Redebeitrag von Viktorie Knotková für die Veranstaltung der Staatsoper Hannover und der Villa Seligmann Im Schritt mit der Zeit am 17. Oktober 2021
1.
Sie kommen also ins Theater, um sich ein Stück Realität anzusehen.
Der Realität ins Auge zu sehen,
um hinzusehen,
statt wegzusehen oder darüber hinweg zu sehen.
Sie kommen,
um darüber hinauszusehen,
um klar zu sehen.
Oder anders zu sehen.
Mit einem anderen Blick zu sehen,
als Sie es immer tun.
Was sehen Sie denn,
wenn Sie einer Realität ins Auge sehen,
die sich nicht mehr sehen lassen kann?
Sehen Sie rot?
Sehen Sie schwarz?
Was sehen Sie denn,
wenn Sie es haben kommen sehen?
Wenn Sie es schon längst gesehen haben?
Was sehen Sie dann?
Sehen Sie rot?
Sehen sie klar?
Ein Licht vielleicht?
Oder doch keinen Ausweg?
Oder kommen Sie, um sich eine Übersicht zu verschaffen?
In allerbester Absicht.
Oder kommen Sie der Einsicht willen?
Eine Einsicht, so real wie elektromagnetische Strahlung.
Oder haben Sie es auf eine Bestärkung Ihrer Ansichten abgesehen?
Um jenseits jedweder Realität Einsichten zu gewinnen,
die Sie doch nur in Ihrer Ansicht bestärken?
Weil Vorsicht besser ist als Nachsicht.
Die Mutter der Porzellankiste.
Weil Sie es haben kommen sehen.
Lieber heute als morgen.
Und weil Blut dicker ist als Wasser.1
2.
Hier ist ein Mensch.
Hier ist ein Mensch.
Hier ist ein jüdischer Mensch.
Wir werden sehen, wie ein jüdischer Mensch funktioniert.
Wir werden sehen, wie ein jüdischer Mensch funktioniert.
Wie funktioniert eine solche Nummer?
Was für ein Ding ist es?
Wir werden es uns anschauen.
Wir werden es untersuchen.
Jetzt werden wir sehen, wie ein jüdischer Mensch aussieht und was er kann.
So sieht ein Ohr aus.
Und hier sind zwei Beine.
Und hier ein Fuß.
Und ein anderes Ohr.
Hier ist ein Auge.
Schauen Sie sich das menschliche Auge an.
Und dann den Mund.
Und noch einmal den Mund.
Und jetzt die Nase.
So sieht eine jüdische Nase aus.
Schauen Sie, der jüdische Mensch bewegt sich im Raum.
Der jüdische Mensch kann sich im Raum bewegen.
Der Raum ist grenzenlos und lichtdurchflutet.
Ein leerer Raum.
Ohne Grenzen.
Hier gibt es: nichts.
Gehen, laufen, springen, fallen.
Schauen Sie, nun fällt er.
Wie fällt er?
So fällt er.
Wer ist er?
Was kann er?
Was will er?
Warum bewegt er sich so?
Wie bewegt er sich so?
Schauen Sie sich ihn an.
Schauen Sie sich ihn an, jetzt.
Und jetzt.
Schauen Sie sich ihn an, die ganze Zeit.
Jetzt ist die Musik verstummt.
Keine Musik mehr.
Wie ist es einen jüdischen Menschen zu berühren?
Wie ist die Haut?
Ist sie glatt?
Ist sie warm?
Ist sie weich?
Ist sie trocken?
Ist sie gut gepflegt?
Wie ist die Haut an den Beinen?
An den Armen?
Am Hals?
Jetzt zieht sich der jüdische Mensch aus.
Klamotten werden abgelegt.
Biografische Geständnisse auch.
Fragen werden beantwortet.
Kennen Sie diese hier?
Hast du schon einmal Antisemitismus erlebt?
Fühlst du dich wohl in Deutschland?
Hast du Familie in Israel?
Wann gehst du zurück?
Was hältst du vom Holocaustmahnmal?
Findest du nicht, dass es langsam reicht mit der deutschen Schuld? 2
Jetzt hat der jüdische Mensch etwas von sich preisgegeben.
Schauen Sie sich ihn jetzt an.
Schauen Sie sich ihn an, die ganze Zeit.
Der jüdische Mensch ist ganz nackt.
Er hat Fragen beantwortet, bereitwillig Auskunft gegeben.
Er hat schön mitgespielt.
Sehen Sie?
Was sehen Sie?
Der jüdische Mensch in einem leeren Raum ohne Grenzen.
Und eine Stimme, die ein paar Worte sagt.
Diese Stimme, die ein paar Worte sagt.
3.
Neulich habe ich etwas erlebt, was ich hoffentlich in ein paar Tagen verstehen werde.
Auf dem Bahnhof in Karlsruhe habe ich überlebensgroße Porträts alter Menschen gesehen.
Ich fand sie sehr schön.
Ich mag alte Menschen.
Ich sehe sie gerne an.
Auf den Tafeln neben ihnen stand, was sie überlebt haben.
Nur das.
Sie haben überlebt.
Kein Leben, nur Überleben.
Bei einer Frau stand geschrieben, sie möchte in Ruhe gelassen werden.
Sie und ihr Wunsch waren groß ausgestellt in einer Bahnhofshalle.
An einem deutschen Bahnhof. Im Rahmen einer Ausstellung der Deutschen Bahn.3
Ich konnte nicht aufhören die Frau anzusehen. Ich wünschte ihr einen anderen Blick.
Menschen eilten an uns vorbei, es gab keinen Ansprechpartner.
Nur mich und das Leid der ausgestellten jüdischen Menschen, mein Leid und einen Würstchenstand.
Neulich habe ich etwas erlebt, was ich hoffentlich in ein paar Tagen vergessen werde.
Der Keks „Lieblingsgast. DB“ wird gezeigt.
4.
Hier ist ein Objekt.
Hier ist ein kleines Objekt.
Hier ist ein kleines verstörendes Objekt im Raum.
Der Raum ist nicht mehr leer.
Jetzt hält der Mensch das verstörende Objekt in der Hand.
Was ist es?
Welche Geräusche kann es erzeugen?
Was steht darauf geschrieben?
Der Mensch liest, was darauf geschrieben steht:
„Lieblingsgast. Deutsche Bahn“
Es ist ein Geschenk.
Was denkt der jüdische Mensch?
Was denkt er?
Was denkt sie?
Schauen Sie, jetzt isst der jüdische Mensch den Keks.
Hören Sie die Geräusche der kauenden Frau.
Hören Sie die Geräusche des lebendigen Menschen.
Dieser Mensch ist ein Lebender.
Dieser Mensch ist kein Überlebender.
Merken Sie den Unterschied?
Merken Sie sich den Unterschied.
Jetzt wird der jüdische Mensch nicht mehr angeschaut.
Jetzt hat er es satt.
Jetzt schaut er zurück.
Er schaut Sie ganz genau an.
Was sieht er?
Wen sieht er?
Mit welchem Blick sieht er Sie an?
5.
Jetzt liest seine Stimme ein Textfragment vor:
Wer ist heute Jude in Deutschland?
Wer eine jüdische Mutter hat?
Wer eine jüdische Biografie vorweisen kann?
Wer gute Witze erzählt?
Wer Verwandte in Israel hat?
Wer statt Ostereiern eine Woche lang staubtrockenes Brot isst?
Wer die Romane Philip Roths kennt, alle Staffeln Seinfeld geguckt hat und sich ein Poster des jüdischen Rappers Drake ins Zimmer hängt?
Ist man Jude, weil man neurotisch ist?
Oder ist man neurotisch, weil man Jude ist?
Ist man Jude, weil die eigene Familie in Auschwitz war?
Ist man Jude, weil man Nazis die Köpfe einschlagen will?
Ist man Jude, weil man darüber nachdenkt, was es bedeutet, Jude zu sein?
Wer heute Jude in Deutschland ist, das entscheiden die Juden und Jüdinnen nicht allein. Es geht nicht um ihre eigene kulturelle und intellektuelle Positionierung, nicht um ihren persönlichen Bezug zu Religion, Ethnie oder Geschichte.
Vielmehr sind „die Juden“ von heute Figuren auf der Bühne des deutschen Gedächtnistheaters – ein Begriff, den der in Berlin lebende Soziologe Michal Bodemann 1996 mit seinem gleichnamigen Buch eingeführt hat.
Bodeman bezeichnet damit die eingespielte Interaktion zwischen deutscher Gesellschaft und jüdischer Minderheit. Die Judenrolle folgt dabei einem Skript, das den Titel „Die guten Deutschen“ trägt. Denn das ist seit Jahrzehnten die Funktion der Juden in der Öffentlichkeit: die Wiedergutwerdung der Deutschen zu bestätigen.
2016 betrug die Zahl der in jüdischen Gemeinden eingetragenen Mitglieder knapp 100 000. Ich würde noch einmal dieselbe Menge außerhalb der Gemeinden draufschlagen und komme auf 200 000 derzeit in Deutschland lebenden Juden und Jüdinnen. Bei 82,5 Millionen Einwohner:innen sind das 0,24 Prozent der Bevölkerung. Diese Menschen wurden teilweise in Deutschland geboren, kommen aber auch aus Russland oder Osteuropa, Israel, dem Jemen, Äthiopien, dem Irak, Frankreich oder den USA. Auch viele meiner jüdischen Freund:innen sind in den letzten Jahren aus der ganzen Welt nach Deutschland gezogen. Einige von ihnen haben keine familiäre Verbindung zur Shoah. Gott sei Dank. Stattdessen bringen sie Geschichten mit, die den Erwartungen der jüdischen und nichtjüdischen Öffentlichkeit nicht entsprechen. Die damit einhergehende Vielfalt jüdischer Geschichten kann die anhaltend hohe Nachfrage nach bestimmten Judenfiguren kaum decken. Uns allen sind für diese Vielfalt noch keine Ohren gewachsen.4
6.
Und jetzt liest meine Stimme eine Liste politischer Forderungen vor:
Für eine Judenquote im Vorstand der Deutschen Bank
Für die Rückgabe aller in deutschen Haushalten verbliebenen Silberlöffel
Für die unbedingte Definitionsmacht
Für die unbedingte Definitionsmacht
Für eine Ewigkeitsklausel im Grundgesetz: Es wird nie wieder alles gut
Für reservierte Plätze in den Zügen der Deutschen Bahn
Für die Verdrängung deutscher Nationalgefühle
Für eine Kommission zur Erforschung der Familiengeschichten ‚normaler Deutscher‘
Für eine formelle Einladung an alle Exilierten. Bitte kommt zurück!5
7.
Sie sind also ins Theater gekommen,
um der jüdischen Realität ins Auge zu sehen,
um hinzusehen,
statt wegzusehen oder darüber hinweg zu sehen.
Sie sind gekommen,
um den jüdischen Menschen klar zu sehen.
Oder anders zu sehen.
Mit einem anderen Blick zu sehen,
als Sie es immer tun.
Sie haben ein Ohr gesehen, eine Nase, zwei Beine.
Sie haben einen Menschen gesehen, der kein Ausstellungsobjekt ist.
Sie haben einen jüdischen Menschen gesehen, der einen Keks isst.
Wen sehen Sie denn, wenn Sie sich jetzt umsehen?
Sehen Sie Ihre Mitmenschen an, bitte.
Mit einem liebevollen Blick.
Halten Sie den Kontakt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
mit Texten von Gila Lustiger, Jørgen Leth6 und Max Czollek
1 Aus: Gila Lustiger: "Vogelschiss" (unveröffentlichtes Manuskript)
2 Max Czollek: Desintegriert euch! (Carl Hanser Verlag, 2018)
4 Max Czollek: Desintegriert euch! (Carl Hanser Verlag, 2018). © 2018 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München
5 Max Czollek: Desintegriert euch! Ein Manifest (Jalta - Positionen zur jüdischen Gegenwart, Desintegration, 2017)
6 Jørgen Leth: Det perfekte menneske, 1967