Murat Dikenci kuratiert die Universen am Schauspiel Hannover. Er möchte einen Ort der radikalen Vielfalt schaffen, auch was die Feiertage aller Kulturen angeht. Eine Polemik.

 

Es ist wieder die Zeit, in der jemandem, der nicht in einem „doyçen“ Haushalt  aufgewachsen ist, die Weihnachtszeit mit voller Wucht entgegenschlägt. Ein  phallusartiger Tannenbaum vor der Marktkirche, man kommt nicht mehr zum Ballhof, ohne durch Glühweingeruch high zu werden – überall wird entwurzelt und man fragt sich, wie wir der nächsten Generation erklären sollen, dass wir Bäume fällen, neu aufstellen und schmücken, um damit der Geburt eines Babys zu gedenken, die über Tausende Jahre zurückliegt.

 

Überall werden XXL-Leuchten installiert, die Stromrechnung ist uns außer an „Fridays“ egal, doch es ist der Monat, in dem wir uns selbst am meisten blenden. Schon seit Jahren höre ich nur das Gejammer der Menschen „ich muss noch Geschenke besorgen, ich muss zu meinen Eltern fahren, ich muss noch dies, ich muss noch das“ – oft wird mir gesagt, dass die Leute Weihnachten feiern, ohne einen Glauben zu haben – doch sie stressen sich um so mehr, um ein perfektes Fest zu inszenieren.

 

Seit 34 Jahren versuche ich, Weihnachten zu verstehen, habe mit dem Knabenchor Hannover das Weihnachtsoratorium gesungen, am Theater in mehreren Weihnachtsmärchen mitgewirkt – doch vielleicht verstehe ich es umso besser, wenn ich auf andere Religionen und kulturelle Feste schaue. Was weiß ich von Chanukkah? Wie oft feiern die Moslems Bayram? Was machen die Inder an Dawali? Warum feiern die Kurden, Perser und Afghanen Nouruz? Sollte ich mehr Verständnis für Weihnachten entwickeln, da es das Fest der Liebe ist? Warum tue ich mich damit so schwer?

 

Vielleicht weil an den Weihnachtsfeiertagen von RTLII bis Sat 1 immer dasselbe Fernsehprogramm läuft und Helene Fischer keine Alternative für mich ist, all meine Freunde keine Zeit für mich hatten als Kind und es sowieso viel zu kalt ist, um rauszugehen? Oder weil ich es satthabe, dass mir Menschen ‚Frohe Weihnachten‘ wünschen, da sie es internalisiert haben, daran zu glauben, dass wir in „Doyçland“ leben und damit jeder Weihnachten feiert? Manche Leserin und mancher Leser wird sich nun fragen, ob ich hiermit Weihnachten abschaffen will? Ob nach dem weißen Mann nun auch der Weihnachtsmann dran ist? Nein, keine Angst – den Mann aus Antalya haben wir alle lieb: Ich versuche nur, mit einer übertriebenen Polemik darauf aufmerksam zu machen, dass sich in diesem Monat nicht alles um Weihnachten dreht, sondern auch die Juden Chanukkah feiern und die Jesiden das Êzîdfest. Wir dürfen nicht vergessen, dass es auch Menschen in unserem Umfeld gibt, die zwar solidarisch mit euch schrottwichteln, aber auch vielleicht froh sind, wenn wir ihnen nowrooz mobarak oder bayraminiz kutlu olsun ausrichten oder uns bis zum 7. Januar gedulden, um С РОЖДЕСТВОМ zu wünschen!

 

Wir wollen bei den Universen mehrere Feste feiern, von Chanukkah, über Nouruz bis hin zu Ramadan und freuen uns genauso auf Aschenputtel wie auch auf Latkes und Sufganiyot mit der Liberalen Jüdischen Gemeinde – was in jedem Fall alle Kulturen vereint, sind die Lichter, die uns erleuchten. Und da sehe ich tatsächlich Licht am Ende des Tunnels, denn vielleicht ist genau das Theater der Ort der radikalen Vielfalt, um den Verfechter der jüdisch-muslimischen Leitkulturdebatte Max Czollek zu zitieren, der Ort, um mit Menschen zusammenzukommen, denen wir sonst in unserem Alltag nicht begegnen und der Ort, wo wir eines Tages vielleicht Weihnukka und Ostermadan feiern werden.

 

Murat Dikenci

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