchen des Vaters und den Depressionen der Mutter scheint die wenig versprechende Zukunft der Kinder bereits vorgezeichnet. Nach dem frühen Tod der Mutter springt eine couragierte Tante für die Kinder in die Bresche und dank des Einsatzes von Einzelnen beginnt sich das Blatt für Christian zu wenden.
Autor Christian Baron blickt in seinem 2020 erschienenen autobiografischen Roman Ein Mann seiner Klasse zurück auf eine Arbeiterkindheit im Westdeutschland der frühen Neunzigerjahre und auf einen Vater mit vielen Gesichtern. Als Kind liebt und bewundert Christian diesen Mann mit den starken Armen, der eine Waschmaschine alleine in den vierten Stock tragen kann, alle Westerndialoge auswendig kennt und der weltberühmt ist in Kaiserslautern Ost. Wie er will er werden. Einer der Brüder erscheint am Sterbebett des Vaters, einer nicht. Einer kann ihm verzeihen, der andere macht ihn verantwortlich für das Elend, den Terror und die Angst, in der er aufwachsen musste. Erst viele Jahre später versucht er zu verstehen, wer oder was diesen Vater zu dem machte, der er war.
Baron schildert eine Realität, vor der wir gerne die Augen verschließen. Er schreibt von skandalöser Armut in einem reichen Land und vom wirkungsvollsten aller Ausgrenzungsmechanismen, der Scham. Es sind die Verachtung und der Hohn, mit denen unsere Gesellschaft auf die Einkommensschwächsten herabblickt, die ihre Perspektivlosigkeit und Ausgrenzung zementieren. Und heute? Zwischen den Neunzigern und uns liegen die Agendapolitik, der Abbau der Sozialsysteme, der Ausbau des größten Niedriglohnsektors in Europa, die Erfindung der Super-Nanny und die Explosion der Mietpreise in den Großstädten. Die Ungleichheit in unserem Land hat deutlich zugenommen. Christian vermutet, heute könnte sich die Familie nicht im drittschlimmsten sozialen Brennpunkt der Stadt halten, sondern wäre längst im berüchtigten Stadtteil Kalkofen gelandet.
Und draußen: Corona. Während wir proben, steigen die Infektionszahlen weiter, noch immer ist nicht klar, wann die Inszenierung vor Publikum stattfinden kann. Sicher ist, ihre zentralen Fragen werden akut sein. Die Krise verschärft die ungleichen Möglichkeiten, verschärft Gefahren, verschärft die Ungerechtigkeit. Die sozialen Auswirkungen der Pandemie sind schon jetzt finster und noch kaum in ihremvollen Ausmaß zu ermessen. Zu Hause zu bleiben fällt verhältnismäßig leicht, wenn dort viel Platz, beheizte Zimmer und gute Bücher warten. Wenn man dort sicher ist. Das ist nicht überall Realität.
Die soziale Isolation, die im Roman beschrieben ist, wird durch die Pandemie drastisch verstärkt. Die Abstände wachsen. Baron ist sich sicher, er ist nicht durch Leistung seinem Herkunftsmilieu entkommen, sondern durch glückliche Zufälle und Begegnungen. Eine Verwandte zeigt ihm eine andere Welt, nimmt ihn mit zu Lesungen, ins Theater. Diese Begegnungen finden jetzt nicht statt.
Und die Welt: Gesellschaften rund um den Globus scheinen fundamental gespalten. Man ist sich nicht nur uneinig, wohin es gehen soll und was dafür zu tun ist, sondern schon darin, was überhaupt ist. Es scheint keine geteilte Wirklichkeit mehr zu geben. Die Abstände wachsen. Mit ihnen wächst die Wut. Baron setzt der Abgrenzung eine einfühlsame Familienbiografie entgegen, in der es auch um Stolz geht und um Würde, um Zusammenhalt.
Regisseur Lukas Holzhausen adaptiert den Roman für die Bühne des Ballhof Zwei. Der Vater, um den es geht, wird auch hier nicht direkt zu Wort kommen, wir können nicht für ihn sprechen. Vielmehr ist die Inszenierung eine Rekonstruktion, ein Erinnern, eine Suche nach Gründen und Ursachen. Es fällt schwer, Verständnis aufzubringen. Aber wir müssen.
Annika Henrich