„Er kann die Augen nicht mehr verschließen“

 

Fokus-Verschiebung: Im Schauspielhaus feiert Fokus nach dem Roman von Arthur Miller Premiere. Mit Regisseurin Laura Linnenbaum sprachen wir über akuten Antisemitismus und Ausgrenzung in Krisenzeiten.

 

Arthur Miller ist als Dramenautor kein Unbekannter auf deutschen Bühnen. Fokus ist aber ein Roman, Millers einziger, dessen Uraufführung du gerade inszenierst. Warum eignet sich Fokus als Stoff für die Bühne?

 

Vor allem erst mal aufgrund seiner Thematik. Der Roman handelt vom sehr langsamen politischen Erwachen des Protagonisten Lawrence Newman. Das passiert zwar im Amerika der 1940er-Jahre, aber dennoch merkt man, all die Themen, die darin verhandelt werden, haben vielleicht eine andere Erscheinungsform, an Aktualität haben sie aber nicht verloren. Newman steht dabei stellvertretend für den Prototypen eines Durchschnittsbürgers, ein – so muss man leider sagen – ganz alltäglicher, struktureller Antisemitismus ist tief in seiner Wahrnehmung verankert. Eines Tages bekommt er eine Brille und wird auf einmal jüdisch gelesen und qua Zuschreibung mehr und mehr zum „Anderen“ gemacht. All das ist eingebettet in den nur zum Teil verdeckten Antisemitismus eines Amerikas, das sich bereits im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland befindet. Obwohl also gegen die Vernichtungspolitik der Deutschen gekämpft wird, gibt es kein Bewusstsein über die Vorurteile in den eigenen Reihen. Das funktioniert für mich gut als ein Spiegel auch auf ein heutiges Deutschland, das aufgrund seiner Geschichte glaubt, antisemitische Grundtendenzen bereits überwunden zu haben. Außerdem ist Fokus wie eine Art Parabel. Auch das macht die Geschichte für eine theatrale Umsetzung spannend. Das beginnt schon beim Titel. Fokus erzählt im mehrdeutigen Sinne eine Fokus-Verschiebung. Ist es die Brille, die Newman „zum Juden macht“, so ist sie es zugleich, die ihn zwingt, seine eigene Einstellung und die gesellschaftlichen Strukturen zu erkennen. In dieser absurden, beinahe kafkaesken Geschichte wird es ihm möglich, sich zum einen als Täter zu erkennen und zum anderen in der eigenen Betroffenenposition zu begreifen, was es bedeutet, von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen zu sein. Er kann buchstäblich die Augen nicht mehr verschließen.

 

Fokus stand schon im vergangenen Jahr auf dem Spielplan und wurde coronabedingt verschoben. Hat der Stoff für dich an Relevanz gewonnen?

 

Sehr. Leider. Die Anzahl der antisemitischen Übergriffe in Deutschland steigt seit einigen Jahren stetig, nicht zuletzt auf den Corona-Demos haben wir die Verbreitung von zahlreichen antisemitischen Verschwörungsmythen oder Äußerungen beobachten können. Schon erschreckend, wie sich eine so heterogene Gruppe in ihrer Suche nach Antworten auf dieses uralte Weltdeutungssystem verständigen kann.

 

Woran liegt das deiner Meinung nach?

 

Judenfeindschaft ist ein historisch gewachsenes, tradiertes und tief in uns verankertes Weltbild, das Menschen aus den unterschiedlichen Gruppen miteinander verbindet. Er ist sogar für Antirassisten anschlussfähig. Eigentlich ist es ein Mechanismus, sich ohne jeglichen Bezug zur Wirklichkeit die Welt und vor allem alles, was darin schlecht läuft, zu erklären. Deshalb hat Antisemitismus in Zeiten von Krise und Wandel sozusagen Hochkonjunktur. Man sucht eine einfache Antwort dafür, warum die Welt in eine Schieflage geraten ist. Und da wird mit dem Judenhass auf ein lang tradiertes Erklärungsbild zurückgegriffen. Auch zur Entstehungszeit des Romans, 1945, war die Welt in Schieflage. Die Weltwirtschaftskrise liegt noch nicht lange zurück, Amerika befand sich mitten im Krieg und Arthur Miller beschreibt in seinem Vorwort zum Roman einen allgegenwärtigen Antisemitismus mitten in New York.

 

An welche Leserschaft richtet Miller seinen Roman in erster Linie?

 

Miller, der ja selber auch Jude war, geht es in seinem Roman ja nicht darum, Jüdischsein oder jüdisches Leben zu zeigen – also das fiktionale Bild des Antisemiten durch einen Gegenentwurf geradezurücken – sondern die Mechanismen und Willkürlichkeit von Antisemitismus und Othering offenzulegen. Und in diesem Aufdecken von etwas, über das eigentlich niemand reden möchte, richtet er sich an die Mehrheitsgesellschaft, die diese Strukturen verinnerlicht hat. Er tut das spielerisch und nicht moralisierend. Lawrence Newman ist ein zwar sehr eigener, aber in seiner Unbeholfenheit auch durchaus sympathischer Protagonist, mit dem man sich auch identifizieren kann. Die Brille, die er bekommt und die seinen Blickwinkel, seinen Fokus auf die Gesellschaft verändert, diese Brille wollte Miller dem weißen, christlichen Durchschnittsamerikaner an die Hand geben, indem er einen Vertreter ebendieser Gruppierung ins Zentrum stellt.

 

Und wie ist das mit dem Publikum, was wäre hier dein Wunsch?

 

Eigentlich etwas ganz Ähnliches. Antisemitismus und andere Ausgrenzungsformen sind seit Jahrhunderten so tief in unsere Gesellschaft eingeschrieben, dass vermutlich niemand, der in dieser Prägung aufgewachsen ist, wirklich frei davon ist. Jede und jeder von uns kann ganz mühelos zahlreiche antisemitische Bilder, Aussagen oder Ansichten wiedergeben, manchmal noch nicht mal mit dem Bewusstsein, dass es sich dabei um solche handelt. Es ist also wichtig, dass die Mehrheitsgesellschaft das nicht von sich wegschiebt, sondern sich dem stellt, dass wir lernen, hinzusehen, zuzuhören und zu verstehen, um uns schließlich weiterzuentwickeln, um uns im Alltag anders zu verhalten und auf die Seite derer zu stellen, die Ausgrenzung erfahren. Darüber mit dem Publikum in den Dialog zu kommen ist mir ein Anliegen.

 

Du inszenierst gerade die Uraufführung, das heißt Fokus wurde noch nie zuvor auf einer Theaterbühne gezeigt ...

 

Ja, das ist aufregend! Uraufführungen sind immer spannend, weil es noch keine Vorbilder in der Inszenierung gibt und man alles ganz neu entdecken kann. Das macht natürlich großen Spaß – und ist in diesem Falle ja auch eine richtige Entdeckung! Einen Roman von einem derart etablierten Autor zum ersten Mal auf die Bühne zu bringen, ist schon etwas ganz besonderes. Ich schätze Arthur Miller als Dramatiker sehr, weil er großartig Menschen beschreiben kann. Das tut er hier auch wieder, nur dass wir diesmal sogar mit ihm in den Kopf der Hauptfigur gucken dürfen.

 

Du hast dich dazu entschieden, Newman nicht durch einen Schauspieler spielen zu lassen, sondern durch alle vier Spieler:innen. Warum?

 

Uns war wichtig, zu zeigen, dass nicht ein bestimmter Mensch aufgrund irgendwelcher ihm zugehörigen Merkmale Diskriminierung erfährt, sondern dass es sich dabei um eine reine Zuschreibung handelt. Es zählt also nicht, wer man ist, sondern wie man gelesen wird. Daher sind alle Spieler:innen Newman, weil diese Einteilung von Menschen in der Willkür der Betrachtenden liegt. Dazu kommt, dass die Figuren auf der Bühne alle Anteile Newmans vertreten. Den Täter, die passiv schweigende Mehrheit, und die Erfahrung, dass man ohne seine Privilegien zum Opfer gemacht werden kann. Das Thema ist ja sehr bedrückend.

 

Glaubst du, dass der Abend trotzdem auch unterhaltend sein wird?

 

Um es mit Lawrence Newman zu sagen: „Manchmal habe ich auch leichtsinnige Anwandlungen.“ Bei aller Themenschwere ist Arthur Miller auch ein guter Erzähler, der einem voller Lust und Humor eine Vorstadtwelt aufmacht mit all ihren Typen und Skurrilitäten. Er hat eben keinen moralischen Zeigefinger-Roman geschrieben, sondern ein absurdes Märchen. Und diese Leichtigkeit auch auf die Bühne zu bringen, macht gerade viel Spaß.

 

Interview: Johanna Vater

In sechs Schritten zur persönlichen Empfehlung

Verwenden Sie unseren Abo-Berater