„Nur vor mir selbst kann ich nicht fliehen!“
Zur Premiere im Herbst 2021 war das Thema Krieg ein eher fernes. Heute ist die Inszenierung von Immo Karaman über einen kriegstraumatisierten Soldaten, der nicht ins normale, familiäre Leben zurückfindet, um ein vielfaches aktueller und näher gerückt. Täglich hören wir von Menschen, deren Existenz vor kurzem eine zivile war, die jetzt von Kampf, Zerstörung und Tod bestimmt ist. Was bewirken Kriegserlebnisse, selbst wenn sie überstanden sind, in Seele und Gefühl eines Menschen, und was bedeutet das für sein Umfeld? Shakespeares Drama und Verdis Oper haben eine neue, von unserer Zeit geprägte Handlungsebene hinzugewonnen.
Der Krieg hinterlässt nicht nur tote Feinde, er traumatisiert auch den Sieger. Otellos Kriegserinnerungen lassen ihn nicht los. Das Vertrauen in andere Menschen, Voraussetzung für ein ziviles Zusammenleben, kehrt nicht zurück. Die Liebe seiner Frau Desdemona kann nicht verhindern, dass Otellos Soldatenperspektive auch in der Ehe zum persönlichen Selbstverteidigungswahn wird. Was ihm im Beruf Orden und Würdigung einbringt, macht ihn im zivilen Leben zum Mörder seiner Frau.
Otellos Tragik ist, Täter und Opfer gleichermaßen zu sein. Die Gesellschaft, deren Wohlstand er als Soldat sicherte, sieht teils gleichgültig, teils verurteilend seinem zerstörerischen Verhalten im Privaten zu – sie lässt den Menschen Otello zugrunde gehen. Giuseppe Verdis Oper formuliert den Vorwurf der Doppelmoral schonungslos.
Heftig tobt die Seeschlacht im Orchester, und glorios wird der Sieger in Heldenpose vom Chor begrüßt. Doch musikalisch beeindruckend sind vor allem die verzweifelten Szenen des um Trost und Liebe bittenden Privatmenschen. Die Musik der Liebesszene des Paares und Desdemonas letztes Gebet sind von atemberaubender Zartheit. Ein Musikdrama von ungeheuerlicher Ausdruckskraft, vom eröffnenden musikalischen Blitzschlag bis zum finalen Todeskuss.
William Shakespeare zog die Brisanz seines
Othello, the Moor of Venice besonders aus der schwarzen Hautfarbe der Titelfigur. Doch sowohl das Drama wie auch Verdis Oper zielen auf Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft, die sich nicht auf die Metaphorik äußerer Erscheinungsbilder beschränken lassen. Unsere Inszenierung klammert Klischees der Aufführungsgeschichte aus, um menschliche Tragik und gesellschaftliche Ursachen klarer und universeller zu zeigen.
Der baskische Tenor Andeka Gorrotxategi wird mit dieser stimmlich und darstellerisch gleichermaßen reichen wie schweren Rolle sein Debüt in Hannover geben. Als Desdemona alternieren wie zur Premierenserie Barno Ismatullaeva und Kiandra Howarth.