Sonja Anders über die Herausforderungen,

die eine vielfältige Gesellschaft an das Theater stellt.

 

Wenn ich an guten Tagen an die Zukunft des Theaters denke, sehe ich diese mit den Worten Hannah Arendts als „Handeln Gleicher im Raum der Freiheit“. In dieser Formel steckt so ziemlich alles, was ich im Theater suche. Theater ist Handeln und Gestaltung. Es kann ein Ort der Freiheit sein. Wir sind nicht alle gleich, das ist klar. Aber nach Hannah Arendt ist gerade das Mit- und Nebeneinander unterschiedlicher Positionen und Personen – ihre Differenz – die Voraussetzung für eine starke und offene Gesellschaft, solange sie im Dialog und im Sinne vollständiger Gleichberechtigung auf Augenhöhe austariert wird. Differenz und Pluralität werden in ihrem Verständnis der Gleichheit nicht ausgeschlossen, sondern sind geradezu Bedingung.

 

Die Realität bildet diesen Gedanken momentan wenig ab. Stattdessen radikalisiert und erhärtet sich der Tonfall, alle beanspruchen für sich die Diskurshoheit rund um das Themenfeld Vielfalt und Teilhabe, Identität und sogenannter Political Correctness. In der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (13.11.2021) sprach ich neulich in einem Interview über rassistische Strukturen am Theater und darüber, dass es an der Zeit ist, antirassistisches Theater neu zu denken – weg vom alten Schema, welches Schwarze und People of Colour überwiegend als Opfer zeigt und rassistische Gewalt auf der Bühne reproduziert. Der Journalist fragte, ob denn „der alte weiße Mann“ auch mal einstecken müsse, was ich ganz selbstverständlich bejaht habe.

 

Ja, das muss er. So wie wir alle. Die Theater und ihre Bühnen sollten Orte der Gleichheit sein und dürfen Privilegien nicht auf Kosten anderer ausleben. Auch wenn wir gesellschaftlich diesem Zustand noch deutlich hinterherhinken, müssen sich die Theater auf den Weg machen zu mehr Fairness und Gleichheit. Nicht erst seit Schiller stellt das Theater die Mächtigen und Privilegierten infrage. Warum sollen also auf unseren Bühnen „alte weiße Männer“ nicht einstecken dürfen? Wir zeigen am Schauspiel Hannover aktuell Kleists Der zerbrochne Krug und Molières Der eingebildete Kranke – beide Stücke untersuchen in amüsanter Art und Weise den despotischen und mächtigen Mann. Ist etwas daran neu oder gar provozierend?

 

Mein Interview hat offenbar einen empfindlichen Nerv getroffen. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung erhielt eine Welle an fluchenden und zum Teil bösartigen Leserbriefen, die alle abgedruckt wurden. Da schrieben gekränkte (männliche) Personen, ich würde weiße Menschen kategorisch ausschließen, Kunst an der Hautfarbe ausrichten, und überhaupt sollte dem Theater jetzt endlich die Finanzierung entzogen werden. Die Vehemenz der Kommentare hat mich erschreckt und herausgefordert. Wirklich verblüfft hat mich aber, dass Die deutsche Bühne daraufhin in der Januarausgabe kritisiert, ich würde Diversität über Ausgrenzung weißer, alter Männer definieren und damit einen Großteil meines Publikums ausladen. Diese Schlussfolgerung ist reichlich skurril. Was hat es auf sich mit diesem Zorn „alter weißer Männer“?

 

Der Erregungsgrad der Kommentare erscheint mir symptomatisch für die allgemein überheizte Stimmung, die diesen sogenannten „Kulturkampf“ rund um die sogenannte „Identitätsdebatte“ in allen Feuilletons und Kulturforen der westlichen Welt beherrscht. Alles deutet darauf hin, dass unsere gesamte Gesellschaft mitsamt der Theater in einer Repräsentationskrise steckt. Dabei geht es bei all den aufgeworfenen Fragen nach Diversität und Repräsentation im Kern erst mal um das große Thema Gleichheit respektive Ungleichheit, und da herrscht zunächst noch weitestgehend Einigkeit: Dem Recht nach sind alle Menschen gleich. Und das meint Race, Class, Gender. Und so gehörte es bisher zum guten Ton, dass die Mächtigen und Etablierten auf unseren Bühnen herausgefordert werden. Im besten Fall schmeichelte die kritische Aufmerksamkeit den Privilegierten sogar, bezeugt sie ja Macht und Bedeutung, ist Beleg der eigenen Aufgeklärtheit.

 

Jetzt aber werden einige ungeduldig. Es sind diejenigen, die ungleicher sind als die Gleichen, es sind die, die nicht auftauchen in leitenden Positionen, Chefredaktionen oder protagonistischen Rollen. Deutliche Forderungen nach Teilhabe werden gestellt, sei es von Frauen, LGBTQIA2S+, Schwarzen und People of Colour, Menschen mit Behinderung oder anderen Marginalisierten. Auch über Quoten wird diskutiert. Es wird deutlich, dass all dies verbunden wäre mit der Neuverteilung von Privilegien. Eine Veränderung von Sprache, von Strukturen und Narrativen steht zur Debatte. Unser althergebrachtes, antirassistisches Theater wird plötzlich als rassistisch identifiziert, als Reproduktion von Erniedrigung und Ausschluss. Unser Gestus wird als paternalistisch wahrgenommen. Wir werden aufgefordert, zurückzutreten. Spätestens hier folgt der Aufschrei.

 

Das scheinbare Konsensthema Diversität wird zur großen Prüfung von Toleranz und Offenheit, von Aufgeklärtheit und Solidarität. Natürlich wissen Theaterschaffende, Journalist:innen und Kulturpolitiker:innen, dass das deutsche Theater, seine Kunst und seine Kunstschaffenden zu weiß, zu distinguiert und zu männlich sind, dass es nicht die Bevölkerung abbildet und sich entwickeln muss. Aber zu welchem Preis Veränderung stattfindet, wie schnell, und wer zurücktritt, spaltet. Und auch das Publikum fragt sich, was diese Veränderung mit sich bringt. Wo der „alte weiße Mann“ als eine bloße Denkfigur für ungleich verteilte gesellschaftliche, ökonomische, soziale Ressourcen gedacht ist, wird die Kategorie als persönlicher Angriff empfunden. Und so glauben manche zu verlieren. Doch was? Geschichten? Traditionen? Selbstsicherheit? Diversität als Forderung löst Angst vor Verzicht aus. Dabei geht ja erst mal nichts verloren außer der Sicherheit, die Definitionshoheit zu besitzen. Und entstehen könnte ein Raum des Nebeneinander und nicht des Oben und Unten.

 

Ludwig Wittgenstein konstatiert in seinem Blauen Buch „unsere Sehnsucht nach Generalisierung“. Diese Sehnsucht zeigt sich auch in Konzepten wie denen des „alten weißen Mannes“ oder der „Schauspieler:in mit Migrationshintergrund“. Die Kategorisierung und Systematik einer klaren Identitätszuweisung ist aber, so glaube ich, letztlich wenig zielführend, denn politische und ästhetische Differenzen werden durch Definitionskämpfe ganz sicher nicht aufgehoben. Vielmehr müssen wir konkrete Analysen spezifischer Fälle, Geschichten und Narrative vornehmen, die uns bewegen. Wir sollten lernen, politische Haltungen auszudrücken. Es sollte selbstverständlich werden, die andere Seite einzuladen, die eigene Haltung zu teilen, und nicht, andere für ihre Haltung zu vernichten. Diese Aufgabe erfordert in erster Linie: Zuhören!

 

Ich bin mir sicher: Wenn wir unsere Strukturen und Sichtweisen dahingehend nicht verändern, wird das Theater seine Relevanz für die Zukunft verlieren. Die Gesellschaft, die uns finanziert, darf erwarten, dass wir einen Beitrag zu diesen Fragen leisten. Fragen nach Gerechtigkeit, Gleichheit, Entwicklung sind für diese Gesellschaft existenziell – und wir sollten versuchen, sie mit unseren Mitteln zu behandeln. Denn die Gesellschaft und die Bevölkerung sind definitiv dabei, sich zu verändern. Das Theater muss diesen Weg mitgehen. Es muss sein derzeit größtenteils bürgerliches Publikum einladen auf diesen Weg und viele neue Menschen der Stadtgesellschaft dazu. Die eigene Perspektive hinterfragen, Empathie schulen – und andere Meinungen zulassen, im konstruktiven Dialog ohne falschen Konsens. Dies sind Bedingungen dafür, dass neue Allianzen entstehen. Ohne Grabenkämpfe. Denn wir sollten niemals vergessen, dass die Feinde der Demokratie sich rüsten, um unsere Dispute auszunutzen und zu spalten.

 

Eins ist dabei sicher: Wir brauchen alle Menschen dazu, alle! Vieles, was wir heute sind, war einmal umstritten, und wir sollten denen Anerkennung zollen, die Veränderung fordern. Wir sollten diese transformative Kraft des Widerspruchs schöpferisch nutzen. Vielleicht wird am Ende eine Haltung des Schwankens, der Bewegung und keine der Wahrheit oder des Rechthabens dabei herauskommen. Vielleicht dürfen wir dann unsicher sein, vielstimmig, wankelmütig und dennoch freudvoll. Dialog heißt ja auch, sich von sich selbst entfernen – was für eine Erleichterung!

 

Sonja Anders

Der Artikel erschien zuerst in:

Die Deutsche Bühne, März 2022

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