Nicht still stehenzubleiben

 

Ein Gespräch mit dem Team von Szenen einer Ehe über Nähe und Distanz und wie sehr sich jede Beziehung in einen einschreibt, geführt von Taale Frese.

 


Wie nah ist die Inszenierung an Bergman? Wie seid Ihr mit dem Material umgegangen?

 

Mazlum Nergiz: Einerseits ist die Inszenierung extrem nah, weil textlich alles Bergman ist, wir haben nichts dazu gedichtet. Und dann wiederum ist sie ganz weit weg. Mich hat der Film trotz seiner spezifischen Situierung von Anfang an berührt. Das Milieu ist mir persönlich eher fremd, – eine weiße schwedische Wohlstandsfamilie in den frühen 1970er Jahren –, und dennoch hat mich das Grundkonstrukt interessiert: die Geschichte eines Paares, das versucht seine Ehe zu retten, schon zu Beginn daran scheitert und sich dann bis ins hohe Alter mit den Scherben auseinandersetzt, nicht ohne Hoffnung und auch nicht ohne Emanzipation. Und je öfter ich das Drehbuch gelesen habe, desto mehr wollte ich eben jenes Grundkonstrukt freilegen: Was, wenn nur die verhandelten Gefühle zwischen den beiden die Handlung darstellen? Ich habe in der Adaption sozusagen eine kritische Intimität mit Bergman aufgenommen.

 

Stephan Kimmig: Durch diese Reduktion auf die Kernsätze entsteht eine unglaubliche Klarheit. Alles wird scharf wie ein Rasiermesser. Man erfährt Bergman als einen strengen, analytischen, sehr tief- und weitblickenden Seelen- und Schmerzforscher.

 

Um Verletzungen geht es viel an diesem Abend.

 

Stephan Kimmig: Ja, aber Verletzlichkeit und Versehrbarkeit von Körpern zu verhandeln kann auch die Einladung sein, bei sich selbst genau hinzuschauen und sich auf eine eigene emotionale Reise zu begeben, um herauszufinden wie man selber Nähe und Distanz und Wärme und Kälte erfahren möchte. Und dann stellt jede:r schnell fest, wie viel Arbeit in Beziehungen steckt, wie viel Arbeit sie verlangen, wenn sie denn gelingen sollen. Doch viele Paare sind nicht bereit, diese zu investieren. Bei dieser Form von Beziehungsarbeit geht es aber darum, Zartheit und Zärtlichkeit zuzulassen und zu entdecken. Das hat etwas mit Hoffnung zu tun. Ich bemühe mich um dich, weil ich hoffe, dass wir es schaffen. Das passiert aber nicht von alleine. Und jede Arbeit erzeugt Spuren. Und für diese Recherche nutzen wir Bergman.

 

Anja Rabes: Eine Beziehung, die man im Leben geführt hat, prägt einen, sie schreibt sich in den Körper ein.

 

Stephan Kimmig: Selbst nach dem Auswechseln bleibt die Person in dir drin, das muss man realisieren und verstehen, und darum geht es hier.

 

Anja Rabes: Und das genau ist es auch, was diesen Dialogen, geschrieben vor 49 Jahren, eine so intensive Allgemeingültigkeit verleiht. Es geht in unserer Adaption nicht um irgendeine Ehe, sondern es geht um Beziehungen im Allgemeinen, egal in welcher Form, zwischen welchen Menschen, man kann den Blick darauf vergrößern.

 

Katja Haß: Durch unsere distanzierende Vergrößerung, dadurch, dass wir weg sind von der einzelnen privaten, persönlichen Geschichte des Paares, stellen wir ja zwangsläufig gesellschaftliche Fragen: Wie funktionieren Beziehungen? Und wo finden wir ihre Muster? Die Sackgassen, die schon seit Jahrhunderten ausgestanzt sind? Das begreift man eben durch die sechs Spieler:innen, die immer wieder ihre Rolle tauschen, ob Geschlecht, Machtstatus oder Emotion.

 

Bahar Meriç: Interessant ist, dass so vermeintlich gleich definierte Emotionen, zum Beispiel diese große Emotion von Sehnsucht, sich so individuell anders für jede Person anfühlen kann. Dass Situationen, Gefühlen und Konflikte sich immer wieder existenziell anders anfühlen können. Diesen Raum öffnen wir in der Spielweise, und das findet auch in den Tänzen statt.

 

Stephan Kimmig: Das ist möglich, weil man nicht einem strengen Narrativ folgen muss, dieses interpretiert oder füllt. Stattdessen sind wir viel freier in der Erforschung der Dinge, denen man folgt oder die man bekämpfen muss oder möchte, oder passieren lassen möchte, und der Frage danach, was sie in einem selber auslösen. Da gibt es schon große Freiräume und einen größeren Bogen.

 

Anja Rabes: Mich hat das auch sehr im Entwurf der Kostüme befreit, also dass sechs Schauspieler:innen dasselbe Paar spielen werden. Als ich die Kostüme entwickelt habe, habe ich zum Beispiel groß ausgestellt, dass jede:r in dem für sich behaupteten Geschlecht gelesen wird. Am Anfang sind es Paradiesvögel, die sehr stylish sind, die eine sehr schöne Oberfläche haben, großes Selbstbewusstsein ausstrahlen, große Theatralik. Ich wollte hier Verwirrung und Wiedersprüche zum Inhalt herstellen, was durch den Beginn der Inszenierung gefördert wird. Denn die ersten Paare kommen scheinbar aus dem Publikum und sind ganz heutig, ganz realistisch. Doch dann erreicht man diese Traumwelt, die unglaublich farbig und exzentrisch ist und das empfinde ich als freudigen Gedanken. Das merkt man den Spieler:innen auch an, dass sie Freude daran haben, diese Figuren nicht mit einem konsequenten Charakter füllen müssen, sondern hin- und herspringen zu können, wie sie es möchten.

 

Katja Haß: Die bunten Kostüme behaupten, im Gegensatz zu den Elementen auf der Bühne, eine Ode an die Individualität und an das Leben. Erst wenn ich die extreme Individualität des anderes wahrnehme, beginnt die Liebe oder Freundschaft. Und die Freundschaft gehört eben auch dazu zu diesen Beziehungen, die wir untersuchen.

 

Katja, von welchen Überlegungen bist du für die Bühne ausgegangen?

 

Katja Haß: Ein Ausgangspunkt war ein Ballsaal in Argentinien, in dem man sich für die Milonga trifft. Ein superdemokratischer Ort, denn das Tanzen und die körperliche Begegnung finden über jeden sozialen Status oder Generationenunterschied hinaus statt. Es ist ein Ort des großen Respekts und der Höflichkeit mit dieser warmen Atmosphäre, oft kaum schmuckvoll, teilweise in Gemeindesälen. Ich wollte das dann noch weiterdenken in Richtung Zukunft. Also: Welche Chance hat die Liebe oder haben Beziehungen überhaupt zu überleben?

 

Auch die Musik schafft Räume.

 

Michael Verhovec: Das ist die Möglichkeit, in ein und demselben Gebäude plötzlich eine andere Atmosphäre oder Zeit herzustellen. Befindet man sich im Jetzt oder in einer nahen Zukunft oder möglichen utopischen Phase, in einer Erinnerungsphase? Das versuche ich mit Klängen zu schaffen, dass das nicht Gesagte und auch das nicht Gesehene entweder ein neuer Raum wird oder den Raum, der gezeigt werden soll, unterstützt.

 

Es gibt aber auch viel Tanzmusik. Wie hast du die Auswahl getroffen?

 

Michael Verhovec: Die meisten Titel sind keine bekannten Hits, obwohl man auch Dirty Dancing einmal hätte runterspielen können. Je unbekannter und diverser die Auswahl, desto größer ist die Möglichkeit, es von flachem Kitsch abzukoppeln. Jede:r nimmt es ein bisschen anders auf. Es wird Zuschauer:innen geben, die einen Moment als komisch-nostalgisch empfinden oder sich fragen, warum an einer Stelle Soul und nicht Tango gespielt wird, aber wir haben eine breite Palette von Vorgestern, Gestern, Heute, und ein ganz bisschen Morgen sogar. Das Morgen besonders durch die Geräuschwelten.

 

Bahar, wie hast du die Texte in Körperlichkeit und Bewegung übersetzt?

 

Bahar Meriç: Den Untertitel Paartänze haben wir sehr wörtlich genommen. Dazu dienten uns auch die Filme von Chantal Akerman als Inspirationsquelle. Von den Paaren als Ausgangspunkt wollten wir das Bild dann öffnen hin zu einem Kollektiv. Das, was zwischen zwei Personen passiert, die sich beispielsweise umarmen, ist individuell sehr unterschiedlich und das, was in den Gruppenszenen passiert, ist ritualhafter und lässt sich gesamtgesellschaftlicher greifen. Wir zoomen aus den Paaren heraus, setzen deren Interaktion in einen größeren Kontext und können darin wieder Individuen erkennen, aber auch eine Gruppe, die versucht, etwas gemeinschaftlich zu verhandeln. Der Dichter Paul Valéry schreibt: „Nichts ist natürlicher, als nicht zueinander zu finden.“ Mich hat interessiert, genau zu untersuchen, wie dieses vermeintliche Naturgesetz der Nichtannäherung zwischen den Körpern funktionieren kann.

 

Stephan Kimmig: Es geht auch um die Suche und den Aufbruch und die Energie, die man für beides braucht. Nicht still stehenzubleiben, sondern weiterzusuchen trotz aller Hindernisse, als kollektive Kraft.

 

Bahar Meriç: Der Schmerz, die Sehnsucht nach Liebe, ausbrechen zu wollen aus einer bestimmten Gefangenheit: Das sind Themen und Worte, mit denen ich die Choreografien und Tänze fülle. In dem rituellen Verhalten der Gruppe gibt es außerdem ein empowerndes Moment durch die gemeinschaftliche Suche. Im Tanz verhandeln wir auch das Bedürfnis nach Sichtbarkeit. In allen Tänzen geht es durch die Verschiebungen und die Kleinheit der Bewegungen um Nähe und Distanz. Gesehen zu werden oder die andere Person nicht zu sehen. Vor allem die Paartänze zeigen, dass in dieser starken Sehnsucht nach Nähe diese eben aber auch manchmal nicht stattfindet. Dadurch stellen sich spannende Räume zwischen den Körpern her, diese feinen Nuancen, die verraten wie wir zusammenkommen oder wie wir versuchen, uns aus Konflikten rauszuwinden.

 

Ich danke euch für das Gespräch.

In sechs Schritten zur persönlichen Empfehlung

Verwenden Sie unseren Abo-Berater