Zum Ende der Intendanz schaut Intendantin Sonja Anders auf sechs vergangene Spielzeiten und die kommenden Abschiedswochen am Schauspiel Hannover. Ein Gespräch über das Weiterziehen. 

 

Vor sechs Jahren hat dein Team angefangen, in Hannover Theater zu machen. Was war euer Versuch?

Wir sind in Hannover ganz bewusst  mit Inszenierungen gestartet, die auf das Publikum zugehen. Wir wollten über „Freude“ nachdenken, diesen bewegenden und unterschätzen Affekt. In der Eröffnungsproduktion Platonowa nach Tschechow haben wir versucht, freudvolles Erleben zu verbinden mit unerwarteten Rollen- und Gesellschaftsbildern. Diese neue Form hat Hannover zuerst einmal überrascht. Konflikt auf der Bühne ist elementar, aber wir wollten immer auch Auswege zeigen und Figuren, die diese gehen. Wir wollten verschiedene Perspektiven anbieten, durchspielen und das Publikum einladen zu für uns wichtigen Debatten um Queer-Feminismus oder Antirassismus. Immer in der Hoffnung, in Momenten des utopischen Gelingens etwas zu finden, das nachvollziehbar und für die Gegenwart anwendbar ist. 

 

Platonowa
Foto: Katrin Ribbe

 

Nach der ersten Spielzeit kam schnell die Pandemie. Was hat sich verändert?

Die ersten realen Kontakte mit dem Publikum sind durch die Pandemie direkt wieder abgebrochen. Manche Menschen sind seitdem nicht zurückgekehrt – zum Beispiel viele ältere Zuschauende. Das ist auffällig und traurig, denn Altersdiversität ist genauso wichtig wie jede andere Form von Vielfalt. Vielleicht hat sich da gesellschaftlich etwas verschoben, dass ganz alte Menschen sich weniger im öffentlichen Raum bewegen. Ich hoffe sehr, dass es sich wieder zurückdreht. 

 

Gab es denn einen Moment, in dem du gemerkt hast: Ja, mit diesem eher überraschenden Programm sind wir auf dem richtigen Weg?

Nach Corona hatten wir eine große Koproduktion mit Guy Weizman aus den Niederlanden: Yaras Hochzeit. Ein im besten Sinne niedrigschwelliger Abend mit einer ungewöhnlichen Ästhetik, der für mich vorerst kein Publikumsgarant war. Doch das Publikum in Hannover hat ihn geliebt, quer durch alle Communities und Altersgruppen, weil er so umarmend war. Da wurde wirklich ein Fest gefeiert, des Diskurses, des Theaters, aber auch der Musik, ob in arabischer Sprache oder mit musicalhaften Elementen. Oder Die Wut, die bleibt, dieser feministische Roman von Mareike Fallwickl, den wir bis heute vor ausverkauftem Haus spielen. Manchmal hat man das Glück, ganz unerwartet mit einem Stoff einen Nerv zu treffen. Und man merkt: Es öffnen sich Türen, die vorher verschlossen schienen. 

 

Yaras Hochzeit
Foto: Katrin Ribbe

 

Die letzte Inszenierung der Intendanz ist das Ensemblestück Sex. Was macht es so besonders?

Sex ist nicht nur ein Abend von drei Regieführenden mit unserem gesamten Ensemble, sondern ein gemeinsamer konzeptueller Versuch. Die drei Texte sind in einem Zirkusraum vereint, sie teilen sich die Manege, in der man in Nummerndramaturgie und Fantasie schwelgen kann und trotzdem einem roten Faden folgt. Die Inszenierung ist ausgestattet mit Leichtigkeit, Witz, aber auch Einblicken in alltägliche oder theoretische Momente unseres Miteinanders – besonders dem der Geschlechter. Es gibt ironische Brüche, aber auch ernsthafte Momente, in denen man denkt: „Oh, darüber könnte man jetzt einen ganzen Abend eine interessante Diskussion führen.“ Ob man diesem Impuls nachgibt oder sich mitreißen lässt in die nächste Musik, bleibt dem Publikum überlassen. 

 

Neben Sex ist in den letzten zwei Wochen jeden Abend ein anderes Stück zu sehen. Was passiert zum Finale am Schauspiel Hannover?

Man kann noch einmal die Vielfalt all unserer Inszenierungen erleben: Wir zeigen zum Beispiel Ein Mann seiner Klasse, eine unserer ältesten Inszenierungen, aber auch neue Dramatik wie Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert oder musikalische Abende wie Archiv der Sehnsüchte. Und natürlich sind Lieblingsabende wie Blutbuch dabei, ein Stück mit einer richtigen Fangemeinde. Dieser Reichtum an Formaten und Erzählweisen macht mich stolz, und ich bin wehmütig und aufgeregt zugleich, jeden Abend ein anderes Stück zu verabschieden und zu feiern. Denn das wollen wir unbedingt! Über die Jahre haben wir ein starkes Stammpublikum gewonnen, das sich in Kontinuität und Erneuerung die Waage hält. Deshalb freue ich mich sehr, wenn wir uns nach den letzten Vorstellungen noch einmal im Kulturhof bei einem Getränk begegnen und vielleicht auch die Traurigkeit des Abschieds ein wenig zulassen.

 

Sex
Foto: Kerstin Schomburg

 

Wie nimmst du Abschied?

Wir bringen ein schönes Abschiedsbuch heraus, mit sehr verschiedenen Beiträgen – sperrig, ganz zart, analytisch. Ich wollte mich vor allem bedanken. Beim Publikum, bei Freund:innen, Förder:innen und natürlich beim ganzen Haus: bei all den Menschen, aus deren Expertise, ihrer Liebe und ihrem Engagement diese flüchtige Kunst Theater entsteht. Das Schöne ist, dass Theater Arbeit im Augenblick ist. Und diese Arbeit hier war wirklich gut. Gleichzeitig bleiben für mich viele Erinnerungen an sechs Jahre, die auch eine politische Haltung gefordert haben: die montäglichen Mahnwachen für Demokratie am Kröpcke, die großen Demonstrationen vor dem Landtag und viele Momente in unserem Programm, in denen wir Haltung bezogen, darunter inspirierende Gespräche bei Wir müssen reden oder den Veranstaltungen der Universen. Wenn ich von Freude spreche, meine ich nicht Wegschauen, sondern ein kraftvolles gemeinsames Auseinandersetzen, im Miteinander. Darin kann eine ganz große Freude liegen, die über den Abschied hinweg andauert und in Zukunft wohl umso wichtiger werden wird.

 

Was gibst du dem Publikum mit?

Theater hat durch den Rhythmus des Weiterziehens auch einen Wiedergeburts-Charakter. Ich würde sagen, seien Sie neugierig auf das, was kommt. Es wird auf seine eigene Art und Weise toll werden. 

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