Als Kolumnist des Schauspiel Hannover erhielt ich die Möglichkeit, Haupt- und Generalproben zu besuchen. In dieser Phase, weit gereift und doch noch im Werden, haben die Aufführungen einen besonderen Charme. Eines meiner Highlights war 1000 Serpentinen Angst in der Regie von Miriam Ibrahim. Das Stück basiert auf dem autofiktiven Debütroman von Olivia Wenzel über eine Schwarze ostdeutsche Frau, gespielt von Sabrina Ceesay. Neben Ceesay stehen Minh Duc Pham als Freundin Kim und Nicolas Matthews als verstorbener Bruder auf der Bühne. Körperlich nicht präsent, aber allgegenwärtiger Bezugspunkt in Dialogen ist zudem die Mutter der Geschwister. Die Regisseurin Miriam Ibrahim hat mit dieser Konstellation die zentralen Beziehungen aus der Romanvorlage auf die Bühne gebracht. Die Biografie der Protagonistin ist zudem von der Landschaft geprägt, in der sie aufgewachsen ist: Thüringen zu DDR-Zeiten. Eine wichtige Rolle spielt auch die weiße Großmutter, die nach der Wiedervereinigung überlegt, ihre Stimme rechtspopulistischen Parteien zu geben.
Auf der Bühne reihen sich kaskadenhaft die Ängste und Verletzungen der Erzählerin aneinander, die Sabrina Ceesay mal beiläufig mit ausdrucksloser Miene, mal sich emotional aufgelöst darstellt. In imaginierten Zwiegesprächen entfaltet sich Stück für Stück die Geschichte einer ostdeutschen, queeren, Schwarzen Frau, die den verschlungenen Pfaden ihrer Identität und damit verbundenen Ausschlüssen und Privilegien auf den Grund geht. Das Stück ist trotz unmittelbarer Konfrontation mit der Verletzlichkeit der Figuren keine klassische Opfergeschichte, in die Schauspielende mit Migrationserbe häufig gesteckt werden. Leider kommt auch In 2021 die Mehrheit der Schauspielenden mit Migrationserbe selten über die Rolle als „Migrant:in“ zwischen Exotik, Hilfsbedürftigkeit und Unterdrückung hinaus. Während das Theater immer mehr Freiräume bietet, trifft die stereotype Rollenbesetzung besonders Schauspielende im Film. Zudem haben Schauspielende of Color häufig einen Objektstatus; ihnen wird in der Story eher geholfen oder ihre Rollen unterstützen die Charakterentwicklung von weißen Figuren, sie stehen daneben, sind selten selbst die Held:innen. Besonders problematische affektgeladene Rollen wie „unterdrückte Migrant:in“, „afrikanische Drogendealer:in“, „muslimische Terrorist:in“, „fragile Asiat:in“ sind fest etablierte Karikaturen im Film, die weit entfernt sind von den komplexen Realitäten der deutschen postmigrantischen Gesellschaft. Die türkeistämmige Schauspielerin Nursel Köse sagt in einem Interview mit dem Magazin Brigitte:
„Ich erzähle diese Opfergeschichten nicht gern, aber in der Türkei bin ich mit dem Film (Auf der anderen Seite, Regie: Fatih Akin) wirklich ganz groß rausgekommen, wurde in den Zeitungen als geniale Schauspielerin gelobt und habe verlockende Angebote bekommen, auch international bin ich inzwischen gefragt. Im Vergleich dazu passierte in Deutschland wenig. Kein großes Medieninteresse, keine interessanten neuen Rollen. Ich sollte weiter die arme, unterdrückte Türkin spielen, die Kopftuchfrau, die Putzfrau oder Prostituierte – wie die letzten 20 Jahre. Aber dazu hatte ich einfach keine Lust mehr.“
Wie sehr sich die marginalisierenden und rassistischen Muster z.B. im deutschen Film festgesetzt haben, zeigt ein Blick auf die Rollenausschreibungen von Casting-Agenturen, in denen im O-Ton Rollen gesucht werden wie „arabisch-orientalisch aussehende Männer, welche als Terroristen drehen können“. Solche Rollenausschreibungen sind Phänomen und Ausdruck dessen, was gängige Praxis im deutschen Film geworden ist. Die medial-künstlerische Verknüpfung von Menschen mit Migrationserbe und Hass, Gewalt, Unterdrückung und Drogen verstärkt die ohnehin vorhandenen rassistischen Ressentiments in der Gesellschaft. In den Hauptnachrichtensendungen von ARD, ZDF, RTL und SAT 1 standen in den vergangenen Jahren ein Drittel der Berichte über People of Color in einem Zusammenhang mit Terror, Gewalt und Gefahr. Dieser katastrophale, menschenverachtende Missstand hängt damit zusammen, dass kaum Journalist:innen mit Migrationserbe in den Redaktionen arbeiten, die die Diversität innerhalb des deutschen postmigrantischen Alltags einbringen könnten. Eine Mitgliederbefragung des Deutschen Journalisten Verbandes ergab, dass nur knapp 3 Prozent ein Migrationserbe haben. Eine andere Erhebung auf der Ebene der Lokalredaktionen von 600 Tageszeitungen zeigte, dass lediglich 1,2 Prozent über ein Migrationserbe verfügen. In manchen Redaktionen sind weiße Kolleg:innen unter sich. Diese Ghettobildung in Redaktionen ist höchst problematisch. Es fehlt dann nicht nur die Vielfalt an Perspektiven, sondern die Gefahr steigt, über unsere deutsche postmigrantische Gesellschaft mehrheitlich stereotypisch nach Quoten- und Sensationsgier zu berichten. Aber mal ernsthaft, ist es das, was Zuschauer:innen sehen wollen? Ist die Reduzierung unserer Gesellschaft auf weiße und zumeist heteronormative, able, akademische, bürgerliche Perspektiven nicht hochgradig unterkomplex?
Aber zurück zu 1000 Serpentinen Angst. Miriam Ibrahim arbeitete mit einem Ensemble, das ausschließlich aus Schauspielenden mit Migrationserbe / of Color besteht. Eine Bühne nur mit Schauspielenden of Color ist eine Seltenheit in Staatstheatern. Sowohl die drei Schauspielenden auf der Bühne als auch die Regisseurin haben Rassismus erlebt, nicht einmal, nicht bloß punktuell, immer wieder. Deshalb wollte sie einen Safer Space schaffen, in der die Schauspielenden sich frei fühlen und eintauchen können in die Rassismuserfahrungen der Figuren, von denen sie im realen Leben auch selbst betroffen sind.
Auf der Bühne bewegen sich die Figuren in Zwischen- und Binnenräumen der Identifikation, sind sexuell und geschlechtlich fluid, lassen sich kulturell nicht abstempeln. In ihrer Hybridität und Transkulturalität bilden sie die Normalität unserer deutschen postmigrantischen Gesellschaft ab. Gerade im Theater lässt sich in Zwischen- und Binnenräumen die Geschichte der Migrationsgesellschaft radikal neu erzählen, entwirrt von Fremdzuschreibungen Dritter. Laut dem Theaterregisseur und Dramaturgen Necati Öziri lässt sich eine Gesellschaft nie besser verstehen als durch den Blick der Marginalisierten. Entscheidend dabei ist das Anerkennen und Wertschätzen von unterschiedlichen Interessen. Im Stand unserer gesellschaftlichen Entwicklung in 2022 haben wir genug Platz für Differenz, ohne diese Differenz in überkommene kulturelle Hierarchien einzubetten.
Nach der Aufführung beschloss ich, trotz des nassgrauen Wetters, mein Fahrrad zu schieben und fühlte dem Stück nach. Trotz fiktiver Elemente hat Miriam Ibrahim die Realität von vielen Menschen mit Migrationserbe im Deutschland von 2022 auf die Bühne geholt. Als ich zu meiner Studienzeit das Theater für mich entdeckte, gab es diese Geschichten auf Staatstheaterbühnen nicht. Kein Platz für postmigrantische Biografien, für Muslim:innen, für queere Menschen. Selbst im Film, in dem Repräsentation und Zugehörigkeit zur deutschen postmigrantischen Gesellschaft ständig reproduziert wurde, habe ich mich lange Zeit nicht wiedergefunden. Was sagt diese strukturelle Unterrepräsentation aus und was macht es mit insbesondere jungen Menschen, die sich und ihre Geschichten nicht oder nur eindimensional auf der Bühne wiederfinden?
Das Aufbrechen von weißen, männlichen, heteronormativen Strukturen und Seilschaften ist ein langer Prozess, der viel Kraft, Entschlossenheit und Mut zu Positionierung benötigt. Gerade in Zeiten, in denen vielerorts Theater Leuchttürme der Demokratie sind und sie unter Beschuss von rechtspopulistischen Akteur:innen stehen. In den letzten Jahren hat sich auch im Schauspiel Hannover als lernende Institution einiges in Bewegung gesetzt. Nicht ohne Widerstände. Um ein universelleres Verständnis von Kunst zu schaffen, müssen wir den Gegenwind solidarisch aushalten.
von Kadir Özdemir